Читать книгу Ferkel fliegen nicht - Ninni Martin - Страница 9

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Der Schnellimbiss, eine mit Sitzgelegenheit aufgerüstete türkische Döner-Kebab Bude, war nicht gerade eine Lokalität, wo Graf von Rotz zu speisen pflegt. Schmutziges, abgenutztes Interieur, fettig-klebrige Tische und Geschirr und Besteck von einer Art, der auch ungewaschenen Fingern gerne den Vorzug gegeben werden sollte, waren vom Imbissbetreiber vielleicht nicht ganz ungewollt. Warum sollten Gäste länger zum Verweilen eingeladen sein als für die Zeit, die ausschließlich zum Stillen von Hunger, Durst und für den schnellen Umsatz notwendig ist? Ein scharfer Geruch nach Desinfektionsmitteln übertünchte den Bratendunst mit den so typischen Aromen von Zwiebeln, Knoblauch und von Körperschweiß. Gerade deshalb noch hinterließ das Lokal auf Frieder den Eindruck, dass die behördliche Aufsicht, zu dessen Teil er ab übermorgen zählte, diesen Ort besonderer hygienischer Herausforderung noch nicht völlig aufgegeben hatte. Draußen regnete es und ein kalter böiger Wind tat sein Übriges, um eine Traube von Menschen in den Imbiss zu treiben. Es war überfüllt, verraucht und laut. Jeder, der sich hier umsah, selbst ein von weit her Zugereister, so wie Frieder auch, wüsste recht bald, wo und in welchem Teil der Stadt dieses Lokal seine ureigene Kundschaft anzog. Hier verkehrten Prostituierte aus aller Welt. Viele schienen verbraucht, etliche hysterisch und durch Drogen aufgekratzt, einige durchfroren, andere einfach nur müde. Kein anderer, besserer Ort in einem für sie so fremden Land hätte ihnen eher das Gefühl von Heimat gegeben. Außer der Döner Bude gab es für sie keine andere Wahl und war ihnen als Teil ihrer Arbeit und nicht ihres Traums vom besseren Leben gerade recht. Kleinganoven und Zuhälter schlugen sich die Zeit tot. In der Mehrzahl waren sie wohl einheimisch und Menschen, die hier mit gewissem Erfolg ihr Organisationstalent bewiesen, um Krümel vom großen Rotlichtkuchen abzubekommen, nachdem sie zuvor in bürgerlichen Berufen gescheitert waren. Freier aus eben solcher Bürgerlichkeit füllten den Rest der Bude auf. Sie tranken sich mit billigem Bier und Raki warm, um in den meisten Fällen eher Scham und Nervosität als schlechtes Gewissen und Kälte zu überwinden. Kaum beleuchtet blieb der kleine, schmale Bereich mit den Tischen im schummrigen Dunkel, wo sich die Gesichtszüge von Gästen, die kaum weiter entfernt saßen, nur noch erahnen ließen. Es war so dunkel, dass jeder, der zu Tisch saß und durch die Fensterscheibe schaute, ungeblendet von der Reflexion des inneren Lichtscheins das rege Nachtleben draußen und entlang der Straße gut beobachten konnte. Genau gegenüber der Imbiss-Stube lag eines der Bordelle des Rotlichtviertels. Es zog wie auf einer unglaublich regelmäßigen Perlschnur die Freier an und verschluckte sie in einem aufreizenden, von einer rot-weißen Lichtergirlande umrandeten Eingangsbereich. Zwei grobschlächtige Gestalten standen davor wie auf Wache. Bereits nach weniger als einer halben Stunde spukte das Bordell die allermeisten wahrscheinlich befriedigten Kunden wieder aus. Frieder saß zurückgezogen an einem Eckfenster, das sich als erstbester, weil noch freier Beobachtungsplatz für das Bordell gegenüber angeboten hatte. Er wartete auf Ali bereits deutlich länger als eine Stunde. Frieder würde es nicht überraschen, wenn er noch eine weitere Stunde zu warten hätte. Ali war nicht nur potent wie ein Büffel mit schier unbändiger sexueller Triebgier, sondern hatte