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Kapitel 3

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Im Gion Corner Theater war das klassische japanische Puppentheater bunraku, bei dem Yumiko mitwirkte, nur ein Teil des eineinhalbstündigen Programms, das die sieben beliebtesten darstellenden Künste von Kyōto thematisierte. Daneben gab es noch die klassische Komödie kyōgen - wörtlich: „verrückte Worte“ oder „wilde Sprache“, eine komische Form des traditionellen japanischen Theaters mit dem Hauptziel, das Publikum zum Lachen oder zum Schmunzeln zu bringen. Dabei waren von der Tradition her alle Schauspieler Männer, auch in weiblichen Rollen, wie beim und kabuki. Der kyōmai-Teil, auch Kyōto Style Dance genannt, gab jungen maikos und Geishas Gelegenheit, ihre Tanzkünste zu zeigen. Weiterhin gehörten noch die Musik des kaiserlichen Hofes - gagaku, koto, Ikebana und die berühmte Teezeremonie zum Programm.

Yumiko stand noch unentschlossen in der Seitengasse der Bühne und lauschte den koto-Klängen, als ihr Kollege Haruko sie dort entdeckte.

»Nanu, hast du keine Lust auf Feierabend?«, fragte er lächelnd.

»Schon, aber nicht so sehr auf das leere Haus. Meine Freundin und Mitbewohnerin, Mayumi, kommt nicht vor morgen früh.«

»Ängstigt dich dort etwas? Wirst du verfolgt oder bedroht?«, flüsterte Haruko.

Yumiko schüttelte den Kopf. »Es ist nichts Greif-bares.«

»Komm, lass uns draußen weitersprechen.«

Draußen auf dem Hof atmete Yumiko tief durch. »Halt mich bitte nicht für überspannt, aber im Moment fühle ich mich nirgends sehr wohl. Nicht einmal bei den Puppen. Halt, nein, das ist ungerecht, es ist nur eine, die mich ängstigt, weil ihr Haar mehr und mehr zu wachsen scheint. Und komme mir jetzt bitte nicht mit der Puppe Okiku Chan aus dem mannenji Tempel, damit hat mich Mayumi schon aufgezogen.«

»Nein, ich verspotte dich bestimmt nicht. Warum soll es in ganz Japan nur eine solche Puppe geben? Ich weiß genau welche du meinst, die mit dem leuchtend roten Kimono, nicht?«

»Dann hast du es auch bemerkt?«

»Ja, ich habe sogar den Meister darauf angesprochen, aber der meinte, ich solle weniger Gruselgeschichten lesen. Wenn du mich fragst, war ihm die Sache etwas peinlich.«

»Hast du sonst etwas bemerkt? Ich meine, du bist doch einer von denen, die die Puppe führen.«

»Nein, sie scheint eine von den Guten zu sein. Jedenfalls hat sie mich bisher noch nicht in die Hand gebissen.«

Yumiko musste schmunzeln. Ihr war gleich viel wohler, nicht mehr die Einzige zu sein, die etwas bemerkt hatte.

»Na, siehst du, lächelnd siehst du gleich viel hübscher aus. Apropos, wenn du heute eh nichts vorhast, kannst du mich ins minami-za begleiten. Ein Freund, der dort mitwirkt, hat mir zwei Freikarten zukommen lassen. Na, wie wär’s? Einmal auf der anderen Seite des Zuschauerraums zu sein, wird dir guttun.«

»Ja, gern, ich habe schon lange kein kabuki-Theater mehr besucht. Kunststück, es gibt ja nur noch das eine in Kyōto.«

