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Kapitel 3

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Am Abend treffe ich meine Eltern und meine Brüder Leo und Matteo zum Abendessen auf unserer Terrasse im Garten. Es gibt – passend zur Sommersaison – einen Barbecue-Snack - leider nicht vom Grill, sondern – wie immer – aus der Tüte. Es ist eine zähe weiche Maße, die von der Konsistenz her an Fleisch erinnern soll und die einen rauchig-fleischigen Geschmack vermittelt. Den Snack muss man noch nicht einmal aufwärmen, berührt er die Zunge und kommt er mit Speichel in Berührung, entsteht automatisch ein Wärmegefühl.

»Hey, wie war die Einschulung?«, frage ich Leo.

»Och, ganz okay«, murmelt er wenig begeistert.

»Es war eben wie eine kleine TV-Show – alles wirkte irgendwie einstudiert und abgespult, wie aus einer Konserve«, ergänzt meine Mutter.

»Kanntest du schon Kinder aus der Kita?«, frage ich Leo. »Ja, Carlo und Tom aus meiner Kita-Gruppe sind in meiner Klasse, die anderen kenne ich noch nicht«, entgegnet er. »Prima, dass du schon jemanden kennst – ich wünsche dir jedenfalls einen guten Start!«, sage ich.

»Danke«, antwortet Leo.

»Und Matteo, was machen die Bits und Bytes?“, frage ich, mich meinem älteren Bruder Matteo zuwendend.

»Ach, das willst du wahrscheinlich lieber gar nicht wissen!«, antwortet er.

Matteo hängt – auch außerhalb seiner Studienzeiten – fast nur vor dem Rechner. Er ist ein richtiger „Computer-Nerd“, spielt und programmiert gerne Computer-Spiele, aber was er am Rechner sonst noch so treibt, wissen wir nicht. Wenn wir ihn danach fragen, antwortet er eigentlich immer nur:

»Das wollt ihr bestimmt gar nicht so genau wissen!«

Praktisch war allerdings, dass er einmal nach Ablauf einer Abgabefrist für eine meiner Studienarbeiten, diese trotzdem noch für mich innerhalb der Frist „platzieren“ konnte…

Seitdem habe ich zumindest eine vage Vorstellung von dem, was er da möglicherweise noch so alles an seinem Computer anstellt. Matteo hilft mir auch regelmäßig, meinen „Social Score“ zu „optimieren“. Alles, was wir im Ultranet und in Sozialen Netzwerken und Chats so treiben, wird erfasst und nach bestimmten Algorithmen ausgewertet. Man muss dieser Erfassung und Auswertung vor einer Nutzung dieser Medien zustimmen, andernfalls kann man sie nicht verwenden. Letztlich hat jeder dadurch einen „digitalen Fußabdruck“, der sich im sogenannten „Social Score“ niederschlägt. Sucht zum Beispiel jemand online nach Darlehenskonditionen, deutet das vielleicht darauf hin, dass er finanzielle Probleme haben könnte, recherchiert er zu schweren Erkrankungen, könnte er möglicherweise an solch einer Krankheit leiden. Tummelt er sich auf Ultranet-Seiten extremer politischer Gruppierungen oder solchen, die eine gewisse Nähe zu entsprechenden Richtungen aufweisen, kann sich das ebenfalls negativ auf seine „Social Credits“ auswirken. Das Aufrufen solcher Seiten alleine, führt zwar noch nicht zu einer Score-Verschlechterung, diese ergibt sich regelmäßig erst im Zusammenhang mit entsprechenden Algorithmen, denen unter anderem Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen zugrunde liegen. Engagiert sich demgegenüber jemand für die Gesellschaft, die Umwelt oder bewegt er sich eher auf linientreuen Seiten „staatsfreundlicher“ Gruppierungen, kann dies seinen Score verbessern. Ist der „Social Score“ niedrig, wird es für die betreffende Person unter Umständen schwierig, bestimmte Geschäfte zu tätigen - etwa ein Darlehen zu erhalten oder eine bestimmte Versicherung abzuschließen. Auch für die Frage, ob jemandem eine Erlaubnis zum Reisen, zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder eine Erleichterung bei Kontaktbeschränkungen gewährt wird, greifen staatliche Einrichtungen unter anderem auf den „Social Score“ des Antragstellers zurück. Nach Darstellung der Regierung sollen „in erster Linie“ erfasste Informationen zu Online-Aktivitäten in den Score einfließen. Ob und in welchem Umfang dazu auch die Kommunikation in Sozialen Netzwerken oder über Messenger gehört und welche Daten darüber hinaus noch für den Score relevant sind – Bild- oder Tonmitschnitte wie beispielsweise vermutet, beziehungsweise befürchtet wird - bleibt bislang völlig im Dunkeln. Mein Bruder Matteo hat seinerzeit eine Programmroutine entwickelt, mit der ein vielfacher Besuch von für den „Social Score“ günstigen Seiten simuliert wird. Auf diese Weise konnte er schon mehrfach meinen Score „aufpolieren“. Er hat auch einmal angedeutet, dass es ihm schon gelungen sei, Ultranet-Seiten aufzurufen, ohne dass der Besuch der Seite zu seiner Person zurückzuverfolgen gewesen wäre, so dass dieser auch nicht in seinen „Social Score“ mit einfließen konnte. Ich bin froh, dass mein Bruder sich in solchen Dingen auskennt, denn für mich ist und bleibt diese Materie „ein Buch mit sieben Siegeln“.