auch die Taschen voll Geld. Sein ehemaliger Freund schien gerade alle verfügbaren Damen des Etablissements genüsslich und der Reihe nach durchzuprobieren. Der Taxifahrer, dem sie Geld gaben, damit er sie vorne weg fahrend in ihrem blauen Lieferwagen hierher lotste, hatte ihnen nicht zu viel versprochen. Offensichtlich war er das Geld wert gewesen und hatte zudem für seinen Schlepperdienst vom Bordellbetreiber noch dazu eine recht ansehnliche Provision zu erwarten. Frieder überlegte sich, ob er Alis Einladung, ihn auf seine Rechnung zu begleiten, besser hätte annehmen sollen. Zwar hatte er wegen einer Entzündung keine Lust, doch besser hätte er sich ihr trotz Schmerzen hingegeben, allein um langes stumpfsinniges Warten an diesem so trostlosen Ort zu entgehen. Bei dem Gedanken, nun auf dem warmen Bauch einer Frau zu liegen, bekam seine Lust allmählich auftrieb. Gerade wollte Frieder aufstehen, seine Jacke anziehen und hinübergehen, als ein hochaufgeschossener, gutgekleideter, etwas älterer Mann das Lokal betrat. Der Herr bahnte seinen Weg durch das Gedränge zur Theke. Er bestellte sich ein Bier und besprach etwas mit dem Wirt. Ministerialdirektor Dr. Gottlieb Schwarz. Frieder schien es schlicht unfassbar, ausgerechnet hier seinen zukünftigen Vorgesetzten und Abteilungsleiter im Ministerium anzutreffen. Dr. Schwarz durfte ihn nicht entdecken. Frieder zog sich, statt aufzubrechen, noch tiefer in die Ecke zurück. Er hoffte, dass Dr. Schwarz ihn von der Theke aus nicht sehen würde, solange er dort nur bliebe und sich nicht auf die Suche nach einem freien Sitzplatz begäbe. Frieder erinnerte sich an Arbeitsessen der letzten beiden Jahre, an denen der Ministerialdirektor teilnahm. Da jedoch Jutta das Heft des Forschungsprojektes fest in der Hand hielt, war während dieser Zeit sein Kontakt zu Schwarz nur oberflächlich und auf das Sachliche beschränkt geblieben. So schätzte Frieder den Ministerialdirektor zunächst als freundlich, zurückhaltend und wohlwollend ein. Damit lag er, wie er es im Vorstellungsgespräch vor ungefähr einem Monat besser lernen sollte, völlig falsch. Dr. Schwarz war ein Genickbrecher und gebärdete sich als unerträglicher Moralist. In der Vorstellungsrunde führte er, und scheinbar nur er allein, das Wort, sekundiert bestenfalls noch vom Personalchef. Jutta hingegen saß zahm neben ihm und unternahm nichts, als Dr. Schwarz und der Personalchef im Beisein von Personalratsvertretern und eines Staatssekretärs, der seinen Günstling durchbringen wollte, Frieder ins Kreuzverhör nahmen. Das Fachliche und Wissenschaftliche interessierte sie nicht, und Frieder hatte vergeblich gehofft, mit der für beide Seiten fruchtbaren Zusammenarbeit der vergangenen zwei Jahre zu punkten. Das Forschungsprojekt zur Verbesserung der Resistenz von Nutzgeflügel gegen Stress durch pharmakologische und haltungstechnische Beeinflussung der hormonellen Regulation wurde von der Universität der Landeshauptstadt dem ägyptischen Institut des Dr. Johann Bogart in Auftrag gegeben. Das Projekt wurde von Juttas Abteilung im Ministerium maßgeblich finanziert und federführend betreut sowie von Frieder als Projektleiter und Angestellter des Instituts in Ägypten erfolgreich bearbeitet und zum Abschluss gebracht. Deshalb war es nur naheliegend, dass Frieder im Anschluss daran sein großes Interesse an einer Rückkehr nach Deutschland bekundete. Er bot sich für die frei werdende Stelle im Ministerium als besonders geeignete wissenschaftliche Fachkraft an, welche die Mitarbeiter der Abteilung bereits persönlich