Das traditionelle Bühnentheater kabuki war in Japan noch immer sehr beliebt. Einmal, weil es neben der Darstellung auch Musik und Gesang bot, aber besonders, weil es nach wie vor ausschließlich von Männern aufgeführt wurde. Das war einmal anders gewesen, denn 1603 hatte eine Tempeltänzerin, namens Okuni, im trockenen Flussbett von Kyōto eine neue Art von Tanztheater erfunden, woraufhin weibliche Darsteller im alltäglichen Leben spielende Szenen aufführten. Dabei stellten sie auch die männlichen Rollen dar. Weil die Darstellung oft etwas derb und zweideutig erschien, verbannte man ab 1629 alle Frauen von der Bühne, um die öffentliche Sittlichkeit nicht zu gefährden. Wegen der großen Beliebtheit des kabuki spielten fortan Männer alle Rollen, bis heute. Als typisches Merkmal galt weiterhin eine Art Laufsteg von der Bühne durch das Publikum, womit ein engerer Kontakt zu den Darstellern hergestellt wurde. Diesen Steg nannte man hanamichi, also Blumenweg, im Gegensatz zum Geisha-Viertel hanamachi – Blumenstraße oder -Viertel. Von den sieben kabuki-Bühnen im 17. Jahrhundert in Kyoto war nur das minami-za Theater erhalten geblieben.

Während der Vorstellung war Yumiko dann ebenso von der Anmut und Grazie der männlichen Darsteller, die Frauenrollen spielten, beeindruckt wie die vielen ausländischen Besucher. Deshalb konnte sie es kaum erwarten, Harukos Freund gegenüber zu stehen, und war dann sehr überrascht, dass der seinem Namen alle Ehre machte, denn Ikuo Wakahisa bedeutete: „für immer jung bleibender, duftender Mann“, während Haruko lediglich für Erstgeborener stand. Ikuo wirkte, als er in seiner normalen Kleidung vor ihr stand in keiner Weise effeminiert, sondern war vielleicht nur etwas hübscher als andere junge Männer, und seine weichen Gesichtszüge verliehen ihm etwas Edles. Yumiko war vom ersten Moment an von ihm fasziniert, und das lag nicht allein daran, dass sie ihn zuvor in der Rolle einer anmutigen Frau gesehen hatte. Der Blick seiner schönen Augen ruhte öfter auf ihr, und Yumiko fühlte ein angenehmes Kribbeln, das sie etwas verwirrte.

Ikuo schlug vor, noch etwas essen zu gehen. Er hatte auch gleich ein passendes Restaurant parat, ein Geheimtipp sozusagen. Dort bekam man auch noch um diese Uhrzeit ein Mahl serviert, und es war bei Touristen gänzlich unbekannt. Bevor sie sich auf den Weg machten, entschuldigte sich Ikuo für einen Moment und sprach mit einem jungen Mann, der in einiger Entfernung auf ihn wartete. Yumiko und Haruko sahen, wie das anfangs ruhige Gespräch zwischen den beiden immer turbulenter wurde und der Fremde schließlich wild gestikulierte, bis Ikuo ihn einfach stehen ließ.

»Ärger?«, fragte Haruko, als Ikuo zurückkam.

»Nicht wirklich, mein Kollege hat sich den Verlauf des weiteren Abends etwas anders vorgestellt, das ist alles.«

»Warum hast du ihn nicht mitgebracht?«

»Weil ich heute mit euch zusammen bin«, war die knappe Antwort Ikuos. Deshalb ließ es Haruko darauf beruhen.

Beim Essen erwies sich Ikuo als charmanter Gesprächspartner, und es schien, als habe er den peinlichen Vorfall längst vergessen.

»Eigentlich müsste ich dir böse sein, dass du mir deine entzückende Freundin bisher vorenthalten hast«, sagte er lächelnd.

»So oft sehen wir uns schließlich nicht«, erwiderte Haruko, »außerdem muss ich leider zugeben, dass Yumiko nur meine Kollegin ist.«

»Ah, Sie sind auch Puppenspielerin? Das kleine Mädchen will also auch noch als erwachsene Frau mit Puppen spielen.«

»Das liegt bei uns in der Familie. Mein Vater war berühmt in dieser Hinsicht.«

»Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, mein Lieber«, sagte Haruko grinsend, »sonst müsste man dich fragen, was einen gestandenen Mann dazu veranlasst, sein Brot in Frauenkleidern zu verdienen.«

