Читать книгу WAS BLEIBT, IST DAS LEBEN - Oliver Klamm - Страница 6

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Amors Traum

In Gedanken versunken lief Marian an jenem späten Nachmittag des ersten Januars 1991 durch den Rizal Park. Es war Trockenzeit und frühlingshaft warm. Er war erst vor wenigen Tagen in Manila angekommen, doch sein Geist war noch in London, seiner zweiten Heimat. In dieser Stadt hatte er sein Studium der Betriebswirtschaft erfolgreich beendet, in der Deutschen Bank als Kundenberater gearbeitet und seine Familie zurückgelassen. Er war in eine fremde Welt getaucht und hatte scheinbar sehr schnell Abstand zu seinem alten Leben gefunden. Exotische Gerüche nach köstlichen Speisen hatten seine Sinne berauscht und nachts hatte er des Lärmes wegen nicht schlafen können. Wie freundlich die Menschen hier waren. Dennoch hatte er noch keine wirklichen Freunde gefunden, abgesehen von Paco, einem Spanier, mit dem ihn von Anfang an eine gewisse Seelenverwandtschaft verband.


Kinder ließen bunte Luftballons steigen, Straßenhändler verkauften farbenfrohe Zuckerwatte, allerlei Süßigkeiten und Eis, fröhliche Jugendliche lärmten auf dem Rasen und eng umschlungene Liebespaare zogen an ihm vorbei. Wie viele Monate, ja Jahre waren vergangen, seit er jene Trunkenheit der Liebe verspürt hatte? Die tollen Tage der Liebe mit seiner in Trennung lebenden Frau Lesley waren ja schon lange vorüber.


Die Sonne badete Bäume, Menschen und Gebäude in einem purpurnen Rot und ließ sowohl seine Umgebung als auch ihn selbst unwirklich erscheinen. Träumte er? Da tauchte plötzlich, umkreist von Nationalflaggen und gestutzten Bäumen, das imposante Monument des Nationalhelden und Dichters José Rizal auf, das sogar die höchsten Bäume des Parks überragte. Warum war er überhaupt hierhergekommen? Er war Verwirrt. Alles drehte sich. Er ging weiter, versuchte sich zu konzentrieren, setzte sich wieder hin. Da fiel ihm ein, dass er noch fast gar nichts gegessen und getrunken hatte. Er kaufte sich ein geröstetes Hähnchen mit Reis, Gemüse und Erdnuss-Soße sowie eine Dose Mangosaft. Das gute Essen, welches er mit großem Appetit aß, schien seine Gehirnzellen wieder zu aktivieren. Das Konzert, schoss es durch seinen Kopf. Das Konzert der alternativen Rockgruppe Eraserheads, jener schon regional bekannten Newcomerband, die heute Abend auftreten sollte. Doch wo fand das Konzert statt? Auf der legendären Uferpromenade südlich des Parks, nicht weit vom Hafen entfernt. Wie kam er aber dorthin? Er fühlte sich verloren wie ein kleines Kind, tappte herum, öffnete ungeschickt seinen Stadtplan und versuchte sich zu orientieren.


Plötzlich sah er zwei attraktive junge Frauen. Eine trug eine blaue Jeans und ein weißes Hemd. Doch es war die Schönere von beiden, die ihm sofort ins Auge fiel. Ihre langen schwarzen Haare hoben sich vom weißen Kleid ab, das die perfekte Figur ihres zierlichen Körpers betonte. Sein Herz pochte. Schüchtern blieb er stehen. Dann überwand er seine Hemmungen, holte die beiden ein und stotterte mit unüberhörbarem deutschem Akzent auf Tagalog:

„ Saán ang konsiyerto?“

Sie verstand ihn nicht. Etwas genervt wiederholte er, jetzt mit kräftigerer Stimme:

„Saán ang konsiyerto?“

Die Schöne lachte.

„Wo das Konzert ist, willst du wissen?“, fragte sie in einem solch perfekten Deutsch, dass Marian sie verblüfft anschaute. „Komm einfach mit. Wir gehen auch dorthin.“ Beide Frauen und Marian setzen sich auf eine Parkbank. Die mit der blauen Jeans und dem weißen Hemd Bekleidete stellte sich vor.

„Ich heiße Imelda“, sagte sie auf Englisch mit amerikanischem Akzent. Sie lächelte dabei. Marian konnte sehen, dass sie mittellange Haare und einen Scheitel trug.

„Und mein Name ist Diwata“, sagte die Schöne auf Deutsch und sah ihn mit ihren großen mandelförmigen Augen so an, als wollte sie einen Blitz durch seinen Körper jagen. Der Name Diwata stammt aus dem Sanskrit. Devedha bedeutet in dieser Sprache Göttliche. In der Mythologie ihres Landes war Diwata eine göttliche Nymphe oder Fee. Der Name passte zu jener Frau, deren außergewöhnliche Anmut natürlich und märchenhaft war. Nur ihre vollen sinnlichen Lippen waren rot geschminkt und verliehen ihrem Gesicht dadurch eine noch erotischere Ausstrahlung.

„Und wie heißt du?“

„Marian.“

„Marian? Dieser Name klingt aber nicht sehr deutsch“, wunderte sich Diwata. Obwohl sie es nicht wollte, musste sie Marian immer wieder ansehen. Was für ein Adonis war über ihren Weg gelaufen! Sollte dieser Deutsche Amor verkörpern, so entsprach er völlig der klischeehaften Vorstellung gegenüber einem nordischen Gott. Er hatte tiefblaue Augen, natürliche, mittellange, blonde Locken bedeckten seinen Kopf. Erfreulicherweise hatte Marian keinen Bierbauch wie viele primitive Männer auf ihrer Wanderung durch die Schlafzimmer schöner Frauen ihres Landes. Seine Körpergröße war perfekt, das heißt weder zu groß noch zu klein. Er trug eine blaue Jeans und ein grünes T-Shirt. Imelda war ein bisschen beleidigt, weil sich ihre Freundin nur noch für den attraktiven Deutschen zu interessieren schien. Besonders ärgerte sie, dass sie nur Deutsch sprach, eine Sprache, die sie überhaupt nicht verstand. Eine Weile saßen alle drei stumm da und beobachteten die vorbeiziehenden Menschen.

„Hast du eine Freundin?“, fragte Imelda plötzlich mit schüchterner Stimme. „Nein“, antwortete der verblüffte Deutsche.

„Bist du verheiratet und hast du Kinder?“, fragte Diwata.

„Nein“, log Marian mit der überzeugenden Stimme eines Schauspielers.


Einen Augenblick schämte er sich seiner fatalen Lüge wegen, doch dann beruhigte er sein Gewissen. Sollte er etwa den Zauber einer solchen Begegnung mit der unerfreulichen Geschichte seiner komplizierten Beziehung überschatten? Mussten die anmutigen Frauen wissen, dass er eine zweijährige Tochter namens Eliza Snow Patricia hatte und von seiner jungen Frau Lesley getrennt lebte? Seine Glut für Lesley hatte schon seit längerer Zeit an Leidenschaft verloren, erloschen war sie trotzdem nicht. Unerträglich war vielmehr die tägliche Routine gewesen, die aus ihm einen Roboter gemacht hatte. Hinzu kamen scheinbar unüberwindbare Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf Elizas Erziehung. War er allein nach Manila gekommen, weil er einen völligen Neuanfang brauchte oder wollte er sich nur finden, um später nach London zurückzukehren und im vertrauten Kreise der Familie ein neues Leben zu wagen?


Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und ein riesiger Menschenstrom bewegte sich zur großen Bühne, auf der das Konzert der Gruppe Eraserheads stattfinden sollte. Marian und die beiden Frauen folgten der Menschenmenge. Es herrschte eine euphorische Stimmung. Auch Diwatas und Imeldas Fröhlichkeit wirkten geradezu elektrisierend, obwohl sie begonnen hatten, sich nur in Tagalog zu unterhalten, einer Sprache, die Marian nur sehr schlecht beherrschte. Warum lachten sie? Machten sie sich vielleicht über ihn lustig? Er sollte wohl nicht immer alles auf sich selbst beziehen. Auf der Uferpromenade erkannte man schon die riesige, rot beleuchtete Bühne, vor der sich schon ziemlich viele Menschen versammelt hatten. Mit Glück gelang es Marian und seinen beiden Begleiterinnen, relativ weit vorne Stehplätze zu ergattern, obwohl man die Bühne nicht besonders gut sehen konnte.


Sehr bald waren sie von einer riesigen Menschenmenge umzingelt, der man scheinbar unmöglich entfliehen konnte. Da es ewig dauerte, bis die Musiker erschienen, verloren viele die Geduld und grölten, in der Hoffnung, das Konzert würde irgendwann einmal beginnen. Die Zeit, die das Publikum warten musste, schien ewig zu dauern, doch endlich stolzierten die Musiker auf die Bühne. Sänger, Gitarristen und Schlagzeuger wurden mit einem ohrenbetäubenden Applaus begrüßt. Das gesamte Konzert glich dem Ausbruch des Vulkans Pinatubo. Die Massen sangen, klatschten, grölten mit. Mädchen kreischten, Tausende von Armen zuckten in Ekstase in die Höhe, wie unkontrollierbare Wellen bewegten sich wogende Körper im Takt, Männer rissen sich ihre T-Shirts vom Leib und unzählige Frauen warfen BHs und Slips auf die Bühne.


Diwata saß auf Marians Rücken, um die Musiker besser zu sehen. Ihre nackten Oberschenkel berührten die Wangen seines Gesichts und ihre Hände krallten sich in seine Schulter. Welch unbändiges Verlangen verspürte er plötzlich, sich in Zeus zu verwandeln! In der Gestalt eines weißen Stieres wollte er seine auf ihm sitzende, ihn mit beiden Armen und Beinen umschlingende Europa durch das Publikum tragen und verschwinden. Doch zugleich schämte er sich ein wenig. Was war in ihn gefahren? Er kannte die zierliche junge Frau ja erst seit etwa vier Stunden. Außerdem musste er schmunzeln, als er sich vorstellte, welch große Massenpanik sein Auftritt als schnaubender weißer Stier auslösen würde.


Die Stimmung änderte sich, als die Band ihre Balladen anstimmte. Marian verstand zwar kein Wort, war jedoch bewegt von der Schönheit der fremden Sprache und dem aus vollen Kehlen singenden Publikum.


Ein Meer von Wunderkerzen erleuchtete die allmählich kühle Nacht. Marian nahm Diwatas zierliche, nackte, kalte Füße in beide Hände und massierte sie in der Hoffnung, dass sie wieder warm würden. Ein wohltuendes Gefühl elektrisierte seinen Körper. Wie lange hatte er darauf gewartet, wieder körperliche und menschliche Nähe zu spüren. War er jetzt jedoch zu weit gegangen?


Das Konzert war vorbei. „Du musst mich jetzt nach Hause tragen, denn ich habe meine Schuhe verloren“, lachte die von ihm Bewunderte. Das war natürlich nur ein Spaß. Wegen der späten Abendstunde liefen sie schnell durch den Park, tauschten ihre Adressen. Zwei Abschiedsküsschen für beide Damen und schon trennten sich wieder ihre Wege für längere Zeit.


Als Marian am nächsten Morgen erwachte, wusste er nicht, ob der gestrige Abend ein Traum oder Wirklichkeit gewesen war. Die Begegnung mit Diwata hatte ihn verwirrt. Er glaubte nicht mehr an die Liebe auf den ersten Blick, weil Zuneigung für ihn etwas war, was sehr langsam entsteht. Dennoch sah er sie immer wieder vor Augen. Ihr zauberhaftes Gesicht, ihr sinnlicher Mund, ihr charmantes Lächeln und ihr betörender Blick erweckten in ihm ein Gefühl der Sehnsucht nach Geborgenheit und zugleich den Wunsch nach einer leidenschaftlichen Affäre, die ihn aus dem behäbigen Trott seines Alltags herausholen könnte. War er nach langer Zeit wieder dabei sich zu verlieben? Als eher rationaler Mensch versuchte er, sich gegen diesen pathologischen Zustand zu wehren. Liebe macht bekanntlich blind. Außerdem hatte er die große Verantwortung für seine Tochter, gleichgültig, wie schwierig seine Beziehung zu Lesley war. Das bittersüße Gefühl, sich zu verknallen, war aber stärker als jegliche Logik.


