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2 Die zweite Bestimmung der Tugend (73c–74a)

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Die zweite Bestimmung der Tugend wird nur kurz abgehandelt. Sie besagt, Tugend sei die Fähigkeit, über Menschen zu herrschen:

So: Da die Tugend bei allen Menschen dieselbe ist, versuche zu sagen und dich zu erinnern, wovon Gorgias und du mit ihm sagen, dass es die Tugend sei. – Me: Was anderes als fähig zu sein über andere Menschen zu herrschen, wenn du in allen Fällen nach etwas Einheitlichem suchst? (73c–d)

Diese Bestimmung – die, indem sie Menon und dem Sophisten Gorgias zugesprochen wird, schon dadurch inhaltlich in den Umkreis der Sophistik gerückt wird – wird verständlich vor dem Hintergrund der sophistischen Machttheorie. Die Sophisten gelten als Apologeten der Macht, weil sie auf die Diagnose der Wertunsicherheit, wie sie bei Thukydides im oben zitierten Passus formuliert wird22, reagieren, indem sie die Frage nach dem richtigen menschlichen Handeln von der Orientierung an Werten entkoppeln und zu einer Machtfrage machen. Werden Recht und Gesetz nicht mehr als durch die Götter gesetzt, sondern als durch menschliche Konventionen gegeben angesehen, so geraten sie in den Bereich menschlicher Verfügbarkeit.23 Die Frage nach dem richtigen Handeln wird dann zu einer reinen Klugheitsfrage: Maßstab richtigen Handelns sind nicht mehr Werte, sondern einzig eigene Interessen, die es möglichst effizient durchzusetzen gilt. Die in der Politeia von Platon kritisierte Ansicht des Sophisten Thrasymachos, Gerechtigkeit sei das Recht des Stärkeren24, ist Ausdruck dieser Loslösung der Frage richtigen Handelns von der Orientierung an Werten. Dementsprechend verstehen die Sophisten unter der zu lehrenden Tugend nicht das in moralischer, sondern das in prudentieller Hinsicht Richtige. Sie beziehen sich auf das Praktische im Sinne des Machbaren, Durchsetzbaren: Tugendhaft ist, wer über die Fähigkeit zur effektiven Realisierung eigener Ansprüche verfügt. Dies findet Ausdruck in Menons Bestimmung der Tugend als Fähigkeit, über andere zu herrschen.

Gegen diese Bestimmung der Tugend führt Sokrates zwei Argumente ins Feld. Das erste (73d) besagt, dass sie insofern eine semantische Engführung des aretē-Begriffes darstellt, als sie nicht auf alle Dinge und Wesen, die aretē haben können, anwendbar ist. Sie trifft z.B. nicht auf Kinder und Sklaven zu, die nicht über andere herrschen können, denen man aber dennoch eine Tugend zuschreiben kann. Es erstaunt, dass Menon dieses Argument sofort akzeptiert, denn er könnte an seiner Definition der Tugend mit revisionärem Anspruch festhalten, also behaupten, dass die Fähigkeiten, die Sklaven und Kinder haben, eben nicht als Tugenden, sondern durch einen anderen Ausdruck bezeichnet werden sollten. Dass de facto von der aretē von Kindern und Sklaven gesprochen wird, heißt nicht, dass diese Verwendung richtig ist. Dass wir legitimerweise von der aretē auch von Sklaven und Kindern sprechen können, wird aber von Sokrates nicht begründet, sondern schon vorausgesetzt und von Menon fraglos akzeptiert. Das zeigt, dass bei dem Argument offenbar schon ein Vorverständnis des Tugendbegriffes vorausgesetzt wird.

Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Gegenargument (73d–74a), das sich wiederum in zwei Argumentationsschritte unterteilen lässt. Im ersten Schritt behauptet Sokrates, dass die Definition der Tugend als „über Menschen herrschen können“ unvollständig und zu „auf gerechte Weise über Menschen herrschen können“ zu erweitern sei. Da Menon diese Modifikation sofort akzeptiert (und damit der zweiten Bestimmung der Tugend alle Schärfe nimmt), hat Sokrates im Folgenden leichtes Spiel, diese Definition zu kritisieren, indem er im zweiten Argumentationsschritt die Differenz zwischen Genus und Spezies in Erinnerung ruft25: Der Ausdruck aretē bezeichnet ein Genus, dessen Bestimmung gesucht wird. Ein Genus kann, so die Annahme der Einheitsthese, nicht durch Aufzählung der darunter fallenden Spezies definitorisch bestimmt werden, da gerade das gesucht ist, was den einzelnen Spezies gemeinsam ist. Die Gerechtigkeit ist aber, wie Menon selbst zugibt, eine Spezies des Genus Tugend neben anderen – Gerechtigkeit ist nicht die Tugend, sondern eine Art der Tugend neben vielen anderen wie Besonnenheit und Großzügigkeit. Somit ist es erneut nicht gelungen, eine einheitliche Bestimmung der Tugend zu formulieren, sondern nur, verschiedene einzelne Tugenden aufzuzählen.

Es ist auch hier auffallend, wie schnell Menon die Modifikation „gerecht herrschen können“ akzeptiert. Ebenso wie er sich mit seiner ersten Antwort auf die sokratische Frage als überstürzt gezeigt hatte, zeigt er sich jetzt als voreilig darin, den sokratischen Modifikationsvorschlag zu akzeptieren. Er erweist sich damit als weniger konsequent als die Sophisten, mit denen Sokrates es in der Politeia und im Gorgias zu tun hat und die daran festhalten, dass nicht die Tugend durch das Gerecht-Herrschen, sondern vielmehr die Gerechtigkeit durch die Fähigkeit zu herrschen zu bestimmen sei.26 Auch Menon würde nichts daran hindern, diese These mit revisionärem Anspruch zu verteidigen und, ähnlich wie Thrasymachos in der Politeia, daran festzuhalten, dass man unter Tugend nichts anderes als die Fähigkeit zu herrschen verstehen sollte. Dass diese Definition durch die Hinzufügung „auf gerechte Weise“ zu erweitern ist, wird von Sokrates, worüber Menons rasche Zustimmung nicht hinwegtäuschen darf, nicht begründet, sondern schlicht behauptet. Auch hier liegt also der Kritik der von Menon vorgetragenen Definition bereits ein Vorverständnis des Tugendbegriffes zugrunde, das noch als begründet ausgewiesen werden müsste. Wie eine solche Begründung möglich ist, wird erst später, nämlich in der Anamnesis-Lehre, gezeigt. Auf diese spielt Platon an, wenn er Sokrates die zweite Bestimmung der Tugend durch die Aufforderung an Menon einleiten lässt, dieser solle versuchen, „sich zu erinnern, wovon Gorgias und du mit ihm sagen, dass es die Tugend sei“ (73c). Diese Aufforderung wird ein mit dem Text bereits vertrauter Leser unschwer als Verweis auf die später entfaltete These entschlüsseln, dass die Erinnerung – so wie sie später in der Anamnesis-Lehre aufgefasst wird – darin besteht, ein latent bereits vorhandenes Vorverständnis eines Sachverhaltes zutage zu fördern. Erst im Lichte dieses zunächst zu ermittelnden Vorverständnisses kann dann entschieden werden, ob eine Antwort auf die sokratische Wesensfrage – in diesem Fall also die Frage nach dem Wesen der Tugend – die richtige ist.

1 Die Vermischung semantischer und ontologischer Fragen wird Platon gelegentlich vorgeworfen (vgl. Charles 2006; kritisch hierzu: Fine 2010). Vgl. zu diesem Problem auch Hare 1982, e27–29/d50–53 – nach Hare wäre die Frage, ob es sich bei der sokratischen ti-esti-Frage um eine semantische oder eine ontologische Frage handelt, von Platon nicht verstanden worden – und Stemmer 1992, 37–39.