»Das ist ganz einfach, ich bin beides, im Leben der Mann und auf der Bühne die Frau. Schon als Kind habe ich mit Vorliebe die Sachen meiner Schwester angezogen und mich mit der Zeit in die Rolle eingelebt.«

»Und das machen Sie großartig«, sagte Yumiko, »so manche Frau könnte sich da eine Scheibe von abschneiden, was die Grazie und den Anmut Ihrer Bewegungen angeht.«

»Danke, das Lob eines weiblichen Menschen ehrt mich besonders.«

»Das nennt man „fishing for compliments“, du kabuki-Star«, zog Haruko Ikuo auf, »dabei bekommt er täglich Dutzende solcher Komplimente.«

»Trotzdem kommt es immer darauf an, wer etwas sagt«, fügte Ikuo hinzu und sah dabei Yumiko offen in die Augen. »Sie sind aber nicht in der Kaiserstadt geboren, Yumiko, nicht wahr? Denn ich höre bei Ihnen keine Anzeichen von Dialekt, weder die vornehme Variante des Kyōto-Dialekts kansai, noch eine weitere Abstufung der japanischen Höflichkeitssprache keigo

»Nein, ich komme aus Yokohama und lebe noch nicht so lange hier.«

»Und ist es Ihnen gleich gelungen, eine hübsche Wohnung zu finden?«

»Ja, ich bewohne mit einer Freundin zusammen ein Haus in Gion, ganz in der Nähe des Gion Corner Theaters.«

»Soso, zu den maikos und geikos hat es Sie gezogen…«

»Nicht unbedingt, es war mehr ein Zufall, aber ich bewundere die Kunst der Geishas sehr. Ich schaue ihnen oft bei ihren Tänzen bei uns im Theater zu. Und die Kunst des Ikebana und die Teezeremonie beherrschen sie vollendet.«

»Wären Sie selbst gerne eine Geisha geworden?«

»Ich glaube nicht. Jedenfalls habe ich nie darüber nachgedacht, vielleicht, weil mir die Ausbildung zu lang und zu kompliziert ist und ich mich nicht so sehr zur Dienerin eigne. Außerdem kann ich nicht gut singen, und ob meine Schönheit ausgereicht hätte…«

»Jetzt fängst du auch noch an mit dem „Fishing«, lachte Haruko, »das ist wohl ansteckend.«

»Ja, ich finde auch«, pflichtete ihm Ikuo bei, »wegen der Schönheit hätten Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Und heute sind die Sitten auch nicht mehr so streng. Die Ausbildung erstreckt sich nicht mehr von der Kindheit bis über die gesamte Jugendzeit. Früher durften Geishas nicht einmal heiraten und lebten nur für ihren Beruf. Wisst ihr, dass es auch männliche Geishas gibt?«

»Womit wir wieder beim Thema wären«, scherzte Haruko, »außerdem gibt es wohl heute nichts mehr, was es nicht gibt.«

»Nein, wirklich, ich habe von einer aus Tokyō gelesen. Der Sohn einer Geisha hat sich von seiner Mutter in die Kunst einweisen lassen und übt sie heute selbst aus. Damit ist er übrigens nicht der Einzige. Es hat schon früher männliche Geishas gegeben, da nannte man sie noch taikomochi, eine Art Hofnarren, sie sangen, erzählten Geschichten und Witze und führten kleine Zaubertricks und Kunststücke auf. Als Narren, ähnlich denen an den Fürstenhöfen der europäischen Länder, konnten sie sich sehr derbe Späße erlauben, denn sie genossen die sprichwörtliche Narrenfreiheit.«

»Das wäre doch etwas für dich gewesen«, sagte Haruko lächelnd.