Er versuchte Diwata zu vergessen, doch es gelang ihm nicht. Wie ein Jugendlicher in der Pubertät entdeckte er oft beim Aufstehen noch feuchte Flecken auf seinem Bettlaken (er schlief gewöhnlich nackt). An seine Träume konnte er sich nicht mehr erinnern, doch ihm war klar, wer in ihnen erschienen sein musste. Sollte er Lesley anrufen und sagen: „Es tut mir leid, aber es ist aus!“? Das brachte er nicht übers Herz. Doch Diwata wollte er ebenfalls nicht die Wahrheit sagen. Warum hatte er sie im Rizal Park so unverfroren belogen?


In den folgenden zwei Wochen saß er jeden Tag vor dem Telefon und wollte anrufen, doch er konnte sich nicht einmal dazu überwinden, den Hörer abzuheben und Diwatas Nummer zu wählen. Zu groß war seine Angst, dass sie schon einen Freund haben könnte. (Eine solch schöne Frau musste einen Freund haben). Welch ein Feigling er war! So gab er sich dem Verliebtsein hin, er wollte seinen Gefühlen gar nicht mehr widerstehen, jenem süßen Gift, das ihn scheinbar aus der Realität herausholte und ihn immer mehr in eine Traumwelt riss. Zweifelsohne war er kein Teenager, aber wie ein pubertärer Jüngling schien er in eine Welt schweben zu wollen, in der jegliche Gesetze der Logik, des Verstandes und der Vernunft ihre Gültigkeit verloren. Und dennoch verließ er seine Wohnung in Makati nur noch zum Arbeiten und zum Einkaufen. Abends saß er allein auf seinem Bambussessel und hörte ein romantisches Lied nach dem anderen im Kerzenschein.


Schließlich fasste er sich ein Herz und lud Paco zum Essen ein, um mit ihm über die verworrene Situation zu sprechen. Sein Freund machte ein ernstes, ja sorgenvolles Gesicht. „Marian“, sagte er, „du musst wissen, auf was du dich da einlässt. Was immer du tust: Tu es mit gutem Gewissen und aus vollem Herzen. Wenn du es wirklich ernst mit Diwata meinst, dann bist du auch Teil ihrer Familie. Ich glaube kaum, dass Diwata und ihre Eltern dich als in Trennung lebender Familienvater akzeptieren werden. Dies ist ein sehr konservatives Land, in dem es sehr wichtig ist, sein Gesicht zu wahren.“


Mit leiser Stimme entgegnete Marian, dass er Diwata hinsichtlich seiner eigenen familiären Situation angelogen habe. Paco sah Marian streng an und sagte zunächst nichts. Dann erwiderte er mit gewichtiger, ja fast zorniger Stimme: „Du musst die Wahrheit sagen, verstanden? Du musst die Wahrheit sagen!“


Diwata war gerade über ihre schmerzhafte zweijährige Beziehung mit Isagani, einem großen Egoisten, hinweggekommen. Dieser Typ hatte nur genommen, ohne zu geben. Er hatte sie ausgebeutet, wann immer er konnte. Tag für Tag hatte sie für ihn gekocht und geputzt, ihn sexuell befriedigt, wann immer er er es wollte und war für ihn da, wenn er sie brauchte. Solch eine Beziehung wollte sie nie mehr haben und sich Zeit lassen. Brauchte sie überhaupt einen Mann? Sie hatte einen großen Freundeskreis, liebevolle Eltern, war zufrieden mit ihrem Studium und feierte erste Erfolge mit ihren Kurzgeschichten. Ihre sexuellen Bedürfnisse befriedigte sie mit einem Vibrator oder mit ihrem Finger. Und dann kam ER, jener blond gelockte, attraktive Adonis, flirtete mit ihr und trug sie während eines Konzerts auf ihren Schultern. Doch das bedeutete zunächst einmal nichts, denn attraktive Männer gab es schließlich wie Sand am Meer und sie hätte schon viele Affären haben können, wenn sie diese gewollt hätte. Was sie brauchte, war ein Mann, mit dem sie durch Dick und Dünn gehen konnte und der es verstand, ihre Gedanken zu lesen.


Wenn auch bei vielen Menschen beliebt, so war sie trotzdem kein einfacher Mensch, sondern eine Idealistin, die ständig gesellschaftliche Normen hinterfragte und sich ihnen manchmal widersetzte. In der Liebe galt schon immer für sie das Prinzip: „Alles oder nichts.“ Sie war wie eine von beiden Seiten brennende Kerze. Hatte sie auch von Isagani zu viel verlangt? Sie wusste, dass es bestimmt nicht einfach werden würde, einen neuen Freund zu finden.


Trotz alldem hoffte sie, dass Marian so schnell wie möglich anrufen würde. Ihre Freundin Imelda hatte auch einen sehr guten Eindruck von ihm. „Der ist wirklich süß und wirkt gebildet. Triff dich mit ihm und lern ihn besser kennen. Vielleicht passt ihr gut zusammen“, sagte sie. Doch Marian rief nicht an. In der ersten Woche dachte sie sich nichts dabei, wahrscheinlich war er in seiner Bank zu beschäftigt. Im Laufe der zweiten Woche wurde sie zuerst ungeduldig, dann resignierte sie: „Er hat wohl kein Interesse an mir.“


Eines Abends, als sie gerade unter der Dusche stand, klingelte das Telefon. Ohne sich abzutrocknen und mit nassen Haaren sprang sie aus der Kabine und rannte zum Hörer:

„Hi, hier ist Marian.“ Ihr Herz pochte.

„Marian. Warum hast du dich so lange nicht gemeldet?“

„Es tut mir leid. Es gibt wirklich keinen Grund. Ich würde dich gern wieder treffen!“

„Ich dich auch. Komm einfach am Samstagmittag bei mir vorbei. Ich koche etwas für dich und wir können uns unterhalten.“


Bekleidet mit einem weißen Sommeranzug und einem schwarzen T-Shirt lief Marian durch das Bankenviertel von Makati, dessen Wolkenkratzer ihn an New York erinnerten. Menschen hetzen auf den Straßen, auch heute, am Samstag. Es war Mitte Januar und mittags schon sehr warm. Am Friedhof von Makati, auf dem 17000 gefallene US- Soldaten begraben liegen, nahm er ein Taxi und fuhr zu Diwatas Villa im Nobelviertel Bel Air Village. Marian fiel sofort ins Auge, dass in diesem Viertel sehr reiche Leute wohnten.


Sie öffnete die Tür und lächelte ihn an, als ob sie sich schon seit mehreren Monaten gekannt hätten. Heute trug sie weiße Shorts sowie eine pinkfarbene Bluse mit tiefem Ausschnitt. Sie lief barfuß. Ihre Wohnung war geschmackvoll mit weißen Designermöbeln eingerichtet, an ihren Wänden hingen Bilder moderner Maler. In ihrem Garten war ein kleiner Teich, umgeben von großen Palmen, Baumfarnen, Papaya- und Moringabäumen, berauschend duftenden Blumen wie Rhododendren, Orchideen, dem duftenden Sampaguita mit kleiner Blüte sowie Rosenbeeten. Diwata hatte ein köstliches Essen gekocht und servierte als erstes einen Eintopf aus Kokosmilch mit Chili, Stockfisch, Schweinefleisch und Knoblauch, gefolgt von frittierten Shrimps sowie in Essig, Öl, Knoblauch und schwarzem Pfeffer gebratenem Hühnerfleisch. Anschließend gab es in Kokosmilch gedünsteten Haifisch, mehrere Gemüsesorten und Reis. Mit gebratener Banane gefüllte Frühlingsrollen sowie verschiedene Eis- und Käsesorten rundeten den Gaumenschmaus ab. Getrunken wurden erlesene französische Weine.


Das Essen zog sich bis in den Abend hin. Während des langen Mals sprachen sie über Kunst, Literatur, Musik und Politik. Diwatas Wunsch nach Seelenverwandtschaft schien sich bereits jetzt zu erfüllen, denn sie merkte, dass Marian oft ihre Meinung teilte und gebildet war. Besonders wichtig für sie war, dass er Dinge kritisch hinterfragte und nicht nur das nachplapperte, was in den Medien verbreitet wurde. Außerdem konnte er, im Gegensatz zu Isagani, sehr gut zuhören. Natürlich sprachen sie auch über ihre Eltern. Was Marian über Diwatas Familie erfuhr, ließ ihn vor Neid erblassen.

„Mein Vater ist Abteilungsleiter bei Siemens hier in Manila. Er hat den Großteil seiner Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht und später an renommierten Universitäten in den USA und in England studiert. Er ist ein sehr gebildeter und weitgereister Mann und spricht fünf Sprachen fließend, darunter natürlich auch Deutsch. Ihm ist es zu verdanken, dass ich die deutsche Schule hier in Manila besucht und später mein Deutsch als Studentin der Germanistik und Betriebswirtschaft an der Berliner Humboldt Universität verbessert habe. Meine Mutter war die Leiterin eines bekannten Verlags hier in Manila, der später leider in Konkurs gegangen ist. Sie hat sich auch als Schriftstellerin versucht, allerdings mit mäßigem Erfolg. Später hat sie diese Tätigkeit aufgegeben und sich nur noch ihrer Familie gewidmet. Ich habe zwei Schwestern, Miriam und Ariana, die beide an der Universität Manila Kunstgeschichte und Anglistik studieren. Ach, fast hätte ich meine Oma vergessen. Sie war Freiheitskämpferin während der japanischen Besatzung meines Landes und später freie Journalistin für feministische Frauenzeitschriften. Paradoxerweise waren meine Eltern eher konservativ und hatten oft Streit mit meiner Großmutter.“ Marian staunte, doch seine Angebetete sprach über ihre Familie und sich selbst mit Selbstverständlichkeit und Nonchalance, ohne jeden Hauch von jener Überheblichkeit, die Töchter des gehobenen Bürgertums oft prägt. Selbst der nicht wirklich erfolgreiche Werdegang ihrer Mutter stellte das erbärmliche Leben seiner Eltern in den Schatten.

„Und was kannst du mir über dich erzählen?“ Marian wurde nervös. Was konnte er über seine Familie schon erzählen?

„Naja, ehrlich gesagt bin ich weder stolz auf meine Eltern noch auf meine Heimatstadt. Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater Postbeamter. Seit Menschengedenken leben die Familien meiner Eltern in der an Monotonie und Langeweile nicht zu überbietenden Kleinstadt Hintertupfingen. In dieser Stadt ist alles grau: Graue Häuser, graue Straßen, graue Gesichter. Auch der Himmel ist oft grau.“

„Ich verstehe. Ich habe auch solche Kleinstädte gesehen. Fürchterlich. Man fühlt sich wie im Vorruhestand. Und das deutsche Wetter! Bonjour, tristesse.“

„Ja, das stimmt. Doch manchmal gab es auch Abwechslung. Weißt du wann?“

„Nein. Erzähl mal!“

„Das war immer dann, wenn Frau Gertrude Mayer weiße Geranien auf den Balkon stellte statt rote.“

„Oh, das klingt ja wirklich spannend“, amüsierte sich Diwata.

„Ja“, sagte Marian, „aber das war noch nicht alles. Richtig aufregend wurde es, wenn die gleichen Autos immer auf unterschiedlichen Parkplätzen parkten, was zu einem höchst abwechslungsreichen Farbenspiel führte. Zu jener Zeit sahen die Autos ja nicht wie die heute schwarz wie Leichenwagen aus, sondern sie waren bunt.“

„Großartig“, lachte Diwata, sichtlich amüsiert über Marians Galgenhumor.

„Für die meiste Abwechslung wurde aber gesorgt, wenn Herr Biedermann mit nacktem Oberkörper bei Europa- und Weltmeisterschaften sein schwarz-rot-goldenes Fähnchen aus dem Fenster hielt und sein Bierbäuchlein zeigte, was Frau Meyer als Störung der öffentlichen Ordnung und sexuelle Belästigung empfand. Nicht selten kam dann die Polizei, die den Vorgang ausführlich notierte.“

„Mein Gott, wie furchtbar“, stöhnte Diwata. „Wahrscheinlich kam die auch, wenn irgendwo zu laut gefeiert wurde.“

„Ja, natürlich. Du weißt ja, manche Deutschen empfinden selbst eine auf den Boden fallende Feder als Lärm“, spottete Marian. „Doch es gab besondere Anlässe, an denen dann laut gebrüllt werden durfte.“

„Und wann war das?“, fragte Diwata interessiert.

„Na, rate mal. Beim Fußball natürlich“, lästerte Marian. „Wenn die deutsche Mannschaft ein Tor schoss, dann schrien alle Tor, Tor, Tor, als ob sie den Sieg eines römischen Gladiators bejubelt hätten. Verlor die Mannschaft, dann heulten alle wie ein Wolfsrudel kurz vor dem Verrecken.“

„Bist du kein Fußballfan?“, fragte Diwata erstaunt.

