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Kapitel 2

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Das kleine Mädchen zitterte am ganzen Körper. Die Ursache war weniger der Umstand, dass es in diesem frostigen Winter des Jahres 1920 nur einen dünnen Mantel trug, sondern vielmehr die Furcht vor dem, was da auf es zukommen würde. Als brave Tochter hatte sie nicht widersprochen, als ihre Eltern ihr eröffneten, dass jetzt für sie ein ganz neues Leben beginnen, das ihr Ruhm und Ansehen bringen würde. Man werde sie in kostbare Stoffe hüllen und ihr auserlesene Köstlichkeiten servieren. Sie würde nie wieder Hunger leiden müssen und könnte irgendwann ihre Familie finanziell unterstützen. Die Kleine konnte mit Begriffen wie Ruhm und Ansehen nichts anfangen. Wie edle Stoffe sich anfühlten, wusste sie auch nicht, deshalb vermisste sie diese nicht, und wenn es bei ihrer Familie in dem kleinen Fischerdorf mitunter wenig zu essen gab, so hatte sie das als normal empfunden. Anderen Kindern erging es bestimmt nicht anders, dachte sie. Ihrer Familie zu helfen, indem sie sich in das fremde Ōsaka bringen ließ, war der einzige Grund, weshalb sie die Trennung von ihren Geschwistern und Eltern tapfer ertrug. Sie hatte es sogar fertig gebracht, beim Abschied nicht zu weinen, um ihre Mutter nicht noch trauriger zu machen.

Als sie in das Haus geführt wurde, musste sie zuerst ihre Schuhe ausziehen, um auf den Tatami-Matten keine Flecken zu hinterlassen. Erst dann konnte sie weiter Vordringen auf ihren dünnen, abgetragenen Socken. In dem Raum, in den man sie führte, befanden sich fünf Personen, allesamt weiblich. Die älteste schien eine Dienerin zu sein, denn sie versuchte der kaum jüngeren jeden Wunsch von den Augen abzulesen und war unentwegt bemüht, geschäftig hin und herzulaufen und sich dabei möglichst geräuschlos zu verhalten. Dann gab es noch eine sehr schöne, junge Frau, die ihr langes Haar offen über die Schultern trug und deren Augen den Neuankömmling kritisch musterten, eine ebenfalls sehr hübsche, aber etwas freundlicher Blickende, und ein Mädchen, das einige Jahre älter war als die Kleine. Nur die Zweitälteste saß mitten im Raum, wobei sie ihre Füße und ihren Unterkörper unter der Decke des beheizten Tisches kotatsu wärmte, der im Winter einen Ort der familiären Gemeinsamkeit darstellte, während die anderen sich im Hintergrund hielten. Da sie offensichtlich das Sagen in diesem Haus hatte, ergriff sie sogleich das Wort.

»So, du bist also die kleine Emi. Ich muss sagen, du machst deinem Namen alle Ehre, denn Emi bedeutet mit Schönheit gesegnet, wie du vielleicht weißt. Aber dass dir das nicht zu Kopf steigt, hörst du? Bevor du eine maiko, also eine Geisha-Auszubildende wirst, musst du uns vorerst dienen und einige Zwischenstufen absolvieren. Mit uns meine ich mich und meine Töchter. Ich bin die okāsan dieser okiya. So heißt hier das Wohnhaus der Geisha-„Familie. Ich unterstütze deine Ausbildung, indem ich das komplette Ausbildungsgeld bezahle, das du mir später einmal zurückzahlen wirst. Und bis du eine geiko bzw. Geisha wirst, werden noch viele Jahre vergehen. Gemeinsam sind wir deine neue Familie, deshalb möchte ich, dass du mich „Mutter“ nennst.«

Emi zuckte kaum merklich zusammen. Der Gedanke, eine fremde Frau Mutter zu nennen, bereitete ihr augenblicklich Kummer.

»Dreh dich einmal«, sprach die strenge Frau weiter. Die Frau, die Emi für eine Dienerin hielt, gab ihr einen Schubs und machte eine Geste, die sich im Kreis drehen bedeutete.