kannten und deren Arbeit und Leistungen sie schätzen gelernt haben. Darüber hinaus bestach Frieder mit dem nahezu unschlagbaren Vorteil, Arabisch in Wort und Schrift zu beherrschen, womit außer ihm wohl kein anderer Mitbewerber aufwarten konnte. Aber alles das schien für Schwarz ohne Belang zu sein. Stattdessen stand die persönliche Integrität Frieders auf dem Prüfstand. Dr. Schwarz betonte, und der Staatssekretär nickte ihm zustimmend bei, dass er von jedem seiner Mitarbeiter ein klares Bekenntnis zu den rechtsstaatlichen demokratischen, aber auch zu den christlichen Grundwerten erwarte. Jeder hätte Integrität und Ergebenheit durch feste Verankerung in Familie sowie in ehrenamtlichen gesellschaftlichen Verpflichtungen wie in gemeinnützigen Vereinigungen, Parteien oder in der Kirche zu beweisen. Der Personalchef schoss nach, dass ihn weltenbummlerisches Abenteurertum weniger beeindrucken würde als die Bereitschaft zur Bodenständigkeit und Unterordnung unter familiäre und gesellschaftliche Bindungen. Bedeutete es dann nicht ein Nachteil, dass der Bewerber als über Vierzigjähriger noch unverheiratet und kinderlos war und offensichtlich keinen familiären oder sozial gefestigten Hintergrund besaß? Frieder hatte das Gefühl, dass die beiden mit solchen Anspielungen auch seine sexuelle Orientierung hinterfragten, aber sich zu einer offeneren Attacke in dieser Richtung dann doch nicht weiter trauten. So schwenkten sie auf den Glauben ein: Kann ein Christ, der für Jahre allein in einem nahezu vollkommen islamischen Land und ohne Kontakt zur Kirche lebt, seinen Glauben bewahren und wie überhaupt beweisen? Frieder konnte auf diese Fragen nicht antworten. Natürlich hatte er eine Familie und war Vater eines elfjährigen Sohns und einer neunjährigen Tochter. Durch seine Lebenserfahrung in einem islamischen Land glaubte er als Christ an Gott genauso, wie er als Moslem an Gott nicht anders glauben würde. Zudem besuchte er zusammen mit seiner Frau nicht immer, so doch gelegentlich die Gottesdienste der koptischen Kirchengemeinde in Luxor und organisierte für deren Festlichkeiten die Bewirtung von Armen. Hinsichtlich seines sozialen Hintergrundes hatte er im Vergleich zu seinen Mitbewerbern bestimmt nicht weniger aufzubieten - jedoch eben nur als Dr. Johann Bogart. Er aber hatte sich als Dr. Friedemann Bronn beworben. Als Friedemann Bronn entsprach sein Werdegang tatsächlich nur dem eines Weltenbummlers. Er hatte noch nicht in die Sozialkassen des Staates eingezahlt und sich noch nicht in irgendeiner Funktion in Gesellschaft, Partei und Kirche eingebracht. Er hatte vorgegeben müssen, noch kinderlos und ledig zu sein. Frieder lag es auf der Zunge, diese Moralapostel mit schlagfertigen Argumenten und stechenden Beweisen seiner moralischen Integrität rückstandslos unter den Tisch zu reden. Das jedoch durfte er nicht, denn nur als Johann Bogart war er integer und hätte dem geforderten Wunschbild entsprochen, zumindest dem Anschein nach. So saß Frieder einsilbig, geradezu wortlos da und musste sich von Dr. Schwarz und dessen Messdiener infrage stellen lassen. Schließlich gab er zum Ende des Vorstellungsgesprächs jede Hoffnung auf die Stelle auf. Sie verabschiedeten ihn kurz und kühl und ohne Händedruck. Doch als Frieder beim Verlassen des Zimmers Jutta ihm mit einem leichten Augenzwinkern zunicken sah, wusste er sicher, dass er und nicht einer seiner Mitbewerber die Zusage erhielte. Für ihn war es noch immer unerklärlich, warum er genommen wurde, nachdem er in ein so schlechtes Licht gerückt worden war.