»Ich weiß, aber ich bin ganz zufrieden beim kabuki. Die Kunst besteht in der Andeutung, und nicht immer im Aussprechen.«

»Hört, hört.«

»Wenn Sie noch nicht so lange hier wohnen, Yumiko, haben Sie vielleicht noch nicht alle Tempel und shintō-Schreine unserer ehemaligen „kaiserlichen Residenz“ besichtigt. Ich bin kein schlechter Fremdenführer und hätte großes Vergnügen, Sie etwas herumzuführen.«

»Hört, hört.«

»Ich glaube, die Platte hat einen Sprung, Haruko, du solltest sie auswechseln.«

So wurde den Rest des Abends noch heiter geplaudert und die eine oder andere Spitze geworfen. Yumiko ging vieles im Kopf herum, als sie zu Hause ankam. Der Charme Ikuos hatte bei ihr seine Wirkung getan, deshalb hatte sie die Einladung zu einer kleinen Stadtführung angenommen. Auch fragte sie sich, warum es zwischen ihr und Haruko niemals gefunkt hatte, vielleicht, weil er nicht unbedingt ihr Typ war? Denn zum ersten Mal hatte sie bei ihm so etwas wie Eifersucht bemerkt, weil Ikuo sich offensichtlich für sie interessierte. Dabei hatte er zuvor nie die Gelegenheit genutzt, ihr näher zu kommen, obwohl eine engere Verbindung unter Kollegen nahe gelegen hätte. Die Gespräche über längst vergangene Zeiten und vor allem über die Geishas wirkten noch in ihr nach. Deshalb wäre es nur folgerichtig gewesen, was sie anschließend erlebte, wäre es nicht so bizarr gewesen.

Aufgekratzt wie nach einer intensiven Vorstellung wollte sie noch ein paar Seiten in einem Buch lesen. Eines, das sie Mayumi geborgt und noch nicht zurückerhalten hatte, deshalb ging Yumiko in die obere Etage, und nachdem sie es im Wohnraum nicht gefunden hatte, sah sie auch in Mayumis Schlafzimmer nach. Sie konnte es nicht glauben, als sie dort eine Geisha vorfand, die abgesehen davon, dass sie dort nichts zu suchen hatte, einen schaurigen Anblick bot.

Emis Kinderzeit ging langsam zu Ende. Sie wurde jetzt eine Lernmaiko - minarai wie zuvor schon Riko, mit der sie mittlerweile eine tiefe Freundschaft verband, die inzwischen eine maiko geworden war, und nun Takara hieß. So war also aus dem „Jasminkind“ sehr passend ein „Schatz“ geworden. Sie halfen sich gegenseitig beim Erlernen der Tanzschritte und Bewegungen und übten zusammen das shamisen-Spiel. Nur in einem Punkt waren sie sich nicht einig. Während Emi sich mehr zu Himawari hingezogen fühlte, schenkte Takara ihre Liebe und Aufmerksamkeit mehr Sakura. Takara ging sogar so weit, Himawari als eine falsche Schlange zu bezeichnen, natürlich nur flüsternd hinter vorgehaltener Hand. Irgendwann würde Emi noch den Beweis dafür erhalten, meinte sie.

Der Begriff „minarai“ bedeutete „Lernen durch Beobachten“, mi von miru – sehen, narai von narau –lernen. Emi durfte jetzt die Geishas Sakura und Himawari und die kleine maiko Takara zu abendlichen Banketten begleiten. Dort sollte sie nur allein vom Zusehen und Zuhören gute Konversation und richtiges Benehmen erlernen, um es später selbst zu beherrschen. Zu diesem Zweck bekam sie die entsprechende Kleidung und ihre erste maiko-Frisur, wareshinobu genannt. Emis Freude, von einem traditionellen Meisterfriseur frisiert zu werden, verflog schnell, als sie erkannte, wie schmerzhaft diese Prozedur war. Beim Glätten ihres Haares mittels heißen Zangen flossen sogar Tränen. Die bintsuke-abura Paste verlieh dem Haar einen starken Glanz und diente dazu, dass die Frisur länger hielt. Um noch mehr Volumen entstehen zu lassen, wurde noch ein ketabo-Haarteil eingearbeitet. Das zu einem Dutt hochgenommene Haar wurde dann um ein rotes Seidenband drapiert, das ein Muster aus feinen weißen Punkten, kanoko genannt, enthielt. Die fertige Frisur zierte der typische Haarschmuck einer maiko - kanzashi, wobei die Blüten der kanzashi-Haarnadeln - hana-kanzashi sich, ebenso wie das Kimono-Motiv, nach Monat und Jahreszeit richteten.