»Ja, ganz ordentlich. Das könnte etwas werden.«

»Also, ich finde, sie sieht wie eine Bauernmagd aus. Ungelenk und tollpatschig ist sie noch dazu«, sagte die Schönheit mit den weniger freundlichen Augen.

»Vergiss nicht, Sakura, dass es bei dir auch ein langer Weg war, bis du zu der ehrwürdigen Geisha mit den anmutigsten Bewegungen geworden bist«, wies „Mutter“ sie in die Schranken. »Es war ein Stück harter Arbeit und hat mich eine Menge Geld gekostet, dass du noch nicht vollständig zurückgezahlt hast.«

Sakura, deren Name mit Kirschbaum beziehungsweise -Blüte gleichzusetzen war, machte ein Gesicht als habe sie auf etwas Saures gebissen.

»Ich hoffe, du bist dir deines Glückes bewusst, hier ausgebildet zu werden«, wandte sich die okāsan wieder an Emi. »Ein Vorzug, den die wenigsten Mädchen in Japan genießen können.«

»Ich werde alles tun, was Sie verlangen«, sagte Emi schüchtern.

»Das ist brav. Dann fang gleich damit an, indem du nicht ungefragt redest. Und dem „Sie“ fügst du noch „Mutter“ hinzu.«

Emi schaute betroffen zu Boden und nickte nur.

»Wenn der Tag gekommen ist, an dem du sechs Jahre, sechs Monate und sechs Tage alt bist, also an deinem 2190. Lebenstag wirst du zunächst eine shikomi und ebenso wie meine kleine Riko die Gesangs- und Tanz-Übungsstätte kaburen-jō hier im hanamachi be-suchen, in dem man deine künstlerischen Fähigkeiten in Bezug auf Tanz und Musik weckt und fördert..«

Emi schaute interessiert zu dem Mädchen hinüber, dessen Name „Jasminkind“ bedeutete. In diesem Moment fand sie es ganz normal, dass Riko ihr in der Ausbildung voraus war, da sie ja etwas älter war. Dass man das Wohnviertel der Geishas hanamachi, also Blumenviertel, nannte, gefiel Emi sehr, denn es hörte sich hübsch an und machte die fremde Umgebung etwas weniger feindlich.

»Später gehst du in die „nyokoba“ Schule«, sprach die okāsan weiter, »dort findet dann deine Tanzprüfung statt. Aber bis es so weit ist, wirst du hier in der okiya mit deiner Arbeit fleißig Wattan unterstützen.« Mutter deutete auf die ältere Frau, deren Namensbedeutung aus der Heimat lautete. »So, jetzt hast du alle, bis auf meine schöne Tochter Himawari kennengelernt.« Mutter lies ihren Blick zu der Frau mit dem freundlichen Gesicht schweifen. »Auch sie ist eine höchst ehrbare und berühmte geiko, die, was den Ruhm angeht, Sakura kaum nachsteht. Ich möchte, dass du meinen Töchtern mit Respekt begegnest und sie ebenfalls mit „Sie“ ansprichst, wenn du ihnen antwortest, außer bei Riko, die nur wenig älter als du ist.«

Die okāsan klatschte in die Hände.

»So, jetzt wird der kleine Dreckspatz gebadet und anschließend ziehst du, Wattan, ihm etwas Vernünftiges an. Es wird Zeit, dass Emi aus ihren Lumpen herauskommt. Am besten, du wirfst alles gleich ins Feuer. Möchtest du noch etwas zu dir nehmen, bevor man dich zur Ruhe bettet, Emi?«

»Ja, wenn Sie so freundlich wären.«

»Wenn Sie so freundlich wären, MUTTER.«

Yumiko saß in ihrem Wohnraum und konnte es kaum erwarten, dass ihre Freundin und Mitbewohnerin, Mayumi, nach Hause kam. Mayumi arbeitete nachts in einer Bar im Kyōtoer Vergnügungsviertel. Dabei verdiente sie so gut, dass sie den Hauptteil der Miete aufbrachte. Yumiko hätte sich das teure Haus am Rande des Gion-Viertels kaum leisten können, da es aber unweit ihrer Arbeitsstätte, dem Gion Corner Theater lag, war sie froh, es so gut getroffen zu haben. Geld war ohnehin kein Thema zwischen den Freundinnen, die sich schon seit der Schulzeit kannten.