„Nein, überhaupt nicht. Ich hasse Fußball“ gab Marian ehrlich zu. „Bitte frag jetzt nicht: Trinkst du kein Bier? Isst du keine Bratwurst? Nicht jeder Deutsche entspricht diesen Vorurteilen.“ Diwata war erleichtert, dass sie in Zukunft keine Grillpartys mit Bratwurst, fettigen Pommes Frites und in Mayonnaise triefendem Nudel- oder Kartoffelsalat ertragen müsste. Auch die Spiele der Bundesliga am Samstagnachmittag würden ihr erspart bleiben.

„Etwas Gutes hatte der Fußball dann doch. Weißt du was?“

„Nein, erzähl mal.“

„Die Leute zeigten Gefühle, ja sogar Leidenschaft“, lästerte Marian. „Zu solchen Gefühlsausbrüchen kam es sonst nur, wenn die Äste eines Baumes zu weit in den Garten des Nachbarn wuchsen oder ein Auto fünfzig Zentimeter zu nah an einem anderen Auto parkte. Darüber wurde dann leidenschaftlich diskutiert“. Beide bogen sich vor Lachen. „Manchmal kam es sogar zu den berühmt berüchtigten Kriegen am Gartenzaun und nicht selten führten diese Verstöße sogar zu Auseinandersetzungen vor Gericht“ fuhr Marian fort. „Das waren Kapitalverbrechen, die geahndet werden mussten.“

„Das ist ja unglaublich“, sagte Diwata, räumte dann aber ein. „Naja, Spießer gibt es überall.“

„Der Gipfel der Spießigkeit ist jedoch der deutsche Schrebergarten. Hast du schon einmal einen solchen Garten gesehen?“, fragte Marian neugierig.

„Nein“, gab Diwata zu.

„Nun, da hast du etwas verpasst“, spottete Marian. „In diesen Gärten stehen lieblich lächelnde Gartenzwerge in akribisch abgemessenen Abständen neben etwas kläglichen Blumen, meistens Tulpen. Als ich in Hintertupfingen meine Kindheit und Jugend verbrachte, konnte man im Sommer in diesen Gärten kaum noch die Bäume erkennen, so dick war der Rauch der Holzkohle. Überall stank es nach Rauch und nach dem Fett der Würstchen. Übrigens: Kennst du Heino?“

„Nein. Wer ist das?“, fragte Diwata interessiert.

„Ein ziemlich abgefahrener Schlagerstar mit kurzen weißen Haaren und Sonnenbrille. Als Hintergrundmusik ertönte an den immer gleichen Grillabenden seine sonore Bassstimme. Heino klang wie ein Gott der Biedermänner.“ Daraufhin ahmte Marian Heino so gekonnt nach, dass Diwata vor Lachen fast vom Stuhl gefallen wäre. Vor allem seine Songs Die schöne Barbara oder Blau, blau, blau blüht der Enzian zog er durch den Dreck.

„Während Heino sang, führten fette Männer und Frauen unglaublich geistreiche Gespräche über Renovierungen am Haus oder Schnäppchen bei Aldi“ mokierte sich Marian. „Es war offensichtlich: Da saß nicht nur manch ein Herr, sondern auch manche Frau der Ringe, aber im Gegensatz zu Tolkiens Ringen waren diese rein körperlich, deutlich sichtbar am Bauch und Unterleib, eine Folge der ungesunden Ernährung und des Bieres, das übermäßig nachgespült wurde, damit das Würstchen besser rutschen konnte.“

„Du Armer“, bemitleidete Diwata ihren Gesprächspartner. „Wie konntest du das Leben in dieser Stadt überhaupt aushalten?“

„Was glaubst du? Überhaupt nicht“ gab Marian zu. „Ich fragte mich oft, was mich in jener hohlen spießbürgerlichen Welt noch zurückhielt. Schließlich hatte alles, was das Leben lebenswert macht, dort keinen Platz: Kreativität, Abwechslung, Spontanität, fröhliche Feste im liebenswerter Menschen aus verschiedenen Ländern, Theater, Kunst, Musik und Literatur. Es war eine Welt seelenloser Roboter in der unbarmherzigen Routine ihres grauen Alltags. Dort starb man auf Raten. Man vegetierte im Mief dahin.“

„Und dann bist du eines Tages von zu Hause abgehauen?“, fragte Diwata mit Neugier.

„Ja, das stimmt. Es war kurz nach meinem Abitur. Nach einem lautstarken Streit mit meinen Eltern packte ich meine Koffer und verschwand.“

„Für immer?“, fragte Diwata bestürzt. Ihre tiefen schwarzen Augen zeigten Anteilnahme.

„Was heißt für immer? In jenem Augenblick, als ich die Tür hinter mir zuknallte, dachte ich zumindest daran, nie wieder zu meinen Eltern zurückzukehren.“

„Und jetzt?“, wollte Diwata wissen.

„Das ist eine schwierige Frage“ seufzte Marian. „Die Antwort bleibt offen. Im Augenblick denke ich jedenfalls nicht daran, nach Hintertupfingen zu reisen und meine Eltern zu besuchen.“

Aus Taktgefühl stellte Diwata keine weiteren Fragen zu Marians Eltern.

„Wohin bist du dann gefahren?“, wollte sie stattdessen wissen. Ihr Interesse war aufrichtig.

„Nach Berlin, der einzigen deutschen Stadt, die in einem Atemzug mit London oder Paris verglichen werden kann“ gestand Marian. „Zumindest meiner Meinung nach. Die Zeit in Berlin war zunächst sehr hart. Ich hatte ja kaum Geld und musste mich mit Gelegenheitsjobs wie Nachtportier, Tellerwäscher, Discjockey und als Datentypist durchbeißen. Von irgendetwas musste ich ja leben und meine Miete bezahlen. Ich hatte keine besonderen Ansprüche und konnte keine großen Sprünge machen. Doch für die Berliner Clubs und günstigen Restaurants reichte mein Geld allemal. In Berlin entdeckte ich meine Liebe für Kunst, Geschichte, Theater und Musicals. Ich besichtigte viele Museen und ging oft ins Theater.“

„Allein?“, fragte Diwata verwundert.

„Du bist aber neugierig“, lachte Marian. „Nein, natürlich nicht. Ich wohnte in einer netten Wohngemeinschaft, zusammen mit Maja, einer Malerin, Tatjana, einer russischen Kunststudentin und Uwe, der als Sozialarbeiter in Berlin Kreuzberg, einem sogenannten sozialen Brennpunkt, arbeitete. Zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich, wie wunderbar es ist, unter weltoffenen und toleranten Menschen zu leben. Auf mich traf Goethes Spruch Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein wortwörtlich zu. Später schrieb ich mich an der Humboldt Universität ein und begann dort mein Studium der Betriebswirtschaft.“

„Wolltest du für immer in Berlin bleiben?“ Ihre Frage klang interessiert.

„Nein, das nicht“ antwortete Marian. „Ein weit gereister Student überzeugte mich auf einer Studentenparty davon, im Ausland zu leben. Da ich Betriebswirtschaft studierte und später in einer Bank arbeiten wollte, fasste ich den Entschluss, in London mein Studium fortzusetzen. Ich war begeistert von dieser Stadt und wollte während meines Studiums dort bleiben.“

„Warum hast du dich mit deinem Interesse für Kunst und Musik ausgerechnet für ein Studium der Betriebswirtschaft entschieden?“, fragte Diwata verwundert.

„Ich glaube, dass man finanzielle Sicherheit im Leben braucht, egal was man vorhat“, sagte Marian nüchtern. „Ich finde, dass sich die Welt der Zahlen und die Welt der Kunst nicht ausschließen. Sogar Mick Jagger hat Betriebswirtschaft studiert.....“

„Und sein Studium abgebrochen“, unterbrach ihn Diwata. „Das ist richtig. Doch seine betriebswirtschaftlichen Kenntnisse haben ihm sicherlich genutzt.“

Diwata gefiel, was Marian sagte. Auch sie war der Ansicht, dass man im Leben Träume haben müsse, zugleich jedoch auch ein solides Fundament. Sonst platzt jeglicher Traum.

„In der Freizeit habe ich meinen Berliner Lebensstil fortgesetzt“, erzählte Marian. „Museen, Theater, Musicals, Kneipen. Leider blieb mir dafür nur am Wochenende Zeit.“

„Hattest du eine Beziehung?“, fragte Diwata neugierig.

„Ja, da war eine Engländerin, deren Mutter Inderin war.“

Marian vermied es, ihren Namen Lesley Bhattacharya Smith zu nennen.

„Und was war mit ihr?“

„Wir wollten uns zuerst verloben und dann heiraten, doch dann merkten wir, dass wir nicht zueinander passten“, log Marian zum zweiten Mal. Er sprach mit dem Talent eines Schauspielers, der sich so sehr mit seiner Rolle identifiziert, dass er Fiktion und Realität nicht mehr voneinander unterscheiden kann. Schließlich wollte er seine Romanze nicht beenden, bevor sie begonnen hatte. Sie hatte nicht den geringsten Verdacht und fragte auch nicht nach. Schließlich sprach sie selbst nicht gerne über ihre gescheiterte Beziehung mit Isagani.


Hand in Hand spazierten sie durch den Ayala Park von Makati. Ihre konservativen Landsleute dachten sicher, dass sie ein Paar wären. Sie hatte ohne jeden Zweifel schon Gefühle für den Deutschen mit blondem, lockigem Haar, doch sie wollte nichts überstürzen. Was er über seine Herkunft erzählt hatte, gefiel ihr natürlich nicht. Welche Schuld hatte Marian jedoch? On ne choisit pas ses parents singt Maxime Le Forestier in der ersten Strophe seines bewegenden Liedes Né quelque part. Ganz richtig: Man sucht seine Eltern nicht aus. Peinlichen Eltern läuft man davon. Genau das hatte Marian getan. Sie empfand eine tiefe Bewunderung. Das war gewiss nicht einfach für ihn gewesen. Er hatte sich Dinge erkämpfen müssen, die für sie selbstverständlich waren: Kultur, Kunst, Weltoffenheit. Es war ihm gelungen. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was mit ihm geschehen wäre, wenn er sein kultur- und seelenloses Kaff niemals verlassen hätte. Niemand, der im Leben nach etwas Großem strebt, bleibt in der Provinz. Nun lief er neben ihr, jener schöne Mann, den sie kaum kannte. Sie wollte ihn jetzt auch gar nicht genauer kennen. War er hierhergekommen, um sie zu finden? War es eine Schicksalsfügung? Sein Bericht hatte sie berührt. Er würde ihr Held sein. Sie legte ihren Arm um seine Schultern. Er erwiderte ihre Gefühle und tat dasselbe. Vor Erregung bekam sie eine Gänsehaut. Eine innige Freundschaft war besiegelt.


Manila ist für viele westliche Touristen ein klangvoller, exotischer Name. Sie glauben, diese Stadt sei eine fernöstliche Metropole, müssen dann aber feststellen, dass sie sich in einem eher westlich geprägten Betonloch befinden. Allein im Stadtzentrum leben rund zwanzig Millionen Menschen. Die erschreckenden Folgen dieses Wachstums sind Gewühl, Lärm, kilometerlange Verkehrsstaus, Dreck am Straßenrand und eine an manchen Tagen über alle Maßen verschmutzte Luft. Eine riesige Smogwolke liegt an heißen Tagen über der Stadt und ein ätzender Gestank aus Abfall und Kot weht über den Slums. Andererseits ist diese Stadt ein faszinierender Schmelztiegel von Menschen verschiedener Religionen: Christen, Moslems und Buddhisten.


Als Tochter einer wohlhabenden Familie des Großbürgertums hatte Diwata die trostlosen und heruntergekommenen Viertel ihrer Heimatstadt niemals betreten. Marian sollte diese Orte natürlich auch nicht sehen und sich in die Schönheit ihrer Stadt verlieben. Ihre Stadtbesichtigung begann deshalb in Manilas Altstadt Intramuros. Während sie die Stadt „innerhalb der Mauern“ betraten, zeigte Diwata auf das Erbe der spanischen Kolonialherrschaft und erklärte: „Diese mächtigen Steinwälle und tunnelartigen Tore zeugen von der Macht der Spanier.“

„Ermordeten die Spanier auch so viele Eingeborene wie auf ihren Eroberungen im heutigen Lateinamerika?“, erkundigte sich Marian.