Frieder beobachtete Gottlieb Schwarz so aufmerksam, dass ihm Ali für den Moment nicht mehr allzu wichtig schien, als dieser das Bordell verließ, in die Döner-Stube herüberkam und sich zu Frieder an den Tisch setzte. Gerade wollte Ali etwas sagen, vermutlich sein Urteil über die drüben in Anspruch genommenen Dienste fällen, als ihn Frieder schnell über den Mund fuhr:

«Sei mal einen Moment ruhig und setze Dich direkt vor mich hin!« Weil sein Kompagnon ohnehin für Diskussionen noch viel zu ausgelaugt wirkte, fügte er sich seinem Wunsch. Wie Frieder beobachtete, benahm sich Dr. Schwarz gelassen und völlig unauffällig. Er blickte niemandem außer dem Wirt in die Augen, nippte an seinem Bier und zog an einem Zigarillo. Zweifellos kam er des Öfteren hierher. Gelegentlich schaute er den Wirt fragend an, der dann immer wieder auf die Uhr sah, bis er bei einem weiteren Mal der wortlosen Nachfrage zum Telefon griff. Infolge des Kneipenlärms hörte Frieder, wie sich der Wirt lautvernehmlich über den Verbleib von Toni erkundigte. Toni, so stellte sich Frieder vor, wäre wohl eine Edelprostituierte, die gleich im bayrisch-alpinen Dirndl erschiene, um den Ministerialdirektor als Nächsten ihrer für die Nacht bestellten Kunden abzuholen. Wo gedachte Schwarz, sich mit ihr zu vergnügen? Vermutlich gingen sie in ein Apartment nicht weit weg von hier, jedoch weit genug entfernt, um gehobener abgegrenzt zu sein von all den billigen Absteigen und Wohnmobilen des Rotlichtviertels und der näheren Umgebung. Sie verschwänden in einem gepflegten Gebäude, vor dem keinesfalls Freier warten durften. Dr. Schwarz war im Milieu anonym, das zeigte seine Gelassenheit, und dennoch in gewisser Weise bekannt. Einige Gäste nickten ihm verhalten zu, um dann mit einigen Schritten von ihm abzurücken. Seine distanzierte, autoritäre Ausstrahlung, sein zurückhaltendes kontrolliertes wie gleichwohl kontrollierendes Benehmen gaben ihm an diesem völlig anderen Ort die genau gleiche Bedeutung wie im Ministerium. Hier wie dort galt er als graue Eminenz. Jutta hatte erzählt, dass letztendlich alle im Ministerium vor Gottlieb Schwarz kuschten und ganz besonders der Minister, der unter all den verfügbaren Abteilungsleitern ihn als rechte, aber sicher nicht vertraute Hand auszusuchen hatte. Es gab lautere, jüngere und schneidigere Direktoren, aber es gab keinen wie Dr. Schwarz, der über die Jahrzehnte die Minister und Staatssekretäre kommen und gehen sah. In der Fülle der Macht langer Dienstjahre, reich an Verbindungen, Abhängigkeiten und Beziehungen bis hinein in die höchsten politischen Ämter ließ allein er Minister und Gefolgschaft kommen und gehen. Allein Gottlieb Schwarz gebot über das Ministerium. Alle wussten es, alle akzeptierten es. Offensichtlich kannte Jutta jedoch als Einzige über den Ministerialdirektor eine Einzelheit, die sie außer ihm in erpresserischer Weise sonst niemandem, auch Frieder nicht, preisgab. Ihr Wissen reichte aus, um Frieder als ihren Nachfolger für die frei werdende Stelle durchzusetzen.

Ali sah sich unauffällig um, indem er sich kurz bückte und vorgab, als bände er seine Schuhe. Er erkannte, wen Frieder so aufmerksam an der Theke beobachtete.

»Was ist, Johann?«, fragte er, »kennst Du den alten, feinen Herren?«

Frieder saß still und antwortete nicht. Warum sollte er mit Ali über etwas sprechen, was nur in einer Zukunft ohne seinen ehemaligen Freund von Bedeutung wäre?

»Wer ist er? Was hast Du mit ihm zu tun?«, fragte der Ägypter argwöhnisch.

»Das geht Dich nichts an«, antwortete Frieder missmutig.