Inzwischen hatte die Küche in der unteren Etage des Hauses, die Yumiko nutzte, wieder ihr normales Aussehen angenommen. Der Spuk war schnell vorbei gewesen, aber Yumiko hatte ihn natürlich nicht vergessen können. Auch musste sie immer wieder an die Puppe im Theater denken, die ihr so viel Angst machte. Yumiko trug nämlich zum Programm des Theaters bei, indem sie eine Puppenspielerin des bunraku, einer Puppenspielkunst mit mehr als vier-hundert Jahren Tradition, war. Schon ihr Vater hatte diese Kunst ausgeübt und in seiner Tochter eine begeisterte Schülerin gefunden. Seiner Berühmtheit und Fürsprache hatte sie es zu verdanken, in das Ensemble aufgenommen worden zu sein. Denn es war ein Novum, dass auch Frauen dabei sein durften. Über die Jahrhunderte war bunraku ausschließlich von Männern präsentiert worden. Bunraku-Ken hatte diese Kunst einst in Ōsaka etabliert und sie zunächst „ningyô-jôruri“ – Puppen-Erzähl-Drama genannt. Dabei vereinten sich drei Künste in einer – Puppenspiel, Gesang und Musikbegleitung – „sanmi ittai“, die besondere Ästhetik der Aufführungen und drei Genüsse in einem.

Die etwa achtzig Zentimeter hohen Puppen trugen prachtvolle Kostüme, wobei die Puppenspieler schwarzgekleidet und maskiert waren, damit sie nicht von den Puppen ablenkten. Nur der Meister, der den Kopf und die rechte Hand der Puppen führte, trug ebenfalls prächtige Kostüme, oft mehrere über-einander, die er bei den Verwandlungen der Puppen zeitgleich abwarf. Ein zweiter Spieler bediente die linke Hand und ein dritter die Füße.

Der dramatische Text - joruri wurde dabei nicht von den Spielern gesprochen, sondern von einem oder mehreren gidayu-Sängern vorgetragen. Emotionen waren nur an deren Mimik, der Interpretation oder an Stimmvariationen abzulesen. Dazu gab es die Be-gleitung einer Langhalslaute – eines sogenannten shamisen – und untergeordneten Musikinstruments wie die „liegende japanische Harfe“ das koto, Tamburine und Klanghölzer.

In den frühen Morgenstunden traf Mayumi Tsukuda endlich ein und wunderte sich, ihre Freundin noch wach zu sehen.

»Was ist dir denn widerfahren?«, fragte sie leicht angeheitert, »ist dir ein yôkai begegnet?«

»So könnte man es ausdrücken. Als ich nach Hause kam, hatte sich das Haus ziemlich verändert, genauer gesagt meine Küche.«

Yumiko erzählte kurz von ihrem Erlebnis.

»Das ist mir auch schon passiert«, sagte Mayumi, »dass ich dachte, im falschen Haus gelandet zu sein. Meistens, wenn ich etwas zu viel getrunken hatte.«

»Mit dem Unterschied, dass ich nüchtern war.«

»Jetzt nimm das doch nicht so ernst. Vorüber-gehende Sinnestäuschungen gehören zum Leben. Kein Wunder, bei den vielen Reizen, denen wir täglich ausgesetzt sind. Unser Körper ist eben kein Automat, der immer einwandfrei funktioniert. Besonders die Augen nicht. Das siehst du schon daran, wie viele Frauen hässliche Männer heiraten, oder umgekehrt.«

»Ein bisschen ernster könntest du mich schon nehmen.«

»Tue ich doch. Was ist schon passiert? Dich hat ein Spuk genarrt, und jetzt ist alles wieder wie vorher.«

»Nicht ganz, da ist noch diese Puppe bei uns im Theater…«

»Ja, das erzählst du mir morgen. Komm, lass uns noch einen Schlummertrunk nehmen, bevor ich mich in meine Gemächer zurückziehe. Das wird dir guttun.«