„Nein“, antwortete Diwata, „sie gingen diplomatischer vor, indem sie die einheimische Bevölkerung mit Hilfe von Tauschwaren und Geschenken zum Katholizismus bekehrten.“

„Und wie lange blieben sie auf den Philippinen?“

„Du wirst es kaum glauben“, sagte Diwata. „Ihre Kolonialherrschaft dauerte 333 Jahre: von 1565, als Miguel Antonio Legazpi einen Blut Pakt mit Häuptling Raja Sikatuna schloss, bis zum zehnten Dezember 1898, als der Friedensvertrag von Paris das Ende des Spanisch-Amerikanischen Krieges bestätigte. Die Philippinen wurden nun von den Amerikanern kolonialisiert. Die philippinischen Truppen jedoch leisteten unter Führung ihres Generals Aguinaldo erheblichen Widerstand. Es folgte ein Guerillakrieg, der bis 1911 dauerte und dem Tausende Filipinos und Amerikaner zum Opfer fielen.“

„Und wann wurden die Philippinen unabhängig?“ fragte Marian.

„Das war erst im Jahre 1946 unter General Rodas, aber der Nationalfeiertag ist der zwölfte Juni. An diesem Tag rief Emilio Aguinaldo im Jahre 1898 die Unabhängigkeit aus, obwohl das Land noch gar nicht unabhängig war und von den Amerikanern kolonialisiert wurde.“


Nachdem sie eine Weile schweigend die Altstadt erkundet hatten, sagte Diwata plötzlich: „Ich zeige dir heute das koloniale Erbe der Spanier.“ Hand in Hand schlenderte sie mit ihm durch Intramural zur ältesten Kirche der Stadt: San Augustin. Marian bestaunte den spanisch-mexikanischen Barockstil und bewunderte die achtundsechzig Chorstühle aus dunklem Olivenholz sowie die mit einer geschnitzten Tropenlandschaft verzierte Kanzel. „Guck mal“, flüsterte Diwata und zeigte auf ein Grab. „Hier liegt Legazpi begraben.“

„Wer?“, fragte Marian mit einem etwas dümmlichen Gesichtsausdruck.

„Na hör mal, Eroberer Miguel Antonio Legazpi, mit dessen Unterwerfung der Inselbewohner die spanische Kolonialherrschaft begann“, antwortete Diwata überrascht. „Hast du das schon wieder vergessen? Entweder du hörst nicht zu oder hast ein Gedächtnis wie ein Sieb“, lachte sie.


Die Spuren der spanischen Kolonialzeit führten Marian und Diwata zur Casa Manila, der originalgetreuen Rekonstruktion einer Residenz des 19. Jahrhunderts. Auf dem Plaza San Luis setzen sie sich in eines der ins alte Gemäuer gebauten Cafés und lauschten der Musik eines Kammerorchesters. Marian nahm Diwatas Hände und schaute in ihre braunen Augen. Er empfand eine große Dankbarkeit, dass sich sein Leben an der Seite einer solch gebildeten und attraktiven jungen Frau auf wundervolle Weise zu verändern schien. Er wollte nicht wissen, ob und wie lange die sich langsam entfaltende Liebe dauern würde. Diwata hingegen kniete in der Kathedrale von Manila nieder und betete, dass Gott sie von Marian niemals mehr trennen möge.


Manila - Chinatown an einem frühen Freitagnachmittag im März 1991.Sie liefen Hand in Hand durch das pulsierende Leben der chinesischen Gemeinde, besuchten Antiquitäten-, Juwelier- und Kräuterläden mit exotischen Waren und besichtigten Teehäuser. Ein ohrenbetäubender Lärm umgab sie. Geschäftiges Treiben. Es roch nach köstlich gewürztem Essen, süßsaure Dämpfe strömten aus den Garküchen. Straßenmärkte lenkten vom dröhnenden Verkehr der Rizal-Avenue ab. Eine trockene Hitze lag über der Stadt. Sie betraten hungrig ein kantonesisches Restaurant. Diwata bestellte auf Chinesisch.

„Chinesisch sprichst du auch?“, wunderte sich Marian.

„Ja, ein bisschen. Ich habe ein halbes Jahr in Peking gelebt.“ Marian tat so, als gönne er der Freundin auch diese bereichernde Erfahrung. Innerlich erblasste er aber vor Neid. Wie gern wäre auch er viel in der Welt herumgekommen.


Der Kellner servierte typisch kantonesische Gerichte wie Dampfeier, gebratenen Reis, süß-saures Schweinefleisch, eine große Auswahl an Nudelgerichten und Meeresfrüchten sowie Huhn mit Zitronensoße.

„Seit wann leben Chinesen in Manila?“, fragte Marian neugierig.

„Seit sehr langer Zeit. Sie sind als Händler ins Land gekommen und ließen sich vor allem im Dorf Binundok nieder. Die Spanier zeigten ihnen gegenüber ihr doppeltes Gesicht. Die spanischen Besatzer konnten Chinesen aus wirtschaftlichen Gründen nicht entbehren, zwangen sie aber andererseits zum Christentum.“

„Wurden Chinesen von den Spaniern verfolgt?“

„Leider ja. In den Jahren 1603, 1639 und 1762 kämpften viele gegen ihre Unterdrückung. Die Aufstände wurden blutig niedergeschlagen, viele wurden vertrieben. Die heutigen Chinesen kommen vor allem aus Guangzhou. Sie leben relativ friedlich neben den Nachkommen reicher philippinisch-spanischer Mestizen und Ausländern.“

„Seltsam“, entgegnete Marian, „dass der Mob erfolgreiche Menschen nicht erträgt. Es ist ja allgemein bekannt, dass die deutschen Juden ein ähnliches Schicksal ertragen mussten. Man denke nur an die vielen Pogrome und Verfolgungen. Viele Juden waren erfolgreiche Händler und wurden deshalb gleichermaßen beneidet und gehasst.“ Es folgten Minuten des Schweigens. Plötzlich sagte Marian mit nachdenklicher Stimme: „Rassistische Vorurteile gibt es leider immer und überall. Manch ein Dummkopf verbreitet heute wieder antisemitische Ressentiments oder warnt vor der so genannten gelben Gefahr.“


Beim Essen lief beiden das Wasser im Munde zusammen. Es war ein Gaumenschmaus. Lange sprachen sie kein Wort.

„Weißt du“, sagte Marian plötzlich. „In einem ganz fremden Land und völlig anderen Kulturkreis wie diesem muss man sich seine neue Lebenswelt erst ertasten, erfühlen, erschnuppern und erschmecken.“

„Und ervögeln,“ erwiderte Diwata zynisch.

Das traf. Marian verstand sofort die sarkastische Bemerkung seiner Freundin. Er wurde rot und sagte kein Wort. Diwata empfand ihre Anspielung auf den Sextourismus ihres Landes keineswegs als taktlos. In ihrer typisch offenen Art wollte sie provozieren. Außer Marian saß wohl niemand im Restaurant, der Deutsch verstand. Wären dort Deutsche gewesen, hätte sie sich auch nicht geschämt.

„Ich weiß, dass du anders bist. Du wirst niemals mit solchen Frauen verkehren.“ Sie betonte solchen Frauen mit einem Gesichtsausdruck größter Verachtung. „Selbst diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer – für lächerliches Geld ihren Körper an Fremde verkaufen, sehen oft sehr gut aus“, fügte sie mit herablassendem Gesichtsausdruck hinzu. „Doch ihre Schönheit ist nur eine Fassade. In ihrem Innern sind sie müde und leer. Sex ist für sie nur ein Beruf wie jeder andere, den sie oft mit Krankheiten bezahlen. Ich hingegen werde dir ein Feuer zeigen, was du niemals vergessen wirst. In dieser Welt wahrer Liebe wird es nur uns geben. Ich werde alle Frauen, die du begehrst, verkörpern. Wir werden Königin und König sein.“


Nach dem Essen fuhren sie außerhalb der Mauern Intramuros mit einer Kaleza, einer traditionellen bunten einachsigen Kutsche, deren Klappern der Pferde das spanische Ambiente betonte. Diwata schmiegte sich fest an ihren Geliebten. Sie fühlte sich fast wie auf einer romantischen Hochzeitsfahrt.


Abends saßen sie auf einer Bank an der Bucht von Manila. Ein betörender Sonnenuntergang malte den magischen Ort in prächtigen rötlichen Farben, die von Orange bis Scharlachrot reichten und beide vergessen ließen, dass sie in einem Moloch waren. Beiden gelang es, sich vorzustellen, was die Keimzelle dieses urbanen Ungeheuers einmal war: eine kleine Tropensiedlung am Großen Ozean, ein Malaien Dorf des 5. Jahrhunderts nach Christus an der fast kreisrunden Bucht. In diesem Meerbusen, der noch heute einen der besten Naturhäfen der Erde und ein fesselndes Panorama bietet, überfiel Diwata und Marian zum ersten Mal jene Leidenschaft, die im Laufe ihrer Liebe von Tag zu Tag stärker werden sollte. Sie fragte ihn: „Warum hast du dich ausgerechnet für Manila entschieden und nicht für New York, Sidney, Melbourne?“

Sie blickte ihn lange mit ihren großen Augen an. Er antwortete nicht. Sie schwiegen.

„Schließ die Augen“, sagte sie. Er tat, was sie sagte. Unvermittelt spürte er, wie sich ihre Lippen berührten und wie ihre Zungen miteinander verschmolzen. Sie küsste ihn mit einer solchen Zärtlichkeit und Leidenschaft wie keine andere Frau, nicht einmal Lesley. Diese Leidenschaft elektrisierte ihn, als ob sich Götterblitze seines Körpers und seiner Seele bemächtigten.


Die Nacht war hereingebrochen. Beide schliefen friedlich auf der Bank in einer der gefährlichsten Städte der Welt. Ein Engel schien sie zu beschützen. Im Morgengrauen erwachte Marian und streichelte Diwatas lange schwarze Haare. Sie hatte ihren Kopf auf seine Schultern gelegt. Träumte er immer noch? Auf einmal wusste er, dass er mit seiner Geliebten den Traum bis zu seiner Vollendung erleben wollte. Diwata war keine Frau, sondern eine Fee, ein im wahrsten Sinne des Wortes göttliches Wesen, zu schön und zu zerbrechlich für die Widrigkeiten der Wirklichkeit. Würde ihre Liebe bis in alle Ewigkeit andauern? Würde das Feuer ihrer Leidenschaft niemals enden?


Diwata wachte auf. Beide ließen sich von der Morgenröte betören. Keiner sagte ein Wort. Plötzlich flüsterte ihm seine Liebhaberin ins Ohr: „Du bist meine Morgenrot nach langer Nacht.“ Beide lachten über Diwatas geistreiches Wortspiel mit Marians Nachnamen Morgenroth.


Diwatas Eltern wohnten in Ermitage, einem Viertel mit Häusern im spanischen Kolonialstil südlich des Rizal Parks. Das Haus in der Flores Avenue wirkte elegant, aber kalt. Die Fliesen bestanden aus weißem Marmor. Protzige, kunstvoll geschnitzte Möbel aus dunkelbraunem Molaveholz hoben sich vom Weiß der Wände und des Bodens ab. Kunstvolle Teppiche lagen auf dem Boden. Im Flur des Hauses und im Garten plätscherten Springbrunnen. An den Wänden hingen Bilder mit religiösen Motiven. Meterhohe Pflanzen standen in den Ecken.


Diwata öffnete die Tür und führte Marian zu ihrem Vater Bayran Dinguinbayan, der vor einem großen, mit einer Steinplatte bedeckten Tisch aus Molaveholz saß und eine Pfeife rauchte. Der Empfang war überaus herzlich. Marian wurde sofort zu Tisch gebeten. Zum ersten Mal sah Marian Diwatas Familie: ihre jeweils achtzehn und zwanzigjährigen Schwestern Miriam und Ariana sowie ihren Bruder Danil. Alle drei trugen eine etwas steife und formelle Kleidung. Auch die Großeltern saßen am riesigen Glastisch.


Das Essen war ein Fest für Gaumen und Sinne. Als Vorspeisen wurden kleine chinesische Frühlingsrollen sowie diverse Nudelgerichte serviert. Es folgten in Essig, Knoblauch und Zwiebeln gedünstetes Geflügel sowie verschiedene Fischarten, entweder roh in Knoblauch, Chili und Ingwer eingelegt oder in süß-saurer Soße gebraten. Ferner wurden Krabben, Garnelen und Langusten aufgetischt. Als Beilage gab es Reis. Edle Weine wurden zum Essen getrunken. Vor allem Diwatas Schwestern waren sehr neugierig und durchlöcherten den deutschen Gast mit Fragen über Gott und die Welt. Es wurde viel gelacht und das Mittagsmahl zog sich bis zum späten Nachmittag hin, als süße Desserts aus Reis, Eiern, Süßkartoffeln, Kokosnuss und Maniok verspeist wurden. Der Deutsche hatte die Herzen seiner Gastfamilie erobert und ging mit bester Laune nach Hause.