Matteo verschwindet kurz nach dem gemeinsamen Abendessen – wie eigentlich fast immer – schnell wieder „in seine Höhle“ – wie wir immer sagen. Leo und ich tummeln uns noch eine Zeitlang in den Liegestühlen auf der Terrasse. Mit einem Ohr versuche ich immer zu horchen, ob sich im Garten der Schmidts etwas regt. Über den Gartenzaun kann man von der Terrasse aus zwar nicht schauen – er ist mit fast zwei Metern dafür zu hoch. Aber sollte ich akustisch etwas wahrnehmen, würde ich sofort zu einem kleinen Sprint auf meinen Balkon ansetzen. Als ich irgendwann beginne auf der Gartenliege leicht einzunicken, entschließe ich mich, mich in mein Zimmer zurückzuziehen.

»Habt eine gute Nacht!«, wünsche ich meinen Eltern und meinem Bruder, bevor ich ins Haus zurückgehe.

In meinem Zimmer angekommen, bin ich auf einmal allerdings wieder hellwach. Schlaflos wälze ich mich in meinem Bett hin und her und grüble über das heute Mittag Erlebte.

»Wer ist dieses Mädchen? Werde ich sie wiedersehen? War sie vielleicht nur zu Besuch und ist nun für immer entschwunden? Wie kann ich Kontakt zu ihr aufnehmen? War ich ihr sympathisch oder war es nur ein reines Höflichkeitslächeln, das sie mir schenkte?«, frage ich mich.

Als etwa die Hälfte der schlaflosen Nacht vergangen ist, stehe ich auf und recherchiere im Ultranet bei „Buddybook“, wer so im Teenager-Alter in meiner Nachbarschaft wohnt – ohne Erfolg. Ich kann die schöne Unbekannte nicht finden.

Als mich am nächsten Morgen um sieben die Computerstimme weckt, bin ich „tot“. Im Halbschlaf schlürfe ich ins Badezimmer und begebe mich in die HDZ, wo mir das System dann „amtlich“ bestätigt, dass ich in einen schlechten Allgemeinzustand aufweise und offenbar übermüdet bin.

»Diesem System bleibt auch nichts verborgen«, raune ich.