Zur Unterscheidung einer minarai gegenüber einer maiko, die ebenso die wareshinobu-Frisur trug, diente der jeweilige Kimonogürtel - obi. Der obi einer minarai wurde handarari-obi genannt, wobei han die Hälfte bedeutete, denn die lang herunterhängenden Enden waren um die Hälfte kürzer als beim darari-obi einer maiko, der in etwa sieben Meter lang war.

Schlimmer noch als die Zangen war, dass Emi etwa fünf Tage bis zur nächsten Frisur auf einem taka-makura schlafen musste. Ein taka-makura oder hako-makura war ein lackiertes Holzstück mit einem schmalen Fuß und einem kleinen Kissen, auf dem man nur mit dem Nacken liegen konnte. Mehr als einmal kam es vor, dass Emi mit dem Kopf auf dem Fußboden liegend erwachte und für ihre beeinträchtigte Frisur von der okāsan gescholten wurde.

Emis erster öffentlicher Auftritt fand in einem Teehaus - chaya statt, der zweite in einem traditionellen japanischen Lokal - ryōtei. Emi nahm an, dass die Buchung bei einer „Geisha-Agentur“, einem kemban erfolgt war, die für die Organisation der Termine und die Verwaltung der Zeitpläne für Auftritte und Ausbildung zuständig war. Es konnte aber auch sein, dass die okāsan persönlich für die Auftritte gesorgt hatte, denn außer, dass sie über die Kosten für die Aus-bildung, der Kimonos, der Accessoires und die sonstigen Lebenshaltenskosten genau Buch führte, machte sie sich fast täglich auf den Weg, um ihre Beziehungen aufrecht zu erhalten. Dabei erwies sie den Besitzern der Einrichtungen Dank und Respekt. Die Arbeitszeit einer Geisha und die damit verbundenen Kosten wurden traditionell durch die Brenndauer bestimmter Räucherstäbchen festgelegt. Deshalb war der Begriff Räucherstäbchengebühr - senkōdai entstanden.

Die Veranstaltung im Teehaus begann mit der Teezeremonie. Dabei verfuhren Geishas ganz im Sinne eines berühmten Zitates. Die Antwort eines Meisters auf die Frage seines Schülers lautete:

Bereite eine köstliche Schale Tee; lege die Holzkohle so, dass sie das Wasser erhitzt; ordne die Blumen so, wie sie auf dem Feld wachsen; im Sommer rufe ein Gefühl von Kühle, im Winter warme Geborgenheit hervor; bereite alles rechtzeitig vor; stelle dich auf Regen ein, und schenke denen, mit denen du dich zusammenfindest, dein ganzes Herz.“ (Zitat Ende)

Schon der Beginn der Teezeremonie glich einem Ritual. Die geladenen Gäste wandelten auf einem Gartenpfad, namens roji, der die erste Stufe der Erleuchtung symbolisierte. Mit dem Abstreifen des Alltags sollte man sich auf die folgende Teezeremonie vorbereiten. Anschließend nahmen die Gäste in einem Warteraum Platz und wurden vom Gastgeber oder der Geisha mit heißem Wasser begrüßt, dasselbe das später zur Bereitung des Tees verwendet wurde. Dann gingen sie auf den Gartenpfad zurück, um auf einer Wartebank in einem offenen Pavillon, dem sogenannten machiai Platz zu nehmen. Derweil füllte der Gastgeber frisches Wasser in ein Wasserbassin aus Stein, legte eine Schöpfkelle bereit und verschwand wortlos im Teeraum. Jeder reinigte sich nun Mund und Hände, um Übles, das gesagt oder getan worden war, symbolisch abzuwaschen. Dann betraten sie nacheinander den Teeraum - chashitsu, in den man durch einen nur knapp einen Meter hohen Kriech-Eingang - nijiriguchi gelangte. Bei Nichtvorhandensein eines Kriech-Eingangs wie im ryōtei ließen sich die Gäste beim Betreten des Raumes auf die Knie nieder, um Demut und Respekt zu zeigen und gesellschaftliche Unterschiede an der Schwelle abzulegen. Es folgten mehrere Gänge - kaiseki leichter Speisen, Suppen, sauer eingelegtes Gemüse und Reis, zu denen sake - Reiswein gereicht wurde.