Kurze Zeit später machte Marian Bekanntschaft mit Diwatas Freunden: Masako aus Japan, Lin aus China und Anja aus Deutschland. Viele erschienen in leichten Sommerkleidern, manche in der traditionellen Tracht ihres Landes.


Auf dem Tisch auf Diwatas Terrasse türmten sich Sushi und Jiaozi, Paella und Bulgur, Börek, Falafel und Tabuli, leckere Crêpes und Quiches sowie eine große Auswahl an philippinischen Fischgerichten. Marian hatte einen Spargelsalat mit Schinken mitgebracht, um dem Klischee zu widersprechen, dass Deutsche auf Partys nur Nudel- und Kartoffelsalat essen. Auch für das Dessert wurde bestens gesorgt. Der Tisch bog sich geradezu vor Kuchen und Süßspeisen. Die geladenen Gäste waren fast alle Paare: Ling aus China war mit Seiji aus Japan liiert, Anja kam in der Begleitung ihres französischen Freundes François, die türkische Elif erschien eine Stunde später mit ihrem griechischen Freund Spiros und die Israelin Rachel, die in Manila Zwischenstation vor ihrer Weiterreise nach Auckland machte – kam Hand in Hand mit ihrem palästinensischen Freund Mohammed. Nur Masako, eine bildhübsche Frau mit japanischem Vater und italienischer Mutter, war Single, ebenso wie Manuel aus Kolumbien. Alle stellten sich die Frage, ob die beiden im Laufe der bevorstehenden langen Nacht zueinander finden würden.


Beim Buffet hatten alle die Möglichkeit, sich besser kennen zu lernen. Es waren alle Studenten, mit denen sich Diwata im In- und Ausland angefreundet hatte. Während des Essens führten sie lange Gespräche über ihre Herkunft und die Kultur ihres Landes und schlossen sehr schnell Freundschaft. Alle schien eine gewisse Seelenverwandtschaft zu verbinden. Das Essen schmeichelte den Sinnen. Da fast alle Gäste den ganzen Tag über beinahe nichts gegessen hatten, verschlangen alle geradezu die köstlichen Speisen mit großem Appetit, trotz der noch hohen Temperaturen. Ein ohrenbetäubendes Stimmengewirr ertönte, das selbst mehrere Gärten weiter noch zu hören war. Die Wirkung des Weines zum Nachspülen ließ nicht lange auf sich warten. Zur lauten Musik wurde kräftig getanzt. Die im Gegensatz zu anderen Japanerinnen keineswegs schüchterne Masako und der ebenfalls leidenschaftliche Manuel schienen sich tatsächlich schnell näher zu kommen. An Diwatas etwas abseits gelegenen Teich unterhielten sie sich lebhaft. Später konnte Marian von weitem sehen, dass sie sich leidenschaftlich küssten und berührten. Manuel schien im wahrsten Sinne des Wortes ein Latin Lover zu sein. Als Masako und Manuel, bereits schon recht benebelt vom vielen Wein, eng umschlungen die Tanzfläche betraten, skandierten alle: „Masako! Manuel! Masako! Manuel! Masako! Manuel!“, ganz so, als handelte es sich um Popstars.


Marian war bewegt. Eine solch elektrisierend fröhliche Stimmung hatte er noch nicht einmal auf seinen Studentenfeten in London erlebt, geschweige denn auf den langweiligen Partys mit seinen Schulkameraden, auf denen immer nur gesoffen und geknutscht worden war. Hier zeigte sich, dass sich Menschen aller Kulturen gut miteinander verstehen können. Marian beobachtete die anmutigen Paare, die ihn fast zu Tränen rührten. Das Band einer wunderbaren Freundschaft und Liebe vereinte alle und war stärker als die Vorurteile und historisch, politisch oder religiös geprägten Ressentiments ihrer Vorfahren. „Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weit.“ Diese Worte aus Schillers Hymne an die Freiheit schienen sich hier zu bewahrheiten.


Kurz vor Morgengrauen lief die feucht fröhliche Gesellschaft durch den menschenleeren Ayala Park. Singend und lachend liefen sie auf den Wegen unter großen subtropischen Bäumen. Es war so dunkel, dass man fast nicht seine eigene Hand vor dem Gesicht sehen konnte. Im Morgengrauen legten sich die Paare auf den Rasen. Schnell wurde es ruhig. Marian schloss die Augen und knöpfte Diwatas weißes Hemd auf. Hastig wanderten seine Hände über ihre sinnlichen und wohlgeformten Brüste. Diwatas Stöhnen vermischte sich mit den Schreien der anderen, in noch tiefere Körperregionen vordringenden, den Morgen lustvoll begrüßenden Paaren.


Zum zweiten Mal führte Marians Weg zum Rizal Park, der im Volksmund auch Luneta genannt wird. Es war der erste Mai 1991. Im Gegensatz zu jenem angenehm warmen Januarabend, an dem Marians Liebesgeschichte vor vier Monaten in diesem legendären Park begonnen hatte, brannte jetzt sogar die Abendsonne unbarmherzig. Eine stickige Schwüle lag über dem Park. Marian wartete vor dem mit fliegenden Drachen verzierten Tor zum Chinesischen Garten. Sie hatte ihm gesagt, dass sie an diesem Ort der Ruhe und Harmonie einen Abend verbringen würden, den er niemals vergessen sollte. Plötzlich stand sie vor ihm: eine Elfe in einem pinkfarbenen, leichten Kleid. Er konnte deutlich sehen, dass sie unter dem Kleid weder Slip noch BH trug, doch der Umriss ihres nackten Körpers wirkte keineswegs vulgär, sondern schien mit dem Rosa des Kleides geheimnisvoll zu verschmelzen. Ebenfalls rosa bemalte Lippen lächelten ihn an. „Komm“, sagte sie, nahm ihn bei der Hand und führte ihn durch den Chinesischen Garten. Er schaute sie an und spürte, dass er kaum noch Kontrolle über seine außer Rand und Band geratenen Hormone hatte. Die Stimme der vermeintlichen Vernunft sagte ihm jedoch zugleich: „Was ist in sie gefahren? Was werden die Leute in diesem religiösen Land denken, wenn du dich mit dieser Frau an einem öffentlichen Ort vergnügst? Werden sie gar die Polizei holen?“


Das Krebsgeschwür seiner kleinbürgerlichen Erziehung hatte er seit dem Verlassen seiner Kleinstadt geheilt. Es hatten sich jedoch in seinem Geist Metastasen gebildet, die sich immer dann bemerkbar machten, wenn es darum ging, konservativ bürgerliche Werte gegenüber der Lust zu verteidigen. Tief in seinem Innern herrschte die Doppelmoral jenes Spießers, der an einem lauen Sommerabend bei offenem Fenster in der Dunkelheit seines Schlafzimmers ein attraktives nacktes Paar beim heißen Liebesspiel auf dem gegenüberliegenden Balkon beobachtet und dabei onaniert, sich zugleich jedoch überlegt, ob er nicht die Polizei wegen Störung der öffentlichen Ordnung anrufen sollte. War er besser als jener heuchlerische Geistliche, der sich heimlich an Pornofilmen erregt oder sich an Minderjährigen vergreift, am nächsten Tag jedoch auf der Kanzel den „Zerfall der Sitten“ geißelt und sowohl Lust als auch Sinnlichkeit als etwas ganz und gar Verwerfliches verdammt? Marian hasste jegliche Art der Bigotterie, die zu jeder Zeit der Geschichte die Gesellschaft prägte, gleichgültig in welchem Land. Ihm kamen jene deutschen Spießbürger in den Sinn, die gegen Hildegard Knefs nackte Brüste im Kinofilm Die Sünderin protestiert hatten. Dieselben Moralapostel hatten zuvor tatenlos zugesehen, als Millionen von Juden in Konzentrationslager verschleppt worden waren, ganz so, als wären sie Vieh gewesen. Später dachte er an jene einfältigen Amerikaner, die auf ihren Bildschirmen achselzuckend bis zur Unkenntlichkeit verbrannte vietnamesische Opfer amerikanischer Napalm-Bomben während des Vietnamkrieges gesehen hatten. Warum hatten sich diese Spießer über einige Nackte beim legendären Woodstock-Konzert im Jahre 1969 erregt? Marian stellte sich vor, wie brave Filipinos in Sonntagskleidern eine anmutige Frau ihres Landes beim Liebesspiel mit einem Deutschen beobachten und dies als Verletzung ihrer Moralvorstellung empfinden würden. Doch wer von ihnen hatte jemals seine Stimme gegen die Slums von Tondo und Valenzuela erhoben, deren weit über 700 000 Bewohner an Tuberkulose, Typhus, Malaria und Durchfall litten? Ein Liebesakt in der Öffentlichkeit schien schlimmer zu sein als der „Smokey Mountain“, ein fünfzig Meter hoher Müllberg mitten am Hafen, an dem 20.000 Menschen lebten. „Wie ist es möglich, dass es in einem Land so viele Huren gibt, obwohl Prostitution offiziell verboten ist?“, fragte sich Marian. Er hasste die Scheinheiligkeit…. und war doch selbst ganz und gar von ihr durchdrungen. Er war traurig, dass er nicht abschalten und den Zauber jenes Abends ungehemmt genießen konnte.


Ein leichter Abendwind hatte die Schwüle weggefegt. Jene zauberhaften, von roten Säulen getragenen und mit grünen Dächern bedeckten Pagoden, die vor kurzem noch nur schemenhaft in der gelblich-braunen Luft erkennbar gewesen waren, hoben sich jetzt märchenhaft von der Blauen Lagune ab. Sie waren mit Figuren der chinesischen Mythologie verziert. So ähnlich stellte er sich die Gärten in Peking vor, einer Stadt, die er noch nie besichtigt hatte, die ihn aber seit langem schon magisch anzog.


Diwata schmiegte sich an ihn und führte ihn zu einer Bank an einem geschützten Ort in der Nähe eines Rosenbeetes. Ihre Hand nahm seine Hand und führte ihn zu den unteren Knöpfen ihres Sommerkleides. „Öffne sie“, flüsterte sie in sein Ohr. Marian tat es, doch dann zögerte er, zog seine Hand zurück und machte den Reißverschluss wieder zu. „Was ist los mit ihr?“, dachte er noch einmal. Die Gesellschaft in diesem Land vieler Religionen ist sehr konservativ. Man muss die religiösen und ethischen Gefühle anderer Menschen respektieren. Was sie vorhat, würde außerdem in jedem Land der Welt im höchsten Maße gegen die Norm verstoßen, nicht zuletzt in seinem eigenen. Er war hier ein Gast und wollte keinen Ärger bekommen. Diwata sagte kein Wort. „Spießer“, dachte sie. Beide saßen stumm nebeneinander. Plötzlich hörte er, dass sie leise schluchzte. Zum ersten Mal während ihrer Beziehung hatte er sie wirklich verletzt. Was für ein Idiot er war. Sie war gekommen, um mit ihm ein Fest der Zärtlichkeit und Liebe zu feiern. Ihre Liebe war stärker als die Angst vor dem möglichen Gerede fremder Leute. Sie hatte keine Angst, ihr Gesicht zu verlieren, doch er hatte seines verloren. Über eine Stunde saßen sie stumm nebeneinander, bis sie wieder seine Hand nahm und zu den Knöpfen führte. „Was hält dich zurück? Schämst du dich? Kümmere dich nicht um andere Leute. Öffne dein Herz und lass es geschehen.“


Diesmal öffnete er die Knöpfe und streichelte mit ruhig kreisenden Bewegungen ihren Unterleib. Er spürte, dass kein einziges Schamhaar ihre glatt rasierte, feuchte Scheide bedeckte. Er spielte mit Schamlippen und Klitoris und drang mit seinem Finger in sie ein. Im ruhigen Rhythmus seiner Bewegungen stöhnte sie sehr leise, aber lustvoll.