»Falls du noch etwas essen möchtest, im Kühlschrank sind Sushi von der neuen Nachbarin, der Schwester der alten. Sieht etwas seltsam aus, so krumm wie sie geht und mit ihren dicken Brillengläsern.«

»Und von der soll ich etwas essen? Verzichte, wer weiß, was die da reingetan hat, wenn sie so schlecht sieht.«

Emi arbeitete fleißig und versuchte, sich an die Regeln in der okiya zu halten. Nur manchmal bekam sie den Zorn der okāsan zu spüren, wenn sie sich vorlaut oder ungeschickt verhielt. In den Nächten weinte sie oft, wollte aber durchhalten, um ihren Eltern keine Schande zu machen. Bei den geikos genoss sie noch so etwas wie Welpenschutz. Zumindest Himawari, deren Name Sonnenblume bedeutete, schaute sie nach wie vor freundlich an und streichelte ihr sogar hin und wieder die Wange, während Sakura sehr verhalten reagierte, aber wenigstens nicht schimpfte und kleine Fehler großzügig übersah.

Inzwischen hatte Emi viel über die Mitglieder ihrer neuen Familie erfahren. So war Wattan absolut keine Dienerin, davon gab es andere, die sich meist im Hintergrund hielten, sondern eine maiko, die es nie geschafft hatte, in den Stand einer geiko aufzusteigen. Ihr unterwürfiges Verhalten gegenüber der okāsan war vielmehr ein Teil ihres Wesens und zeugte von Verehrung und Dankbarkeit, dass sie all die Jahre zur Familie gehören durfte.

Mit großen Augen schaute Emi immer wieder heimlich durch einen Spalt zwischen den Schiebetüren, hinter denen Himawari und Sakura zum abendlichen Ausgehen zurechtgemacht wurden. Die Geishas verhielten sich unterschiedlich, wenn sie bemerkten, dass Emi sie beobachtete. Während Sakura sie sofort mit einer einzigen Bewegung ihrer schmalen Hand verscheuchte, winkte Himawara Emi heran und erlaubte, dass sie ihr bei der Schminkzeremonie zuschaute. Dabei gab sie auch einige Erklärungen ab.

»Das Gesicht schminkt sich eine geiko stets selbst. Weißt du woher der Name geiko kommt?«

Emi schüttelte den Kopf.

»Der Begriff Geisha, setzt sich zusammen aus gei, also Kunst oder Künste und sha - Person. Er stammt aus dem Tokyoter Dialekt. Im Hochjapanischen heißt es geigi – Künstlerin und im Kansai-Dialekt geiko – Mädchen der Kunst. Eine geiko in Ausbildung nennt man in Tokyo hangyoku, ein Halbjuwel oder oshaku, und in Kyōto und Umgebung, also auch in Ōsaka, maiko – tanzendes Mädchen«, erklärte Himawara.

»Der geiko-Beruf hat seinen Ursprung in den taikomochi oder hōkan, das waren Künstler bei Hofe, und wurde früher nur von Männern ausgeübt. Als ab dem 17. Jahrhundert auch Frauen den Beruf ausübten, nannte man sie noch onna geiko – weibliche Geisha.«

Emi hätte Himawara noch stundenlang zuhören können, denn sie wollte alles erfahren, was es über den Beruf zu wissen gab, den sie einmal ausführen sollte. Die geiko begann jetzt, mit Hilfe eines Pinsels aus einer Schale eine weiße Paste auf ihr Gesicht aufzutragen.

»Das ist oshiroi“, sagte sie, »dieses Make-up soll das Kerzenlicht reflektieren, um das Gesicht einer geiko besonders strahlend erscheinen zu lassen.«

Danach umrandete sie ihre Augen mit wenig Schwarz und schminkte die Winkeln zart rosa bis rot. Die abrasierten Augenbrauen ersetzte sie durch einen ebenfalls schwarzen, kunstvoll aufgemalten Bogen, und zum Schluss legte sie Lippenrot auf.