2 Vgl. hierzu Martens 2009, 51.

3 So etwa vertritt der Kommunitarist A. MacIntyre die These, dass es eine „Moral an sich“ nicht gebe, sondern Moral stets relativ zu den historischen und kulturellen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft zu bestimmen sei; vgl. MacIntyre 21984, e265f./d353.

4 Zum sophistischen Relativismus vgl. auch Guthrie 1971, 164–175 (Kap. 7); Kutschera 2002, Bd. 1, 20f., 25; Schirren/Zinsmaier 2003, 19–22.

5 „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass [wie] sie sind, der nichtseienden, dass [wie] sie nicht sind“ (Theaitetos 152a).

6 Vgl. Theaitetos 151e–152c, 163a–165e.

7 Vgl. Politeia 451c–457c.

8 Vgl. hierzu Kap. II 1.

9 Die Zurückweisung von Beispielen als Antwort auf die ti-esti-Frage und das Insistieren auf eine einheitliche Bestimmung ist ein fester Topos in den platonischen Frühdialogen; vgl. z.B. Euthyphron 6d–e; Laches 190e–192b; Hippias Maior 287e–289d. Zur Funktion von Beispielen in den sokratischen Dialogen vgl. z.B. Santas 1972 und Beversluis 1987, 214–216.

10 Wittgenstein 1953, § 66.

11 Wittgenstein 1953, § 71.

12 So etwa im Phaidon 99d–101c. Zum Begriff der methexis bei Platon vgl. z.B. Meinhardt 1968.

13 Als begriffsgeschichtliche Übersicht zu eidos vgl. Meinhardt 1976; zum Ideenbegriff bei Platon vgl. z.B. auch Gadamer 1978 und Wieland 1982, 95–223 (§§ 6–12).

14 So auch Wieland 1982, 132f.; Sharples 1985, 12f., 129; Vlastos 1991, 92–94; Dancy 2004, 210–218, 240f.

15 Die Übersetzung von eidos als „Begriff“ findet sich gelegentlich bei Schleiermacher, der eidos in Menon 72c als „Gestalt“ und in 72e als „Begriff“ wiedergibt.

16 Diese These wird von Hare in Bezug auf den Ausdruck „gut“ z.B. in The Language of Morals verteidigt (Hare 1952, e111–136/d144–172 (Kap. 7,8)). Sprechakttheoretisch gesprochen: Die Gemeinsamkeit der verschiedenen Verwendungsweisen eines Ausdrucks kann statt im Referenzobjekt auch in dem illokutionären Akt gesehen werden, der unter Verwendung dieses Ausdrucks vollzogen wird; vgl. hierzu grundlegend Austin 1962, insbes. Lecture VIII.

17 Als ausführliche Darlegung dieses Zusammenhanges vgl. Stemmer 1992, 50–63.

18 Dieser Gedanke einer Bedeutung-Kriterien-Differenz – in dem Sinne, dass die Bedeutung eines Ausdrucks nicht vollständig durch seine Anwendungskriterien festgelegt wird – wird in der modernen analytischen Ethik von R. Hare in The Language of Morals (Hare 1952, e94–110/d125–143 (Kap. 6)) ausgeführt.

19 Zu implizit komparativen Ausdrücken und dem Problem der Komparativität von „gut“ vgl. Stemmer 1997, insbes. 74–88.

20 Vgl. Phaidon 65d–e.

21 Vgl. Euthyphron 6d–e.

22 Vgl. Kap. II 3.

23 Vgl. hierzu z.B. Guthrie 1971, 55–134 (Kap. 4), insbes. 101–116; Kutschera 2002, Bd. 1, 21f.; Schirren/Zinsmaier 2003, 17–19. Als instruktive Darlegung dieses Zusammenhangs vgl. auch Popitz 1992, insbes. 12f.

24 Vgl. Politeia 338a–339b.

25 Vgl. hierzu auch Scott 2006, 31f.

26 Vgl. Politeia 343a–344c. Im Gorgias wird die These vom Recht des Stärkeren im dritten Gesprächsteil vom Sophisten Kallikles verteidigt (481c–527e).

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