Die Nacht war hereingebrochen. Die wenigen vorbeiziehenden jungen Paare beachteten sie nicht. Niemand konnte sie sehen. Sie waren ein für die Außenwelt unsichtbares Paar. Er drang mit seinem Finger tiefer in sie ein. „Mehr“, flüsterte sie …. und schenkte ihm ihren Liebeselixier. Er nahm seine Hand aus ihrem Kleid und knöpfte es zu. Eine Weile saßen sie wieder schweigend nebeneinander. Sie hatte ein Tuch auf seinen Schoß gelegt. Mit kunstvollen Bewegungen spielte sie mit seinem großen, weißen, vor Erregung pochenden Glied. Welch lang erwartete Symbiose! Während ihre kleine brünette Hand das ruhige, zärtliche Liebesspiel fortsetzte, spürte er, wie sich seine Vorhaut über die Eichel wölbte und gleich einem lustvollen Meer wieder zurückzog. Wundervolle Gebieterin über Ebbe und Flut! Er verlor jede Hemmung und ließ es geschehen. Während sie ihre ruhigen Bewegungen fortsetzte, flüsterte sie: „Mahal kita - Ich liebe dich“ in sein Ohr. Zärtlich berührten ihre rosa geschminkten Lippen sein Ohrläppchen. Ihre Zunge benetzte genussvoll das Innere seines Ohrs. Ihre Lippen wanderten seinen nackten Hals herab und hinterließen Stempel der Liebe. Im sanften Abendwind wehende rosafarbene Rosenblätter wirbelten durch die Lüfte. Dieses Paar schien im wahrsten Sinne des Wortes auf einer rosa Wolke zu schweben. Pinkfarbenes Kleid und rosa Lippen, gebettet in Rosenblättern in der gleichen Farbe. Drei Farben Rosa verschmolzen zu einem Hohelied der Liebe und Zärtlichkeit. Im nun menschenleeren, finsteren Garten hatte sie das Tuch entfernt. Er spürte, wie sich sein Penis in ihrer nun leidenschaftlich masturbierenden Hand mit äußerster Erregung empor richtete und an Schönheit gewann. Wie sehr wünschte er sich, diesen Moment unbeschreiblichen Glücks so lange wie möglich hinauszuzögern, als plötzlich sein schleimig weißliches Sperma auf ihr Sommerkleid spritzte. Sein Glied glich einer Fontäne, die er weder kontrollieren konnte noch wollte. Die Nacht war hereingebrochen. Die Sterne leuchteten so hell, als wollten sie als Goldtaler auf sie nieder regnen.


Mehrere Wochen vergingen, ohne dass Marian von Diwata etwas hörte. Sehr oft rief er sie an, doch sowohl Schwestern und Eltern logen, dass sie entweder nicht zu Hause sei oder keine Zeit habe. Eine große Traurigkeit und Melancholie bemächtigten sich seiner. Soll das schon alles gewesen sein? Warum ließ sie einen Fisch am trockenen Strand zappeln, den doch so stark nach ihren Gewässern dürstete? Jetzt spürte er, in welchem Maße sie seinem Leben einen Sinn gab. Er existierte ohne sie, doch seine Existenz war von keinerlei Leben durchflutet. Die langweilige Kundenberatung in seiner Bank füllte ihn nicht aus. Er wusste, dass sie notwendig war, damit er seinen Aufenthalt finanzieren konnte. Letztendlich profitierten sie beide von seinem mehr oder weniger soliden finanziellen Fundament und er war in gewisser Hinsicht dankbar. Doch bis auf Paco hatte er niemanden, mit dem er über seine Gefühle sprechen konnte. Sollte er jemanden aus Diwatas Bekanntenkreis anrufen? Die netten jungen Leute, die er auf Diwatas Party kennen gelernt hatte, waren noch keine wirklich engen Freunde, obwohl er mit vielen Telefonnummern und Adressen ausgetauscht hatte. Warum rief sie nicht an? Weder er noch Paco hatten irgendeine Erklärung dafür. Wollte sie sich an ihm wegen seines Verhaltens im Chinesischen Garten rächen? Das war nicht ihre Art. Sie war in keiner Weise nachtragend. Den Grund für ihr langes Schweigen sollte er niemals erfahren.


Eines Abends kam die Erlösung. „Hallo, ich brauche dich. Komm morgen Abend“, hauchte sie am Telefon mit ihrer sanften Stimme, ganz so, als ob nichts geschehen wäre. Er wusste noch nicht, dass die darauf folgende Nacht Ende Mai 1991 einer ihrer erotischen Höhepunkte werden sollte.


Er klingelte an ihrer Tür und sie öffnete ihm. Sie war barfuß. Ihren nackten Körper bedeckte nur ein weißer Bademantel. „Ich sehe es deinen Augen an, mein Schatz. Du möchtest wissen, was unter diesem Bademantel ist. Doch da musst du dich noch etwas gedulden“, lachte sie. „Komm erst einmal.“ Sie nahm seine Hand und führte ihn zum bereits bekannten großen Tisch auf ihrer Terrasse, auf dem allerlei kunstvoll zubereitete, erlesene Speisen standen: mit Koriander gewürzte Austern und Kaviar, Granatäpfel sowie allerhand köstliche Süßigkeiten, darunter Zimt- und Ingwersterne sowie erlesener Trüffel. Ein besonders exotischer Leckerbissen war Balut, ein drei Wochen altes, angebratenes Entenei. Als Getränke gab es mit Hanföl vermischten und mit Muskatnuss gewürzten Kakao sowie die besten importierten französischen und italienischen Weine. Der die Abendluft erfüllende Duft nach Rhododendren, Orchideen, Sampaguita und Rosen war noch berauschender als gewöhnlich. Von allen Seiten des Gartens erklang ein geheimnisvoller Gesang der Zikaden, aus einem Zimmer der Nachbarschaft ertönte eine Klaviersonate von Wolfgang Amadeus Mozart. Diwata setzte sich auf den Schoß ihres Geliebten. Das Abendessen wurde ein Fest der Sinne, wie es Marian noch nie erlebt hatte. Sie kosteten jede der erlesenen Speisen einzeln, erlebten ihre Gaumenfreuden sinnlich und ließen die Weine bis zum letzten Tropfen auf ihrer Zunge verschmelzen. Sie glichen einem sich mit Berührungen und Küssen vereinigenden Liebespaar im Garten Rodins.

„Kennst du das Hohe Lied der Liebe?“, fragte sie Marian.

Dieser schüttelte mit dem Kopf.

„In diesem Lied bekunden sich Sulamith und Salomo ihre Zuneigung, indem sie ihre Körperteile mit Weinreben, Feigen und Granatäpfeln vergleichen.“

Sie nahm einen großen Schluck Wein und sagte, besoffen vor Glück: „Salomo.“

„Sulamith“, erwiderte er. Beide schwiegen eine Weile und lachten.


Plötzlich verband sie Sulamiths Augen mit einem roten Tuch und führte ihn in ihr Schlafzimmer. Dort riss sie ihm Tuch und Kleider vom Leib. Da standen sie sich gegenüber und sahen sich zum ersten Mal vollständig nackt. Sie sah einen Herkules mit heller Haut und gelocktem Haar. Nicht ein einziges Muttermal trübte seine makellose Haut, geschweige denn irgendein Sonnen- oder Lederfleck. Nicht einmal ansatzweise hatte er einen Bauch. Sie schien mehrere Frauen in einem zu verkörpern.

Ich bin eine Narzisse von Scharon, eine Lilie der Täler.


Wer war sie? Isolde? Marion? Nofretete? Kleopatra? Nie zuvor hatte er eine Frau von derartig perfekter Schönheit gesehen. Ihre langen Haare bedeckten einen Großteil ihres Rückens. Mandelförmige Augen, markante Nase und volle, sinnliche Lippen harmonisierten perfekt. Die vollen Brüste waren eine Augenweide, fast zu vollkommen, um sie zu berühren. Auf ihrer Wanderung in tiefere Körperregionen sahen seine Augen eine völlig unbehaarte Scham und sinnliche Beine. Ihre Füße waren zierlich und gepflegt. Sie war gleichermaßen Königin und Göttin, schamlos und keusch. Er starrte sie an wie eine ihn hypnotisierende Venus. Er konnte kaum glauben, dass sie wirklich existierte. Träumte er? Stand er vor dem Gemälde eines berühmten Malers? Er spürte, wie sich sein Glied in Sekundenschnelle aufrichtete, gleich einer Rakete beim Abflug.


Sie legte sich auf ihre weiße Bettdecke. Das Weiß ihres Bettes brachte ihre makellose brünette Haut noch besser zur Wirkung. Sie zeigte ihren Körper in allen nur erdenklichen Stellungen, bis sie zum Höhepunkt kam. Sie spreizte ihre Beine und öffnete ihre Vagina. Das Braun ihrer Schamlippen kontrastierte mit dem Rosa ihrer Klitoris. In dieser Stellung verharrend, zündete sie eine Duftkerze an und steckte sie zwischen ihre Brüste. Ein wunderbarer Duft betörte die Sinne. Sie blies die duftende Kerze wieder aus, lächelte und sagte:

„Das Tal zwischen meinen Bergen erwartet etwas anderes als diese Kerze.“


Wie hypnotisiert, setzte sich Marian auf ihren nackten Oberbauch, beugte sich vor und steckte seinen immer noch harten Penis zwischen ihre Busen. Leidenschaftlich bewegte er in dieser Stellung sein Glied und ejakulierte zwischen ihren Brüsten. Er stand auf, sie setzte sich und beide sahen zu, wie sein Sperma seinen Weg in Richtung ihres Bauchnabels bahnte.


Hand in Hand lagen sie nackt auf dem Rasen des parkähnlichen Gartens der zu Sulamith verklärten Diwata. Nach einem kurzen und heftigen Regenschauer, der die kurz bevorstehende Regenzeit angekündigt hatte, war die Luft wunderbar klar und mäßig warm. Die Schwüle des Tages war verschwunden. Hell erstrahlten die Sterne, leuchtend wie selten über dieser stark verschmutzten Megastadt. Der gesamte Sternenhimmel nördlich des Äquators erstrahlte in all seiner Pracht, vor allem Krebs, Orion, großer und kleiner Hund sowie Zwillinge. Der Mond tauchte den Garten in ein geheimnisvolles, milchiges Licht.

„Sieh, wie wunderbar die Sterne auf uns scheinen“, sagte die Geliebte.

„Ich glaube, sie sind die Seelen jener Verstorbenen, die im Leben großherzig und gut waren. Werden wir auch eines Tages dort erstrahlen?“


Im Morgengrauen stand die Schöne, die sich selbst Sulamith nannte, auf und stieg in den mit Lotusblüten und weißen Wasserpflanzen bedeckten Teig ihres Gartens. Sie stand bis zu ihren Brüsten im Wasser jenes Teiches, den sie May-Nilad nannte: Dort wo weißblühende Wasserblumen wachsen. Sie nahm eine am Ufer liegende Rebe in ihre Hand. Der zu Salomo verklärte Marian folgte ihr ins Wasser hinein.


Wie schön bist du, und wie lieblich bist du, o Liebe voller Wonnen!

Dies ist dein Wuchs: Er gleicht der Palme und deine Brüste den Trauben.

Ersteigen will ich die Palme. Deine Brüste sollen mir wie Trauben des Weinstocks sein und der Duft deines Atems wie Apfelduft.


Wie ein König der Lüste legte er mehrere Trauben auf den noch nassen Körper seiner Verehrten. Er beugte sich über sie und nahm jede einzelne Frucht zwischen seine Lippen, mit denen er ihren Körper bis zum Mund abtastete. Während er ihr liebkosend die Trauben schenkte, berührten sich die Lippen und die Zunge der Liebenden. Lange ließ sie danach den köstlichen Geschmack der Trauben auf ihrer Zunge zergehen. Mozarts Klaviersonate drang noch lauter aus dem Fenster des Pianisten. Wie anziehend wirkte der Duft der Pflanzen in der Morgenluft! Welch wundersame, vierfache Sinnlichkeit, die sie gleichermaßen fühlen, riechen, schmecken und hören konnte! Sie gipfelte im Delirium der Lust, als er mit seiner Zunge, von ihren Beinen umschlungen, in sie eindrang.

Er küsse mich mit Küssen seines Mundes, denn deine Liebe ist köstlicher als Wein.


Wie ein trunkener Gott küsste er sie. Dann legte er sich, ihrer Aufforderung folgend, auf den Rücken. Schwungvoll goss sie Chianti auf seinen Bauch. Das Rinnsal des italienischen Rotweines breitete sich bis zu seinem Bauchnabel aus. Sie beugte sich über ihn und leckte den Rotwein, mit Zunge und Lippen seinen Körper bis zum Unterleib abtastend. Lippen, Zunge und Wein: Drei Farben Rot verschmolzen zu einem Feuer zügelloser Leidenschaft. Feuerschwerter durchdrangen seine Haut und lösten gleichermaßen jeden einzelnen seiner angespannten Nerven, bis er ein Gefühl unbeschreiblicher Leichtigkeit empfand. Es war, als ob er sich mit ihr in die Lüfte erhob und über den Wolken schwebte.