»Dein ganzes Tun und Lassen in den nächsten Wochen geht mich etwas an. Wir werden beide einen Plan fassen und ausführen und nichts soll uns dabei stören«, erwiderte Ali bestimmt, jedoch ohne Ärger in der Stimme und fuhr fort:

»Deshalb will ich wissen, wer dieser Mann dort ist. Ich will alles über Dich wissen. Ich will wissen, wie Du lebst, wo Du wohnst, wo Du arbeitest und mit welchen Menschen Du verkehrst. Ich will Klarheit über Dein ganzes Umfeld!«

»Das gebe ich Dir nicht preis. Finde es doch selbst heraus!« Frieder gab sich trotzig, aber auch spöttisch. Er zweifelte nicht daran, dass Ali teils aus Prinzip und als Zeichen seiner Stärke und teils aus Notwendigkeit jede Gelegenheit nutzen würde, ihn bis ins Detail auszuforschen. Eher früher als später fände er heraus, was Frieder mit diesem Herrn verband. Einzelheiten wie diese wären für Alis undurchsichtiges Vorhaben am Ende vielleicht noch nicht einmal wichtig. Jedoch für den Moment schien für Ali alles von Bedeutung zu sein. Es überraschte Frieder deshalb nicht, dass sein Kompagnon nicht locker ließ:

»Das werde ich auch, Du wirst schon sehen!«

Frieder lachte ihn aus, sagte jedoch nichts weiter dazu.

»Nun gut!«, gab Ali nach einer Weile klein bei, weil er begriff, dass zumindest für diesen Abend Pläneschmieden mit Frieder nicht möglich wäre. »Dann gib mir die Schlüssel zum Apartment Deiner Freundin«, forderte er.

Wortlos zog Frieder in einem Bund die vier Schlüssel zu Juttas Haus, Wohnung, Briefkasten und Kellerraum aus der Hosentasche. Er schnipste die Schlüssel über den Tisch, die dann unter der Hand Alis verschwanden. Bereits im Wagen sprachen sie davon, wenn auch nicht viel. Ali musste untertauchen. Warum genau erfuhr Frieder noch nicht. Frieder hätte Ali zu helfen, sollte mitmachen. Wobei? Frieder blieb im Unklaren. Stattdessen wuchs in ihm die bedrückende Gewissheit, dass er als Johann Bogart ein weiteres Mal in Alis Angelegenheiten mit hineingezogen werden würde. Die von ihm mühsam aufgebaute Legende zerbräche, der gemäß längst in jedermanns Annahme Johann Bogart durch einen Verkehrsunfall zu Tode gekommen wäre. 'Tot-Gesagte leben länger', ging es Frieder als Redensart durch den Kopf. Auch diese Weisheit nutzte ihm nichts. Im Grunde war er nun froh, nicht bereits die einst vom Staatssicherheitsdienst der DDR für ihn auf den Namen Johann Bogart hergestellten Identitätspapiere wie Pass, Geburtsurkunde, Zeugnisse und andere ausschmückende Dokumente vernichtet zu haben. Denn offenbar hielt sein ehemaliger Freund Dr. Johann Bogart für seine wahre Identität. Der Ägypter unterlag mit dieser Verwechslung einem Fehler. Frieder sah darin die kleine Chance, nur für eine kurze Zeit allein für Ali noch als Johann Bogart weiterzuleben. Jedoch bereits bei der nächstbesten Gelegenheit hätte Frieder die Identität des Johann Bogart auch für Ali für immer verschwinden zu lassen. Der Ägypter fände danach keinen Grund mehr, nach ihm zu suchen. Ali hatte offenbar noch nicht allzu viel von Frieders wahrer Vergangenheit herausgefunden und ebenso wenig von seinen gegenwärtigen Zielen sowie über sein neues Lebensumfeld. Deshalb wusste Ali wohl nicht, wo Frieder auf längere Sicht zu leben und zu arbeiten geplant hatte. Wenn Frieder Glück hatte, dann konnte Ali nur annehmen, dass Johann, nachdem er den Unfalltod in Ägypten vorgetäuscht hatte, sich nach Deutschland absetzte und in der leeren Wohnung einer ehemaligen Lebensgefährtin zunächst nur Unterschlupf fand. Mit nicht mehr als den gefälschten Papieren, die ihn als Dr. Friedemann Bronn auswiesen, fehlten ihm noch konkrete Ziele zur Fortsetzung der Flucht. Jedoch kannte Frieder Ali nur zu gut, um längst gelernt zu haben, dass Ali die Begabung besaß, schnell Wissenslücken zu schließen. Er gab oft den Anschein einer gutmütigen, geradezu weltfremden Wesensart, jedoch handelte er wie sein Vater mit messerscharfem Verstand, berechnend und kalt. Frieder hatte lange gebraucht, um Alis und Mohamads wahre Charaktereigenschaften zu begreifen. Sein natürlicher Instinkt für Distanz und Vorsicht war zu lange eingenommen von der Herzlichkeit vieler anderer der Achmadis, an deren Ehrlichkeit er nie Grund zu zweifeln fand. Ali und sein Vater Mohamad schienen ihm hingegen bereits von Anfang an zwielichtig, was er anfangs jedoch ganz und gar nicht als abstoßend empfand. Im Gegenteil. Das dunkle Umfeld machte sie für Frieder erst interessant und war ein wichtiger Grund für eine besondere Sympathie, die er beiden über viele Jahre entgegenbrachte.