Emi glühte vor Aufregung und bemühte sich, nicht über Gebühr aufzufallen. Ein vergebliches Unter-fangen, denn trotz ihrer noch kindlichen Züge konnte man erkennen, dass da eine Schönheit heranwuchs. Das bemerkten die männlichen Gäste sofort und schenkten ihr bewundernde Blicke. In ihrer bescheidenen Art war sie nicht eingebildet, aber es kam eine leise Ahnung in ihr auf, dass sie eines Tages mehr Aufmerksamkeit als Takara bekommen würde, vielleicht sogar mehr als die Gheishas Sakura und Himawari.

Sakura war eine kluge und charmante Gesprächspartnerin, wie Emi fand. Sie wirkte interessiert an ihrem Gegenüber, drängte sich aber nicht mit allzu sehr ins Detail gehende Fragen auf. Sie war eine wahre Meisterin der Konversation und beherrschte die Regeln der Etikette einwandfrei. So bewahrte sie selbst Haltung, wenn einer der Kunden etwas anzüglich wurde. Emi war es nicht erlaubt, sich am Gespräch zu beteiligen und selbst Takara übte sich in Zurückhaltung, hing aber förmlich an den Lippen von Sakura. Zum ersten Mal konnte Emi nachvollziehen, woher die Bewunderung für Sakura stammte, denn die Geisha verhielt sich in der Öffentlichkeit so ganz anders als in der okiya. Bei Himawari war der Unterschied nicht so groß, aber trotzdem musste Emi anerkennen, dass auch sie ihre Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit erfüllte. Ihr feines Lächeln, ihre anmutigen Bewegungen und vor allem ihre gepflegte Konversation ließen vergessen, dass Sakura sie an Schönheit übertraf.

Nach dem kaiseki gingen die Gäste erneut in den Warteraum, bis sie nach fünfmaligem Ertönen eines Gongs in den Raum, der für die Teezeremonie vorgesehen war, zurückgebeten wurden. Der letzte Gast schloss die Tür mit einem leisen Geräusch, das Zeichen für die Geisha mit den Vorbereitungen zu beginnen. Erst jetzt trug sie die noch fehlenden Teeutensilien in den Teeraum, wo sie nach einem bestimmten Muster angeordnet wurden, um praktische und harmonische Bewegungsabläufe zu ermöglichen.

Bei der Teezeremonie waren beide Geishas gleich geschickt, wie Emi fand. Im Verlauf des Abends war sie sehr erstaunt, dass es zwischen Himawari und Sakura eine Art Aufgabenteilung gab, denn während Sakura tanzte, sang Himawari und spielte shamisen, tanzte selbst aber nicht. Auch wunderte Emi sich, dass die Geishas keinen Bissen zu sich nahmen. Von Takara erfuhr sie dann später, dass es einer maiko oder Geisha bei Banketten nicht erlaubt sei, am Essen teilzunehmen, da sie ausschließlich der Unterhaltung der Gäste dienten. Einzige Ausnahme war, wenn eine Geisha durch einen Kunden in ein Restaurant eingeladen wurde. Weiterhin klärte Takara Emi darüber auf, dass es zwei Arten von Geishas gab - tachikata und jikata genannt. Dabei war die tachikata die ausgebildete Tänzerin, beherrschte aber daneben auch das shamisen, die hayashi-Flöte und die tsutsumi-Handtrommel. Auch sie hatte einst ihr Debüt als maiko, konzentrierte sich aber unter Umständen darauf, eines dieser Instrumente meisterhaft zu spielen, wenn sie eine nicht so begabte Tänzerin war. Wohingegen eine jikata eine verkürzte Ausbildung genossen, ihr Debüt erst im fortgeschrittenen Alter gehabt hatte und nicht wie eine tachikata besonders schön sein musste. Takara vermutete, dass es bei Himawari nicht zu einer tachikata gereicht hatte und sie in Wahrheit „nur“ eine jikata war. Aber darüber dürfe Emi niemals ein Wort verlieren, beschwor sie Takara, um nicht selbst in Teufels Küche zu kommen oder der Freundin eine Menge Ärger einzuhandeln.

