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IV. „Unser Gott ist ein Nomade“ –
Gotteserfahrungen im Alten Israel 1. Die Vielfalt der Erfahrungen

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Die jüdisch-christliche Glaubenstradition, von der ein gutes Drittel der heutigen Menschheit geprägt ist, nahm ihren Anfang in den Gotteserfahrungen einer Gruppe von Fronarbeitern, denen um etwa 1200 v. Chr. die waghalsige Flucht aus Ägypten gelungen war und die danach in einem lang anhaltenden Verschmelzungsprozess mit der sesshaften Bevölkerung Kanaans zu einem Volk zusammenwuchs.

Man kann sich fragen, warum dieses kleine, politisch unbedeutende Volk einen derart tiefgreifenden Einfluss mit einer so nachhaltigen und Wirkungsgeschichte ausgeübt hat. Es gab andere, weit mächtigere und kulturell höher stehende Völker in jener Zeit – zuerst die Ägypter, später die Griechen und die Römer. Auch sie hatten ihre hochentwickelte Religion, ihren Kult, ihre Glaubenserfahrungen. Aber das alles ist heute Historie – eindrucksvoll in ihren Stein gewordenen Glaubenszeugnissen, staunenswert in ihren Kult-Monumenten, aber tot. Die Glaubenszeugnisse Israels sind weit weniger eindrucksvoll und staunenswert, sie bestehen fast ausschließlich im Schrift gewordenen Wort. Und das ist lebendig geblieben. Kaum ein Volk der Antike besitzt über einen Zeitraum von rund 1000 Jahren eine derartige Fülle von Schriftzeugnissen. Allenfalls die Griechen. Aber hier ist zu fragen, ob nicht viele ihrer philosophischen Schriften nur im Schlepptau der jüdisch-christlichen Tradition ihre Geltung bekamen und behielten. Das Schrifttum des Volkes Israel (und danach des beginnenden Christentums) legt nach eigenem Bekunden Zeugnis von der Erfahrung ab, dass Gott „gesprochen“ hat „zu vielen Malen und auf vielerlei Weise“ (Hebr 1,1). Dieses über viele Generationen hinweg, in immer wieder unterschiedlichen und neuen Situationen vernommene „Wort“ Gottes ist aufgezeichnet worden – nach Menschenart unvollkommen, manchmal widersprüchlich, bruchstückhaft, keineswegs immer in literarisch vollendeter Form. Und dennoch hat es etwas „bewirkt“ und „erreicht“ (vgl. Jes 55,11).

Die israelitisch-jüdische Glaubenstradition hat einen neuen Aspekt der Gotteserkenntnis und -verehrung eröffnet. Gott erscheint nicht mehr nur als der Angerufene. Er ist auch der Anrufende. „Und Gott sprach…“ so beginnt die Heilige Schrift des Volkes Israel (Gen 1,1). Gott schweigt nicht mehr, sondern er spricht den Menschen an. Er ist nicht mehr nur der geheimnisvolle Urgrund des Seins, sondern greift handelnd und verwandelnd in diese Welt ein. Er teilt sich selbst den Menschen mit. Nicht irgendetwas, nicht besondere Geschenke oder Privilegien fürseine Anhängerschaft, sondern sich selbst. Seine lebendige und Leben schaffende Wirklichkeit.

Israelitisch-jüdische Gotteserfahrung ist geprägt von der Nomadenzeit und von der Begegnung mit kanaanäischen Lokalgottheiten. Der Widerspruch zwischen den religiösen Vorstellungen und Riten der Nomaden und denen der sesshaften Bevölkerung führt in Israel zu Auseinandersetzungen, die in dramatischem Ringen eine Gotteserkenntnis von einzigartiger Bestimmtheit und Widerstandskraft heranreifen lassen.

 Der Gott der Nomaden kann nicht an einen Ort gebunden sein. Er wandert mit seiner Gemeinde; und sie erwartet, dass er immer für sie da ist. Der Glaube der Nomaden lebt aus der Hoffnung, dass Gott sich zur rechten Zeit zeigen werde. Das ganze Dasein ist provisorisch, vorläufig, nach vorn ausgerichtet. Es haftet nicht am Gegenwärtigen; die Erwartung richtet sich auf die Zukunft. Der Nomade findet ständig neue Situationen vor, denen er sich anpassen muss, die ihn herausfordern, die ihn vor Probleme stellen. Er wandert einer Hoffnung entgegen Diese Perspektive lässt die Vergänglichkeit und Bedingtheit des Gegenwärtigen tiefer erfahren als das geruhsame Dasein einer sesshaften Lebensweise. Das Gegenwärtige wird im Nomadendasein als nach vorn gerichtet, noch nicht abgeschlossen erfahren. Aber auch das Vergangene hat seine Bedeutung; es markiert einen Punkt auf dem Wanderweg des Glaubens in die Zukunft. Die Erinnerung an Vergangenes lässt den Zusammenhang von Verheißung und Hoffnung erkennen, zeigt vorläufige Erfüllungen und Erfahrungen auf und macht Mut zum Weitergehen in die Zukunft.In den Religionen der Umwelt Israels ging diese Struktur des Verheißungsglaubens nach der Nomadenzeit völlig unter, während sie sich in Israel im Ringen mit dem Offenbarungsverständnis des sesshaften Agrarlebens immer wieder durchgesetzt hat.

 Die Gotteserfahrung der sesshaften Ackerbauern und Viehzüchter wird nicht durch die Verheißung einer zukünftigen Erfüllung, sondern ganz durch die gegenwärtigen Erscheinungen Gottes bestimmt. Der Sesshafte lebt in einer gewissen Erfülltheit und Ruhe, nicht ständig auf Zukunft hin unterwegs. Gott erscheint ihm an bestimmten Orten, die dadurch zu heiligen Orten werden. Menschen siedeln sich in der Nähe dieser Orte an und werden zu Wohngenossen der Götter. Der Heiligung der Orte entspricht eine Heiligung der Zeit; sie wird nicht als nach vorn offenes Geschehen, als Geschichte erfahren, sondern in ihrem Ablauf geordnet. Die Erscheinung Gottes wird zu periodischen, heiligen Festzeiten gefeiert. Die Religion des Sesshaften kreist beruhigt im Zyklus der heiligen Jahreszeiten um den an heilige Orte gebundenen Gott. Die Offenbarung Gottes ist geschichtslos.

In Israel erweist sich in der Auseinandersetzung zwischen der Religion der Sesshaften und jener der Nomaden der in die Zukunft blickende Verheißungsglaube als die stärkere Macht. Der Gott Israels ist ein Weg-Gott, ein Führungs-Gott, ein Gott, der im Aufbruch begegnet. „Gott erkennen, heißt ihn wiedererkennen. Ihn wiedererkennen aber heißt, ihn in seiner geschichtlichen Treue zu seinen Verheißungen erkennen, ihn darin als denselben und darum ihn selbst erkennen“1 (Jürgen Moltmann).

Die großen Themen des christlichen Glaubens

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