Ali zeigte sich überrascht, als Frieder ihm sagte, dass er selbst nicht im Apartment wohnte und die Wohnung im Leerstand bald verkauft werden würde.

»Das Apartment wird nicht verkauft! Ich werde eine Zeit lang dort bleiben«, entgegnete Ali ihm auf der Fahrt zum Bordell, als sie dem Taxi folgten. Frieder widersprach nicht, nickte nur, weil sein Widerspruch zwecklos gewesen wäre.

Frieder mochte den an der Theke wartenden Gottlieb Schwarz vielleicht bereits eine halbe Stunde beobachtet haben, als er meinte, eine kleine Veränderung des Geschehens zu bemerken. Gottlieb Schwarz schien sich mit irgendeinem anderen als den Wirt zu unterhalten. Von einer Dame aber, die sich im Besonderen und dem Klischee einer Edelprostituierten entsprechend vom üblichen Publikum abhob, war jedoch nichts zu sehen. Auch blieb der kleine Abstandskreis der übrigen Gäste um Dr. Schwarz unberührt. Dennoch, seine Lippen bewegten sich und waren umspielt von einer leichten, erwartungsfrohen Mimik. Seine Körperhaltung schien offener und bereit, Nähe zuzulassen. Er öffnete den oberen Knopf seines eleganten Cashmeremantels, um in der Innentasche nach dem Portemonnaie zu greifen. Dabei sah Frieder für einen kurzen Moment ein hautenges, Lack schimmerndes Lederhemd auf Gottlieb Schwarz Brust hervorscheinen. Der Ministerialdirektor zahlte, knöpfte seinen Mantel wieder bis unters Kinn zu und bewegte sich wie ein Geist das Gedränge der Leute teilend auf die Spielautomaten nahe am Eingangsbereich des Lokals zu. Im ständigen Kommen und Gehen der Gäste konnte Frieder dieser hagere junge Kerl mit aschfahlem pockennarbigen Gesicht nicht aufgefallen sein. Der junge Mann stand nun an einem der Spielautomaten angelehnt und sah Dr. Schwarz mit ausdrucksloser Mine auf sich zu kommen. Auch seine Lippen bewegten sich. Dr. Schwarz tippte dem Jungen, der vielleicht 18-jährig, doch sicher keine zwanzig war, unauffällig und doch sanft an die Hüfte als Anstoß, ihm zu folgen. Das Paar verließ die Döner-Stube, ohne dass irgendeiner der übrigen Gäste davon Notiz zu nehmen schien, und entschwand die Straße hinunter in der Dunkelheit.