Yumiko saß mit Mayumi in ihrer Küche, um gemein-sam zu frühstücken. Dass es schon später Mittag war, störte keine von beiden, da sie jeden Abend noch aktiv waren, wenn andere Leute sich schon zur Ruhe begaben.

»Du siehst müde aus«, sagte Mayumi, »was hast du gestern Abend gemacht, dich ins Nachtleben gestürzt?«

»So in etwa. Mein Kollege Haruko hat mich ins minami-za eingeladen, und da er mit einem der Dar-steller befreundet ist, sind wir anschließend zusammen essen gegangen.«

»Dann ist dein Kollege also schwul?«

»Wie kommst du darauf?«

»Na, ich zähle eins und eins zusammen. Im minami-za Theater wird doch kabuki gespielt, bei dem die Frauenrollen von Männern verkörpert werden, also denke ich, wer auf der Bühne die Frau ist, wird es auch im Privatleben sein. Und wenn Haruka mit ihm befreundet ist…«

»Wie schön, dass du keine Vorurteile hast. Ich kann mir kaum vorstellen, dass alle kabuki-Darsteller schwul sind. Haruko ist es jedenfalls nicht, und sein Freund Ikuo gewiss auch nicht, denn er hat mit mir geflirtet.«

»Dann verstehe ich nicht, warum du so ein Gesicht machst. Ist dir das Essen nicht bekommen?«

»Eher das, was danach kam. Genauer gesagt das, was mich hier erwartet hat. Ich habe an deinem Schlafzimmerfenster eine Geisha gesehen.«

»Wir leben hier am Rande eines der berühmtesten Geisha-Viertels, Schatz. Was hast du erwartet, einen Samurai?«

»Nein, aber vielleicht kommt das auch noch. Außerdem habe ich die Geisha nicht vor deinem Fenster gesehen, dann hätte sie schon auf sehr hohen Stelzen gehen müssen, da du ja oben wohnst, sondern innen, an deinem Fenster.«

»Moment mal, sie war in meinem Schlafzimmer? Wie ist sie da reingekommen? Und was wolltest du eigentlich da? Mein Bett vorwärmen?«

»Ich wollte mir das Buch zurückholen, das ich dir geliehen hatte. Da sah ich sie stehen, und sie hat mir Grauen eingeflößt, weil sie ziemlich tot aussah. Ihre Augen wirkten gebrochen und ihr Körper war vor Schmerzen gekrümmt. Zwischen ihren vor die Brust gepressten Händen sickerte Blut hervor.«

»Also, wenn sie bereits tot war, wie du an den gebrochenen Augen festgestellt haben willst, kann sie nicht mehr geblutet und schon gar nicht sich vor Schmerzen gekrümmt haben. Was ist mit ihr geschehen? Hast du den Rettungsdienst gerufen?«

»Das war nicht nötig, denn als ich mich halbwegs von meinem Schreck erholt hatte, war sie verschwunden.«

»Ach, deshalb habe ich keine Blutflecke vor meinem Bett gefunden. Es war also nur ein Geist, der dich heimgesucht hat.«

»Oder dich, sie war in deinem Zimmer, nicht in meinem.«

»Dann sind Geister also ziemlich dumm, sonst hätte sie wissen müssen, dass ich normalerweise zur Geisterstunde außer Haus bin, um meiner Arbeit nachzugehen.«