»Achte darauf, dich nie zu grell zu schminken, denn du bist schließlich keine Kurtisane - oiran. Je älter eine geiko wird, desto dezenter sollte sie geschminkt sein, um mit ihrer Kunst Aufmerksamkeit zu erregen, und nicht mit ihrer Schönheit. Aber das trifft für dich ja noch lange nicht zu, und für Sakura und mich auch noch nicht«, lachte Himawara, »wir beide stehen schließlich in der Blüte unseres jungen Lebens.«

Erstaunt stellte Emi fest, dass die kunstvoll geschlungenen Frisuren der Geishas, katsura genannt, Perücken waren, deshalb konnte sie auch nicht begreifen, warum sie ihre Haare wachsen lassen sollte. In die Perücke wurde Haarschmuck, kanzashi gesteckt. Kanzashi bestanden aus lackiertem Holz, Bakelit, vergoldetem und versilbertem Metall, Gold, Schildpatt oder Seide. Das Material und die Tragweise deuteten auf den Status einer Geisha hin.

»Wenn gleich der Ankleider - otokoshi kommt, muss ich dich hinausschicken«, sagte Himawara, »damit er seine schwierige Arbeit ungestört verrichten kann. Friseure und Perückenmacher, Kalligrafie- und Musik-lehrer sind neben Ankleidern und Kimono-Schneidern die einzigen Männer, denen der Zutritt zu einer okiya gestattet wird, weißt du? Die Seidenkimonos werden in einem speziellen Raum gelagert. Neben denen aus dünner Seide gibt es auch wattierte, die von November bis März getragen werden. Eine geiko trägt immer einen Kimono in gedeckten Farben, vorzugsweise einen schwarzen, während die der maikos hauptsächlich rot sind. Es ist eine große Kunst, als otokoshi den richtigen Kimono auszuwählen, da er auf die Jahreszeit und den Anlass abgestimmt werden muss. Eine geiko muss in jeder Hinsicht perfekt und vollkommen ästhetisch sein, auch ihr Äußeres, deshalb muss der otokoshi genau ihre Figur kennen, damit alles richtig sitzt und ihr keine Schmerzen bereitet werden. Wenn das Kimono-Motiv und die Accessoires nicht zur Jahreszeit passen, ist es seine Schuld. Zwischen geiko und otokoshi herrscht großes Vertrauen. Er ist mehr ein Freund als ein Angestellter, aber das wirst du später noch merken.«

Das Anlegen des Kimonos konnte bis zu einer Stunde dauern, stellte Emi fest, denn die Stoffbahnen waren bis zu sieben Meter lang. Über den Unterkimono, den nagajuban wurde ein weißer Kragen, eri, gelegt und darüber erst der eigentliche Kimono. Auf dem Rücken bildete der herunter gezogene Kragen eine Art hinteres Dekolleté, damit man das Muster aus drei Zacken gut sehen konnte. Das Make-up im Nacken erstellte die Geisha mit Hilfe eines Spiegels auch selbst. Die Zacken ergaben sich aus freigelassenen Hautpartien, die nicht mit der weißen Paste bedeckt waren und in eine feine Spitze ausliefen. Das einzige bisschen Haut, das eine Geisha überhaupt zeigte.

Wenn sie schließlich auf Holzsandalen, den getas, die okiya verließ, wurde das Geklapper nur noch von den Rädern der Rikscha übertönt, die vor dem Eingang wartete, um die Geishas zu ihren Kunden zu bringen.

Am frühen Nachmittag saßen Yumiko und Mayumi, die noch etwas zerknittert aussah, wieder zusammen in der unteren Küche.

»Ich mache mir so langsam Sorgen um dich«, sagte Mayumi, »du bist weiß wie eine Wand und hast Ringe unter den Augen.«

Yumiko wollte erwidern, dass ihre Freundin auch nicht gerade taufrisch aussah, schluckte es aber herunter. Sie war schon an den Anblick gewöhnt, den Nachtarbeiter offensichtlich gemeinsam hatten.