Ali, der den Moment der Verwunderung in Frieders Gesicht wahrgenommen und dann alles über die Schulter gewandt mitbeobachtet hatte, stand auf und verließ geradewegs das Lokal, ohne ein Wort zu verlieren. Frieder sah Ali hinüber auf die andere Straßenseite gehen, so als wollte der Ägypter das Bordell erneut besuchen, doch dann bog er ab und ging ebenfalls die Straße hinunter. Frieder wartete eine Weile, weil er überlegte, wie er Gottlieb Schwarz und wie er Ali verstehen sollte. Ali, so begriff es Frieder, hatte wohl einen kleinen Spalt entdeckt, wo er das Brecheisen anzusetzen gedachte, um in sein neues Leben einzubrechen. Mit dieser Ahnung kamen Angst und Verzweiflung. Am besten wäre es, dachte er, wenn er auf der Stelle jede Bemühung um den Neuanfang aufgäbe, sich sofort in einen Zug, besser noch in ein Flugzeug setzte, mit einem Ziel ganz egal wohin. Er wollte plötzlich nur unendlich weit weg von hier, von Deutschland, Europa und von Ägypten und sich eine völlig neue Existenz aufbauen, ohne zu wissen, wie oder wo. Er brauchte einen neuen falschen Namen und abermals eine frei erfundene Legende, und wenn es nicht anders ginge, dann auch als Schuhputzer in Kalkutta. Alles war bereits fehlgelaufen, noch ehe sein Neuanfang richtig in Gang käme. Frieder war ein Mensch, den Existenzangst nur selten geplagt hatte. Nun jedoch spürte er den für ihn noch unbekannten und anhaltenden Druck, vollkommen auf sich alleine gestellt zu sein, ohne die Sicherheit einer hilfreichen Vorarbeit des Staatssicherheitsdienstes und ohne die schützende Hand seines einflussreichen Schwiegervaters. Frieder verstand, dass er mit Mitte vierzig und ohne Kontakte nicht wieder alle Chancen bekäme, um von Neuem ein anspruchsvolles und gesichertes Leben anzufangen. Daran änderte auch das ganze Geld und Vermögen nichts, das er über viele Jahre auf einem Schweizer Nummernkonto beiseite gebracht hatte. Die Ruhe und Sicherheit eines geschützten Bürgerlebens nicht zu leben, sondern nur zu erkaufen, bliebe für ihn weitgehend nur die Fortsetzung einer zunehmend quälenden Furcht vor Entlarvung und Strafverfolgung. Er wollte nicht wieder in die Illegalität zurückgeworfen werden, die ihm zwar am Ende beträchtlichen Wohlstand, jedoch keine Zufriedenheit eingebracht hatte. Frieder begriff, dass ihm bis auf Weiteres nichts anderes übrig bliebe, als mitzuspielen. Ali forderte ihn heraus, und Frieder ginge darauf bis an die Grenze des Erträglichen und des Wiederumkehrbaren ein. Ministerialdirektor Dr. Gottlieb Schwarz hatte für ihn nicht mehr und nicht weniger als nur ein Vorgesetzter zu sein, denn was hatte Frieder dessen sonderbares Privat- und Intimleben zu interessieren? Er brauchte doch nur die Ereignisse auf sich zukommen lassen.

Als der Schreck sich legte, begann Frieder daran zu glauben, trotz allem sein neues Leben in den Griff zu bekommen. Er fasste wieder Hoffnung, stand auf, ging zur Theke, um zu zahlen. Dann dachte er zu gehen, doch die blanke Neugier trieb ihn um:

»Was ist mit dem Herrn, der hier noch eben stand? Was ist mit dem Jungen, was haben beide miteinander zu tun?«, fragte er den Wirt. Doch der antwortete nicht, schaute grimmig, und ballte die Faust. Beinahe hätte er Frieder aus seinem Lokal geworfen.

»Das war unser Freund Hein!«, johlte eine versoffene, quäkende Stimme von irgendeinem aus dem Gedränge in Frieders Ohr.

»Das Schwein hat Toni angesteckt!«, scholl es von einem anderen hinter Frieder her, als er auf die Straße trat.

Frieder suchte nach einem Taxi und fand eines an einer Straßenecke zur Einmündung in eine enge, dunkle, mit Müllbehältern und Wohnwagen vollgestellten Gasse. Er nannte dem Fahrer die Adresse seiner Pension, dachte an nichts, war nur müde und ließ sich fahren. Er fuhr vorbei an einem Fotoladen mit eingeschlagener Schaufensterscheibe. Unter dem Giebel des Hauses blinkte und tönte die Alarmanlage.

Ferkel fliegen nicht

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