Dem Online-Kurs kann ich heute kaum folgen. Ich beschließe, mich „auszuklinken“. Vor einiger Zeit habe ich herausgefunden, dass ich das Anwesenheitskontrollsystem überlisten kann, indem ich ein Video, das mich zeigt wie ich vor dem Rechner sitze, auf einem alten Tablet-Computer laufen lasse und diesen so platziere, dass der Eindruck entsteht, ich säße tatsächlich vor dem Rechner. Der Trick ist zwar an der Hochschule nicht unbekannt und der Einsatz von zusätzlichen Sensoren ist geplant, um solche Täuschungen zu unterbinden, die Änderungen sind aber zum Glück noch nicht umgesetzt. Ich trete raus auf den Balkon, lasse mich in einen Lounge-Gartensessel fallen und blicke sehnsüchtig in die Ferne. Und tatsächlich… nach etwa einer Stunde regt sich etwas im Garten der Schmidts. Die schöne Unbekannte tritt - mit einem bauchfreien Tanktop, Leggings und Laufschuhen bekleidet - aus dem Haus auf die Terrasse. Sie schiebt ein portables Laufband, das vorne an der Unterseite Rollen hat, vor sich her, platziert es auf der Terrasse, schaltet es an und beginnt darauf zu joggen. Ihre brünetten Haare hat sie mit einem Stirnband nach hinten geschoben, so dass ihr wunderschönes Gesicht voll zur Geltung kommt. Ihre wohlgeformten Brüste bewegen sich sanft im Takt der Laufschritte auf und ab.

»Oh, Mann - was ein wunderbarer Anblick!«, denke ich. »Wie kann ich nur Kontakt zu ihr aufnehmen?«, frage ich mich. Wenn mir sonst jemand gefällt oder sympathisch ist und ich ihn oder sie kennenlernen möchte, schicke ich eine Freundschaftsanfrage über „Buddybook“, aber ich weiß ja weder wer sie ist, wie sie heißt, noch ob sie überhaupt ein Profil bei „Buddybook“ hat. Früher im Kindesalter ging man einfach raus und klingelte bei den Kindern in der Nachbarschaft… Mein Vater erzählt uns auch immer wieder gerne, wie er eine Mofapanne vor dem Haus der Eltern meiner Mutter vorgetäuscht hat, um sie kennenzulernen. Er musste – angesichts dieses „Notfalls“ - dann ja dort unbedingt klingeln, um sich Werkzeug zu leihen… und siehe da, meine Mutter öffnete. Sie hatte „den Braten“ zwar wohl sofort gerochen – jedenfalls erzählt sie das immer - aber sie fand die Art des Kontaktversuchs originell und lustig und ihn attraktiv, so dass sie nicht abgeneigt war, ihn näher kennenzulernen… tja, und „der Rest ist Geschichte“!

Das ist heute nicht mehr so einfach möglich. Man muss online einen Antrag stellen und Name und Adresse der Person, die man besuchen möchte, sowie den Anlass des Besuches angeben. Ich kenne aber noch nicht einmal ihren Namen und der Wunsch, jemanden kennenzulernen, dürfte auch kaum ein Anlass sein, der als Rechtfertigung für eine Befreiung von Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen und für den Besuch oder das Treffen mit der Person eines anderen Haushalts akzeptiert würde.

»Vielleicht versuche ich es einmal ganz klassisch«, schießt es mir auf einmal durch den Kopf. Ich schreibe ihr eine Nachricht mit Stift und Papier! Schließlich habe ich das – anders als die Generation meines kleinen Bruders – in der Schule noch gelernt und nicht nur das Tippen auf der Tastatur und die Audioeingabe von Buchstaben und Worten.

»Hm, schön und gut«, denke ich, »aber wie soll ich ihr die Nachricht nur übermitteln? Warte mal - mein kleiner Bruder hat doch diesen Technikbaukasten, mit dem wir im Frühjahr zusammen die kleine Drohne gebaut haben – die könnte ich vielleicht reaktivieren und zum Transport meiner Nachricht nutzen…«, denke ich laut nach.

Ich stürme in das Zimmer meines kleinen Bruders, durchsuche seine Spielzeugkisten, Wandregale und Schränke.

»Mann, was eine Unordnung!«, fluche ich. »Ich dachte, die Kids spielen heute fast nur noch am Rechner, aber er hat ja trotzdem noch Unmengen an Spielzeug! Ah, endlich. Da ist sie ja! Hoffentlich funktioniert sie noch!«

Mit der kleinen Drohne und der dazugehörigen Funksteuerung in der Hand kehre ich in mein Zimmer zurück, wo ich mehrmals versuche, die Drohne zu starten - ohne Erfolg!