Sie nahm eine Banane und bedeckte sie genüsslich mit ihren Lippen. „Setz dich auf die Bank“, flüsterte sie in sein Ohr. Eine Göttin kniete vor ihrem Gott. Beide bebten vor Erregung. Er blickte herab und sah, wie die vollen roten Lippen der vor ihm knienden Göttin sein empor gerichtetes Geschlecht bedeckten. Er spürte die wohlige Wärme ihres Mundes und die erregende Bewegung ihrer Zunge. Er streichelte sie und flüsterte: „Sulamith.“ Da spürte sie, wie sehr er sie liebte. Sie hatte es vorher getan, doch Isagani hatte nichts erwidert. Es war nur eine Dienstleistung gewesen, ein Blow-„Job“ im wahrsten Sinne des Wortes.


Jetzt konnte sie ihre Lust nicht mehr zügeln. Es war, als wollte sie sein Geschlecht mit ihrem Mund regelrecht verschlingen. In diesem Moment der Ekstase gab es für sie nur ihn und für ihn nur sie. Göttin und Gott verschmolzen in einem wonnevollen Liebesakt. Er wunderte sich, wie lange er sein Glied in ihrem Mund beherrschen konnte. Doch auf einmal quoll sie hervor, Libidos Milch, wie aus einem unkontrollierbar spritzenden Springbrunnen. Er zog sein erschlaffendes Glied zurück, berauscht von grenzenloser Liebe. Sie kniete weiter und sah ihn an. Die aus ihrem lächelnden Mund rinnenden Milchströme rührten ihn zu Tränen. Sie küsste ihn in der Morgenröte, ihre Zungen berührten sich und sie schenkte ihm dabei den Rest seines eigenen Liebeselixiers. Freudentränen des Glücks flossen über ihr Gesicht.

Der Sommernachtstraum in Diwatas Garten war vorbei. Sulamith war wieder Diwata und Salomo Marian. Doch seit jener Nacht war nichts mehr wie zuvor: Sie waren ein Paar, das von nun an das Leben zusammen meistern wollte. Deshalb kündigte Marian seine Einzimmerwohnung und zog in die Villa seiner Freundin in Makati Bel Air Village. Farbenprächtig blieb jedoch der Alltag. Marian lebte in drei Welten: in der bodenständigen, funktionalen Welt der Vernunft (Ratio), in der bürgerlichen Welt der Familie (Familia) sowie in der Welt der Sinnlichkeit und Lust (Libido). Das harmonische Wechselspiel dieser drei Welten war der Grund für seinen Seelenfrieden, für seine innere Ausgeglichenheit. Hätte er nur in einer dieser Welten gelebt, wäre er verrückt geworden.


Marian war dem Druck seines Arbeitsplatzes gewachsen. Als Finanzberater in seiner Bank musste er täglich zehn bis elf Stunden Kunden über Kredite und Versicherungen beraten und möglichst viele Aktien, Zertifikate und Investmentfonds verkaufen. Diwata verdiente durch ihre Kurzgeschichten ganz gut. Ihre Tätigkeit als Buchhändlerin war auch einträglich. Dennoch wollte er nicht wie ein Schmarotzer von ihr abhängig sein. Keinerlei finanzielle Sorgen hatten beide allein schon wegen des beträchtlichen Vermögens von Diwatas Vater Bayani Dinguinbayan.


Wenn Marian abends etwas müde nach Hause kam, hatte Diwata schon hervorragende Speisen gekocht. Sie kannte sich nicht nur in der Küche ihres Landes gut aus und kochte köstliche deutsche Gerichte, sondern verstand es auch, exzellente chinesische, japanische und italienische Leckereien zuzubereiten. Ihre Kreationen verstand sie als Liebesbeweis, denn Liebe geht bekanntlich durch den Magen. Die Mahlzeiten zogen sich bis spät in die Nach hin, zumal sie der Hitze wegen ohnehin nicht früh schlafen konnten. Während des Essens führten sie geistreiche Gespräche über Kunst, Musik und Literatur. Immer wieder stellten sie ihre Seelenverwandtschaft fest. Jeden Abend kochte sie die Sinne anregende Speisen. In ihrer Rolle als Sulamith und Salomon hatten die Geliebten einen Reigen eröffnet, den sie jetzt unbedingt – möglichst jede Nacht – fortsetzen wollten. Sie hatten sich ein Buch über Kamasutra gekauft. Ein Großteil der hundert Stellungen gelang ihnen im Laufe der Zeit mit Anmut und Eleganz. Sie beobachteten ihre Liebesspiele im großen, goldumrahmten Wandspiegel von Diwatas Schlafzimmer, ganz so, als ob sie sich selbst als innig verschmelzendes Paar auf einem indischen Tempel verewigen wollten. Ihre erotischen Berührungen waren keine vulgären Geschlechtsakte, sondern Kunstwerke.


Die Wochenenden verbrachte das Liebespaar im Kreise der Familie, die den jungen Deutschen inzwischen fast wie ihren eigenen Sohn aufgenommen hatte. Marian passte sich ihren Sitten und Gebräuchen an, aß mit Begeisterung die örtlichen Gerichte und ging sogar mit in die Kirche, obwohl er nicht religiös war und dem Katholizismus nichts abgewinnen konnte. Er lernte sogar einige Sätze in Tagalog, was Diwatas Geschwister erheiterte und Eltern sowie Großeltern erfreute. Weder Diwata noch Marian waren Revolutionäre, die durch provokative Aktionen Aufmerksamkeit erregen wollten. Alles, was sie wollten, war ihre Liebe unkonventionell und ohne äußeren Druck zu teilen. Bisher hatten sie Glück gehabt, weil man sie in Ruhe gelassen hatte. Im sechsten Monat ihrer Liebesbeziehung sprach Diwatas Mutter jedoch mit dem Paar unter vier Augen und bat in einer zwar taktvollen, aber auch energischen Art darum, die Heirat allmählich in Erwägung zu ziehen.


Auch Diwata schmiedete Zukunftspläne und Marian, der schon seit langem für sich entschlossen hatte, irgendwann wieder nach London zurückzukehren, tat so, als würde er ihr zustimmen. Er schlug sogar vor, für beide ein von seinem Großvater geerbten Vermögen ein Haus zu kaufen. Dass er eine beträchtliche Summe geerbt hatte, stimmte zwar, doch das Geld reichte bei weitem nicht zur vollständigen Finanzierung eines Hauses. Er hätte mit dem Geld lediglich einen Großteil der Zinsen ihres Darlehens tilgen können.


Immer, wenn Diwata über die gemeinsame Zukunft konkreter sprechen wollte, wich er aus. Er schien sich weder über ihre Hochzeit noch die Planung eines gemeinsamen Kindes irgendwelche Gedanken machen zu wollen. „Dazu ist es jetzt noch viel zu früh. Warten wir, was die Zukunft bringt und genießen wir das wunderbare Leben, was wir gerade führen“, sagte er immer wieder. Der Gedanke an ein Kind schien ihn regelrecht zu beängstigen.


Jeder gewöhnliche Mann hätte davon geträumt, mit einer Frau wie Diwata eine glückliche Familie zu gründen und gemeinsam Zukunftspläne zu schmieden. Doch Marian war vorbelastet, hatte bereits eine Tochter mit einer Frau, die er im Grunde seines Herzens immer noch liebte, wenn er auch seine Gefühle ihr gegenüber verdrängte.


Finstere Gedanken kreisten eines Nachts um seine Zukunft, als er neben seiner friedlich schlafenden Geliebten lag. Der Vollmond schien durch das Fenster und beleuchtet das weiße Nachthemd einer Frau, die für ihn alles tun würde, wenn er bei ihr bliebe. Wie ein Engel sah sie aus. Er würde sich irgendwann von ihr trennen, ohne aufzuhören, sie zu lieben. Waren Lesley und Diwata „eins und doppelt“ wie die Blätter Goethes Gingko Biloba Blattes? Symbolisierte die eine Seite des Blattes Sinnlichkeit und Lebensfreude und die andere Pflicht und Verantwortung? Hört der Reigen der Lust auf, wenn der so genannte Ernst des Lebens beginnt? Wie sehr hasste er dieses Wort der Anderen. Er wollte nie wie die Anderen sein, wollte immer leben statt zu funktionieren. Er wollte den Alltag so gut wie möglich ausschließen. Ein unverantwortliches, egoistisches Handeln stand für ihn jedoch ebenso außer Frage. Träumer und Realist kämpften in seinem Kopf. Zukunftsängste prägten seine Gedanken, als er die Tränen der Verzweiflung und des frühzeitigen Abschiedsschmerzes nicht mehr unterdrücken konnte und leise in sein Kopfkissen weinte, damit die friedlich neben ihm Schlafende nicht aufwachte.


Eine große Menschenmenge zog durch den Rizal Park zum Roxas Boulevard. Es war der zwölfte Juni 1991. Filipinos und Ausländer aller Altersgruppen machten sich auf den Weg, um die pompöse Militärparade zu Ehren des am zwölften Juni 1898 von General Emilio Aguinaldo ausgerufenen Unabhängigkeitstages zu sehen. Auch Marians Weg führte dorthin. Begleitet wurde er von Diwata und ihrer Freundin Imelda, die er schon seit sehr langer Zeit nicht mehr gesehen hatte. „Nett dich mal wieder zu sehen“, lachte sie.

„Das ist mein Verlobter Virgilio.” Ein korrekt gekleideter Mann im blauen Designeranzug gab Marian die Hand. Sein Händedruck war kräftig. Der Deutsche wunderte sich, wie der eher zierliche Mann sich bei dieser Hitze so warm anziehen konnte. Schon jetzt um elf Uhr vormittags war es fast unerträglich schwül. Diwata und Imelda trugen mittellange, blaue Röcke und weiße Hemden. Wie die meisten Frauen im Park sahen sie aus, als hätten sie ihre Schuluniform wieder aus dem Schrank ihrer Jugendzeit geholt. Alle wirkten seltsam uniformiert.


Die große Menschenmasse auf beiden Seiten des Roxas Boulevards rief Erinnerungen an jenes Eraserheads- Konzert am ersten Januar 1991 wach, als Marian die schöne Frau an seiner Seite kennengelernt hatte. War es damals Liebe auf den ersten Blick gewesen? Nun kannten sie sich schon seit über sechs Monaten. Wie schnell die Zeit vergangen war. Auch heute saß sie wieder barfuß und mit nackten Beinen auf seinen Schultern. Noch sehnlicher als damals wünschte er sich, dass er als Zeus in der Gestalt eines weißen Stieres seine Geliebte hätte davontragen können. Selbst eine mögliche Massenpanik wäre ihm egal gewesen, denn er hasste Militärparaden. Soldaten über Soldaten zogen im Gleichschritt stundenlang an ihnen vorbei. Im Takte monotoner Trommeln und schneidiger Marschmusik verzog keiner von ihnen eine Miene. Was für eine Monotonie! Welch große Uniformität! Wozu all das verschwendete Geld in einem solch armen Land? Doch er war hier ein liebevoll behandelter Gast und es war seine Pflicht, die Kultur dieses Gastlandes zu respektieren. Deshalb jubelte er mit und lächelte, obwohl er sich zu Tode langweilte. Militärparaden hätten ihn jedoch überall angeödet.


Ihren Höhepunkt erreichte die Parade, als mit ohrenbetäubendem Lärm zwei Düsenjäger waghalsig über und untereinander flogen und sich gegenseitig verfolgten, während die auf beiden Seiten des Roxas Boulevards stehende Menschenmasse auf den noch blauen Himmel starrte und den Piloten mit lauten „Ooooh“- und „Aaaah“- Rufen ihren Respekt bekundete. Gegen drei Uhr nachmittags war die Show vorüber.


Marian, Diwata, Imelda und Virgilio folgten der großen Menschenmenge auf ihrem Weg zur Uferpromenade. Händchen haltende Paare, Singles und Familien mit Kindern liefen auf dem breitspurigen Roxas Boulevard, auf dem heute zu Ehren des Tages keine Autos fuhren. Es herrschte ein fröhliches, lebhaftes Treiben. Sonntäglich gekleidete Kinder ließen bunte Luftballons steigen, Händler verkauften Eis und allerlei Süßigkeiten.

„Hat dir die Show gefallen?“, fragte Imelda. Marian antwortete mit unverblümter Ehrlichkeit:

„Ehrlich gesagt: Militärparaden sind nicht mein Ding.”