»Warum musst du immer alles ins Lächerliche ziehen, was ich dir erzähle? Ich fand die Angelegenheit gar nicht komisch. So langsam bekomme ich Beklemmungen in diesem Haus.«

»Jetzt sei nicht ungerecht. Ich mache höchstens hin und wieder einen Witz über deine paranormalen Erlebnisse, damit auch du das alles nicht so ernst nimmst. Deshalb mache ich mich aber noch lange nicht lustig darüber, schon gar nicht über das, was du mir sonst noch erzählst. Und die Puppe ist nicht hier, sondern im Theater. Dir passieren solche Dinge demnach nicht nur hier im Haus.«

»Was willst du damit sagen?« Yumikos Stimme bekam einen gereizten Unterton.

»Bestimmt nicht, dass ich dich für verrückt oder überspannt halte. Du hast nur gerade eine schlechte Phase. Bist etwas abgespannt und dünnhäutiger als sonst. Vielleicht solltest du einmal Urlaub machen? Oder mich in der Bar besuchen, um dir tüchtig einen anzusaufen. Nein, das nehme ich zurück, besuchen ja, aber nicht besaufen. Alkohol löst keine Probleme.«

»Dein sonniges Gemüt veranlasst dich, alles auf die leichte Schulter zu nehmen«, grummelte Yumiko.

»Was bleibt mir denn anderes übrig? Wenn ich dich in deiner Furcht noch bestärke, machen wir uns doch beide verrückt. Also schön, wir leben in einem Spukhaus, das sich ganz nach Belieben verändert und Schattenwesen ungehindert Einlass bietet. Sollen wir deshalb ausziehen? Wenn ich ehrlich bin, hänge ich an dem Haus. Und was ist, wenn es dir woanders ebenso ergeht?«

»Aha, dann bin ich also der Psycho, und es geschieht mir womöglich ganz recht.«

»Das habe ich nicht gesagt. Drehe mir bitte nicht das Wort im Mund herum.« Mayumi legte ihre Hand besänftigend auf die von Yumiko. »Sieh mal, auch wenn wir beide mit dem Glauben an yôkai und yūrei aufgewachsen sind, was ist schon groß vorgefallen? Du hast zweimal einen gehörigen Schrecken bekommen, aber dich hat niemand angegriffen. Es handelt sich offen-sichtlich nicht um einen bösen weiblichen Rache-Geist. Irgendwann wird der Spuk wieder vorbei sein.«

»Das hast du beim ersten Mal auch gesagt, aber es ist eher schlimmer geworden. Es muss doch einen tieferen Sinn haben, dass mir so etwas gerade jetzt passiert. Vielleicht soll ich auf etwas hingewiesen werden. Solche Dinge geschehen doch nicht ohne Grund.«

»Das ist deine Meinung. Ich weigere mich einfach, immer hinter allen Ereignissen einen tieferen Sinn zu vermuten. Wir hatten unlängst erst das obon-Fest und auch vor unserem Haus lud eine Laterne die Seelen verstorbener Ahnen ein. Es könnte sich doch eine verirrt haben, die gar nicht hierher gehört. Oder sie hat den Weg zurück nicht gefunden.«

»Die andere Möglichkeit ist die, dass sie zwar sehr wohl hierher gehört, aber wir beziehungsweise eine von uns nicht. Hast du daran mal gedacht?«

»Nein, wozu? Da muss sie schon stärkere Geschütze auffahren als uns nur zu erschrecken, um mich von hier zu vertreiben.«

»Hoffentlich wird sie das nicht noch tun.«

»Was ist das für eine Suppe, die so merkwürdig riecht?«, fragte Mayumi übergangslos.

»Von unserer Nachbarin, probier mal.«

Mayumi nahm widerwillig einen Löffel davon, spuckte es aber gleich wieder aus.

»Schmeckt als hätte sie reingepinkelt.«

»Wenn du meinst, ich weiß nämlich nicht, wie so etwas schmeckt.«

Lotus im Wind

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