»Mist! Sie funktioniert nicht!«, rufe ich verärgert. »Hm, vielleicht muss ich nur den Akku aufladen!«

Ich setze die Drohne auf ein Ladepad und nach circa drei Minuten beginnt die kleine grüne LED auf der Unterseite der Drohne tatsächlich zu blinken.

»Prima, sie scheint zu laden!«

Jetzt muss ich nur noch eine Nachricht schreiben.

»Hm, was soll ich nur schreiben?«, grüble ich.

Es ist gar nicht so einfach, die richtigen Worte zu finden. Die ersten zwei Versuche landen schnell zerknüddelt im Mülleimer und auch den Gedanken, ihr ein Gedicht in Versform zu schreiben, verwerfe ich schnell wieder. Wer nicht poetisch angehaucht ist, findet das möglicherweise nicht so toll. Mögliche Formulierungsvorschläge eines Textbots aus dem Ultranet möchte ich lieber nicht nutzen, denn man muss angeben, wozu der Textvorschlag dienen soll. Es wäre mir aber gar nicht recht, wenn mein Versuch der Kontaktaufnahme – wie alles, was man so im Ultranet macht oder recherchiert - „aktenkundig“ würde. Ich ziehe es also vor, mir selbst „den Kopf zu zerbrechen“. Vielleicht sollte ich meine Zeilen einfach ganz simpel und unverfänglich formulieren. Schließlich schreibe ich:

„Hallo Nachbarin!

Ich habe mich gefreut, dich heute zu sehen! Du wirkst sehr sympathisch und bist wunderschön! Vielleicht hast du ja mal Lust zu chatten?

Mein Profil bei Buddybook heißt `MaxBerlin007´.

Viele Grüße Max“

Mit einer Schnur befestige ich die Notiz an der Unterseite der Drohne und gehe auf den Balkon, um sie zu starten.

»Mist, sie reagiert nicht auf die Funksteuerung! - Aha, die muss ich noch anschalten. Prima, jetzt scheint sie auf die Steuerung anzusprechen.«

Die vier kleinen Propeller an jeder Seite der Drohne surren los und machen ganz schon Lärm.

»Endlich, sie hebt tatsächlich ab!«, freue ich mich wie ein kleines Kind. Zielstrebig nehme ich Kurs auf den Garten der Schmidts. Durch das Surren der Propeller aufgeschreckt, schaut meine joggende Nachbarin nach oben. Die Drohne kreist jetzt genau über ihr. Sie wirkt verunsichert und genervt. Es ist eigentlich verboten, mit Drohnen über fremde Grundstücke zu fliegen. Leider gab es in der Vergangenheit immer wieder Fälle, in denen Drohnen genutzt wurden, um andere Leute auszuspionieren, kompromittierende Fotos zu schießen oder inhaltlich zweifelhafte Videos aufzunehmen. Es ist also gut nachvollziehbar, dass meine Nachbarin nicht erfreut ist, wenn eine Drohne über ihr kreist. Auf einmal greift sie nach einem Besen, der ans Haus gelehnt auf der Terrasse steht, schwingt ihn in die Höhe und schleudert mit einem gezielten Schlag die Drohne zu Boden, die auf dem Terrassenholz zerschellt.

»Wow, was ein Schlag!«, denke ich, den anstehenden Ärger mit meinem Bruder wegen der zerstörten Drohne gedanklich beiseiteschiebend. Unbeirrt steigt sie zurück auf das Laufband und joggt weiter.

»Mist, das ist wohl schiefgegangen!«, zische ich enttäuscht. Meine Nachricht hat sie leider überhaupt nicht wahrgenommen. Wild gestikulierend stehe ich auf dem Balkon, aber sie sieht mich einfach nicht. Frustriert gehe ich in mein Zimmer zurück.

Den Abend verbringe ich mit „Ballerspielen“ am Computer – eigentlich mag ich solche Spiele gar nicht, aber sie sind ganz gut um Ärger, Frustration und Enttäuschung abzubauen.

Covid - 33

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