»Was war das mit der Puppe, die du gestern nebenbei erwähnt hast?«

»Sie macht mir Angst. Zum Glück muss ich sie nicht selbst bedienen, aber allein die Tatsache, dass sie im Raum ist…«

»Was ist mit ihr? Grinst sie dich an oder schnappt sie nach dir?«

»Nein, aber ich könnte jeden Eid schwören, dass sie mir schon einmal zugezwinkert hat. Außerdem werden mit der Zeit ihre Haare immer länger.«

»Das erinnert mich an die Legende der besessenen Puppe im mannenji Tempel auf Hokkaido. Hast du kürzlich etwas darüber gelesen?«

»Nein, und früher hat mein Vater solche Ge-schichten von mir fern gehalten, wohl aus gutem Grund.«

»Also pass auf! Es soll sich um den Geist von Suzuki Kikuko, handeln, die nur drei Jahre alt geworden ist. Ihre Lieblingspuppe hieß Okiku Chan. Statt sie mit Suzuki zusammen zu beerdigen, hat man die Puppe auf den Familienaltar gestellt. Suzukis Bruder Eikichi hat dort oft mit ihr gespielt. Als er zum Militär eingezogen wurde, übergab er die Puppe vorher einem Mönch des Mannenji Tempels, der sie verwahren sollte. Als er später zurückkehrte, stellte er fest, dass ihre Haare gewachsen waren. Seitdem muss man angeblich alle zehn Jahre ihre Haare schneiden und einigen Tempelbesuchern soll sie zugezwinkert haben.«

»Dafür, dass du dich für solche Dinge nicht sonderlich interessierst, weißt du aber gut Bescheid.«

»Was heißt nicht sonderlich interessieren? Du warst halt immer diejenige von uns beiden, die in der mystischen Welt mehr verhaftet war, aber deshalb bin ich davon nicht gänzlich unbeleckt. Die meisten japanischen Kinder wachsen mit diesen Geisterge-schichten auf. Weißt du noch, wie du dich geweigert hast, in der Schule auf die Toilette zu gehen?«

»Ich wusste, dass du damit anfangen würdest. Das war nur, weil die Mädchentoilette in unserer Schule auch im dritten Stock lag. Und du und deine Freundinnen habt ja laut genug von der yūrei Toire no Hanako geplappert. Die sollte eben im dritten Stock in der dritten Kabine der Mädchentoilette als Geist umgehen, falls du dich erinnern kannst. Man durfte nicht einmal an die verschlossene dritte Kabinentür klopfen, um Hanakos Zorn nicht heraufzubeschwören und an Ort und Stelle von ihr erwürgt zu werden.«

»Ich hielt das immer für ausgemachten Blödsinn und habe mich halbtot darüber gelacht.«

»Ich weiß, kaum vorstellbar, dass wir irgendwann so gute Freundinnen geworden sind…«

»Gegensätze ziehen sich an, eine alte Weisheit. Ich musste eben erst etwas reifer werden, um dich zu respektieren wie du bist. Ich fand es sogar ziemlich aufregend, dass du einen etwas anderen Zugang zu dieser Welt hattest.«

»Aha, es hat dir gefallen, eine Art Wundertier als Freundin zu haben.«

»Vielleicht, aber ich habe es bis heute nicht bereut.«

»Danke. Das war damals eine schlimme Zeit für mich. Ich habe nächtelang nicht geschlafen und mir mehr als einmal fast in die Hose gemacht, weil ich in der Schule nicht auf die Toilette gehen wollte. Und die Tatsache, dass mir ein Junge aus meiner Klasse die noch grausamere Variante der Geschichte erzählte, hat alles noch schlimmer gemacht. Du weißt doch, wo Hanako von einem der Mädchen einen roten Umhang haben will. Wer ihr keinen gibt, dem reißt sie mit einem Ruck die Haut herunter, als Ersatz sozusagen.«

»Liebchen, die Legende macht seit über sechzig Jahren Schulmädchen Angst. Du warst also gewiss kein Einzelfall. Man ist sich nur über die Entstehungsgeschichte uneinig. Einmal heißt es, dass Hanako im 2. Weltkrieg Schutz vor den Bomben in der Schultoilette suchte und verschüttet wurde. Ein andermal sie sei ein sexuell missbrauchtes und danach ermordetes Schulmädchen gewesen. Und yūrei sind eben weibliche Rachegeister, das weiß inzwischen auch die westliche Welt, spätestens seit dem Film „Ringu“. Selbst Hollywood konnte es nicht lassen, eine Version namens „Ring“ zu erstellen, einschließlich Teil zwei.«

Die Erzählungen von yūrei-Rachegeistern waren mit wachsender Popularität buddhistischer Lehren entstanden. Ausgehend von der Idee, dass starke Emotionen wie Liebe und Hass die Seelen Verstorbener an das Diesseits binden. Frauen waren in der konfuzianischen Gesellschaftsordnung den Launen der Männer nahezu rechtlos ausgeliefert, deshalb verwunderte es nicht, dass die yūrei in den Geschichten fast ausschließlich weiblich waren. Sie trugen ihr langes schwarzes Haar strähnig und ungepflegt über dem Gesicht und waren in weiße Hemden, ähnlich einem Toten-Gewand gekleidet. Ihre Hände wirkten wie ausgerenkt baumelnd an ihren Handgelenken. Filme wie „Ringu“ oder „Ring“ hatten diese Darstellung übernommen.

»Und was die Puppe im Theater angeht«, schloss Mayumi ihre Ausführungen ab, »beachte sie einfach nicht oder nimm eine Schere und schneide ihr die Haare.«

»Der Meister wäre begeistert«, sagte Yumiko kopfschüttelnd, »das wäre wohl das Ende für mein Engagement im Gion Corner Theater.«

Endlich war die Zeit gekommen, Emi war nun eine „shikomi“. Sie durfte einen einfachen grauen Kimono und ihre Haare zu zwei Zöpfen geflochten oder zurück-gebunden tragen. Der unangenehme Teil war, dass sie darauf zu warten hatte, bis die Geishas von ihren Banketten zurückkehrten, um ihnen zur Verfügung zu stehen, falls sie noch etwas brauchten. Das konnte erst in den frühen Morgenstunden sein. Oftmals bekam Emi nur wenige Stunden Schlaf, denn sie durfte nun auch die Gesangs- und Tanzübungsstätte kaburen-jō besuchen und musste das Pensum bewältigen. Sie lernte, dass die Bewegungen sehr langsam sein und sich zum Boden hin richten mussten. Dabei gab es feste Muster, „kata“ genannt, die zusammen ein komplettes Stück bildeten. Schon nach den ersten Stunden ahnte Emi, dass harte Arbeit auf sie zukommen und die Ausbildung Jahre dauern würde, denn man musste sich mit den Schritten völlig identifizieren, sie mussten einem förmlich in Fleisch und Blut übergehen. Obwohl das von der Lehrerin übermittelte Wissen „mane“ - Imitation genannt wurde, durfte der traditionelle japanische Tanz keineswegs nur einfaches Nachahmen sein. Die Tanzprüfung würde dann in der „nyokoba“ stattfinden, wie schon die okāsan berichtet hatte. Aber dann würde Emi schon eine Lernmaiko, auch „minarai“ genannt, sein und dürfte sich danach Berufstänzerin nennen.

»Es gibt zwei Worte im Japanischen für Tanz - mai und odori, führte die Lehrerin aus, »die odori-Tänze werden zu frohen und traurigen Anlässe aufgeführt und dürfen von jedem auf japanischen Festen getanzt werden. Von den mai-Tänzen gibt es wiederum drei Arten, die nur von darin Ausgebildeten getanzt werden dürfen. „Mikomai“ sind die Weihetänze der Dienerinnen eines shintou-Schreins, die als Gabe an die heiligen Götter aufgeführt werden, „bugaku“ die Tänze des Kaiserhofes und „nō mai“ die Tänze des Nō-Dramas. Der Tanzstil der maikos und Geishas ist „mai“ und geht auf „nō mai“ zurück.«

Emi konnte nicht genug erfahren und war fest entschlossen, allen Anforderungen zu genügen und alle Prüfungen erfolgreich abzuschließen, um eine anmutige und geachtete geiko werden zu können.

Lotus im Wind

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