Das darauf folgende lange Schweigen aller Anwesenden war ein Zeichen dafür, dass der Deutsche ins Fettnäpfchen getreten sein musste. Auf der Uferpromenade war dann alles vergessen, die Stimmung war wieder fröhlich wie vorher. Von da an wurde das Wort Militärparade nie mehr erwähnt.


Kleine chinesische Frühlingsrollen, lange Nudeln mit Gemüse, Hähnchenspieße mit Erdnuss-Soße, Sushi und Tempura, Wan-Tan und alle nur erdenklichen anderen Fleisch- und Fischgerichte aus verschiedenen asiatischen Ländern mit Reis sowie zahlreiche Süßspeisen wurden auf beiden Seiten der Uferpromenade lautstark verkauft. Bier, Schnaps und Erdbeerbowle flossen in Strömen, aber auch eine große Anzahl nicht alkoholischer Getränke wurde ausgeschenkt, vom grünen Tee und Fruchtsäften in knallbunten Farben bis zu Coca-Cola. Es gab sogar Stände mit Paella, mexikanischen Tortillas sowie verschiedenen Pizzen, Tortellini und Pastagerichten. Überall konnte man einen undefinierbaren Duft nach unterschiedlichsten Speisen riechen. Die ungeheure Anzahl verschiedenster Bands, deren Bühnen zwischen den Ständen aufgebaut worden waren, wirkte beeindruckend. Blues- und Soulsänger gaben ihr Bestes, doch es wurde auch kräftig gerockt. Laiensänger sangen Karaoke und versuchten die Töne zu treffen, was ihnen jedoch nur sehr selten gelang. Trotzdem bekamen sie kräftigen Applaus. Selbst die unübersehbar schwarze Gewitterfront am Horizont konnte die ausgelassene Volksfeststimmung nicht trüben.


In kürzester Zeit näherte sich das Gewitter. Der Himmel wurde immer schwärzer. Dunkle, von der Sonne beleuchtete Wolken häuften sich am Firmament in einer Vielzahl von Schattierungen, die von Rosa und Rot bis Grau und Schwarz reichten. Der Donner grollte wie eine erzürnte Gottheit, bis es so finster wurde, als ob die Nacht hereingebrochen wäre. Plötzlich begann es sintflutartig zu regnen. Der auf die Menschenmenge nieder peitschende Regen führte zu Stromausfällen. Mit unvorstellbarer Schnelligkeit stieg der Meeresspiegel der Bucht zu Manila und überschwemmte die legendäre Uferpromenade. Es war ein gewaltiger Auftakt zur Regenzeit, die bis jetzt noch nicht wirklich begonnen hatte. Von kurzen, starken Schauern abgesehen, hatte es bis in die zweite Juniwoche hinein noch nicht wirklich geregnet. Doch nun schüttete es wie aus Kübeln. Wer Beine hatte zu rennen, der rannte, und es rannten zu viele. Manche fielen hin, versuchten aufzustehen und wurden von dem in Panik geratenen, schreienden Menschenstrom fast niedergetrampelt. Wie durch ein Wunder überlebten alle, die meisten kamen mit leichten Verletzungen davon. Nur wenige schafften es nicht, sich im benachbarten, von der Überschwemmung noch verschonten Stadtteil Malate in Sicherheit zu bringen. Sie mussten durch das bis zu den Hüften reichende Hochwasser laufen, hatten aber den Vorteil, von der Massenpanik verschont zu bleiben.


Die beiden Paare schafften es, unverletzt zur Malate–Kirche zu gelangen. Völlig durchnässt traten sie ein und suchten Schutz vor dem immer stärker werdenden Gewitterregen. Bis auf Marian knieten alle nieder und dankten Gott, in dieser alten Kirche, die im 18. Jahrhundert aus den Trümmern einer schon damals 200 Jahre alten Kapelle errichtet worden war, vor der Flut errettet worden zu sein. Marian blickte auf das mit spanisch-maurischen Motiven verzierte Kirchenschiff und ließ die Ruhe der Kirche auf sich wirken.


Als sie wieder draußen waren, stellten alle bestürzt fest, dass das Hochwasser inzwischen auch den Malate–Platz erreicht hatte. Daran konnte auch die steinerne Schutzpatronin Nuestra Señora de los Remedios vor der Kirche nichts ändern. Alle nahmen es jedoch mit Humor, wateten durch das tiefe, schmutzige Wasser und spritzten sich gegenseitig nass. Zur Erleichterung aller war die stark befahrene President Quirino Avenue nicht bemerkenswert überschwemmt und weitgehend normal befahrbar. Sie nahmen ein Taxi und fuhren nach Makati. Mit Erstaunen bemerkten sie, dass dort alles trocken war. Hatte das Gewitter das Bankenviertel weitgehend verschont?


Geduscht und geschminkt machten sich Diwata und Imelda in Begleitung ihrer Freunde auf den Weg ins Nachtleben von Manila. Es war das erste Mal, dass sie Bars und Clubs besuchten. Ihre steife, konservative Kleidung hatten sie gewechselt. Die Männer trugen Shorts und T-Shirts, die Damen kurze Röcke und sinnliche Tops. Da sie den ganzen Tag außer einigen Snacks auf der Uferpromenade nichts gegessen hatten, führte sie zunächst ihr Weg zur legendären Buddha-Bar in Makati, in der sie das Restaurant im zweiten Stock besuchten. Hier tauchten sie in eine geheimnisvolle Welt. Vor den Tischen aus dunkelbraunem Ebenholz standen braune Sessel mit goldener Sitzgarnitur. Überall brannten Duftkerzen. Stilvolle Lampen beleuchteten das Restaurant in ständig neuen Farben: Rot, Grün, Blau und Gelb wechselten sich ab und schafften immer eine neue, intime Atmosphäre. Eine geheimnisvolle Musik ertönte. Über dem Restaurant thronte ein goldener Buddha. Das Restaurant war gut besucht, nicht nur von Filipinos, sondern auch von Chinesen, Vietnamesen, Franzosen, Amerikanern und Australiern. Babylon in einem Tempel kulinarischer Gaumenfreuden. Ein wenig dekadent wirkte das schon, zugleich aber auch sehr originell und en vogue. Alle ließen sich Sushi und Curryhuhn auf der Zunge zergehen. Besonders mundeten jedoch die leckeren vietnamesischen Frühlingsrollen. Der ebenfalls wohlschmeckende grüne Tee passte gut zu den asiatischen Speisen.


Der Blick von der Dachterrasse der Buddha Bar war atemberaubend. Man konnte die Skyline von Makati in all ihrer Farbenpracht sehr gut sehen. Der Lärm der Menschenmenge unten war so laut, dass man sie noch hier oben hören konnte, an jenem romantischen Ort, der geradezu prädestiniert für Paare war. Der Gewitterregen hatte keine Abkühlung gebracht. Die sommerliche Abendluft war sogar noch schwüler und heißer als vorher. Im Schutze der Dunkelheit ließen sowohl Imelda und Vigilio als auch Marian und Diwata ihrer zügellosen Leidenschaft freien Lauf. Die Paare berührten und küssten sich, als ob sie bald für immer voneinander Abschied nehmen müssten.


Wo sollten sie hingehen? Der Abend hatte gerade erst begonnen. Es war erst elf Uhr abends, viel zu früh für den Besuch eines Clubs. Doch auch die Giraffe-Bar im Herzen von Makati war noch nicht wirklich gut besucht. Das war erstaunlich, denn die Happy Hour hatte bereits begonnen und Leuchtreklame sollte so viele Gäste wie möglich mit All you can drink verlocken. Die beiden Paare wollten es jedoch langsam angehen lassen. Kein Saufgelage! Schließlich stand der Höhepunkt des Abends noch bevor: der Besuch des Eden Clubs. Sie bestellten sich mehrere Cocktails und zwei Biere. Die Wirkung selbst dieser relativ geringen Menge Alkohols ließ aber nicht lange auf sich warten. Es wurde so laut gelacht und geredet, dass sich die anderen Gäste genervt nach ihnen umsahen.


Gegen ein Uhr morgens saßen Marian, Diwata, Imelda und Virgilio leicht beschwipst im Taxi, das sich durch den zähfließenden Verkehr auf der President S.Osmeña Avenue kämpfte, der im Volksmund South Super Highway genannt wird. Die mehrspurige Schnellstraße war noch immer stark befahren, vor allem jedoch von Taxis, die zum Bersten voll waren. Manch übermütiger junger Mann lehnte sich aus dem Fenster und grölte, wie nach einem Sieg der Fußballmannschaft des eigenen Landes. Es wurde gehupt, geflirtet und gelacht. Eine elektrisierende Fröhlichkeit herrschte sogar im zähfließenden Verkehr dieser großen Straße. Und alle fuhren in die gleiche Richtung: City of Manila.


Diskothek des Eden-Clubs: Zur ohrenbetäubenden Techno-Musik bewegte sich eine zügellose Menschenmenge. Manche tanzten wie in Trance, andere mit zuckenden Bewegungen. Höchstwahrscheinlich hatten viele schon mehrere Ecstasytabletten geschluckt. Hübsche junge Männer balzten mit attraktiven, halbnackten Mädchen. Eine derbe und laszive Körperlichkeit beherrschte diese Welt aus Lärm und Schweiß. Hier war fast alles erlaubt, sogar in der Hauptstadt eines weitgehend katholischen Landes. Der Eden-Club schien ein Ort zu sein, an dem eine streng und konservativ erzogene Jugend die Möglichkeit hatte, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen: ein Eldorado der Sinnlichkeit. Marian und Diwata tanzten auch ohne Wirkung irgendeiner Droge so, als hätten sie es auf der Tanzfläche miteinander treiben wollen. Noch wilder und anstößiger tanzte Imelda mit Virgilio. Bald blieben die Tänzer und Tänzerinnen in ihrer unmittelbaren Umgebung stehen, klatschten und grölten, als ob sie Popstars bewundert hätten.


Auf dem Weg zur Toilette sah Marian, wie sich blutjunge Paare in dunklen Ecken der Gänge hemmungslos küssten und berührten. In einer Stadt, in der öffentliche Zungenküsse verpönt sind, wäre solch ein Verhalten an anderen Ort ein Skandal gewesen. Hier fanden jene Paare, die nicht unverheiratet zusammen leben durften, Zuflucht. Selbst lesbische und schwule Paare liebkosten sich in aller Öffentlichkeit. Niemand schien sie zu beachten.


Wie viele andere Tänzer sprangen auch Diwata und Marian in das grellblaue Schwimmbecken, das von einer Seitentür der Diskothek zu erreichen war. Der Pool war im Freien, ebenso wie eine Bar, in der alkoholische Getränke, Wasser, Coca-Cola, Sprite und Fruchtsäfte verkauft wurden. Neben der Bar, unmittelbar vor dem Freibad, standen Liegestühle, auf denen man in Ruhe seinen Cocktail genießen konnte. Noch immer war es mit 25°C sehr warm, obwohl das Morgengrauen nicht mehr lange auf sich warten ließ. Viele Besucher des Clubs schwammen bekleidet oder in Unterwäsche im lauwarmen Wasser, andere schlürften am Beckenrand Cocktails, ihre Füße im Wasser baumelnd.


Marian beobachtete Virgilio und stellte fest, dass er einen jugendlich athletischen Körper hatte. In seiner Lockerheit war er kaum noch wiederzuerkennen. Handelte es sich um denselben konservativ gekleideten und etwas steif wirkenden Mann, den Marian gestern Morgen auf der Militärparade gesehen hatte? Imelda wirkte an seiner Seite bezaubernd und schien perfekt zu Virgilio zu passen.


Es war schon drei Uhr morgens. Immer mehr junge Leute stürzten sich in den Pool, um sich abzukühlen. Einige junge Frauen und Männer, die offensichtlich einen über den Durst getrunken hatten, rissen sich ihre Kleider vom Leib und sprangen splitternackt ins Wasser. Die Ordnungshüter duldeten diese Provokation zunächst eine Weile. Als jedoch immer mehr folgten, forderten sie die betrunkenen Gäste freundlich auf, den Pool zu verlassen, was diese jedoch nur sehr widerwillig taten.


Ab drei Uhr morgens lichteten sich die Reihen. Marian saß allein auf einem der Liegestühle und wusste nicht, ob er träumte. Täuschten ihn die Sinne? Hatte jemand Drogen in seinen Cocktail gefüllt? Was er sah, war unglaublich. Im Wasser stand Diwata, umkreist von zierlichen und langhaarigen jungen Frauen aus vielen Ländern. Einige, darunter auch Imelda, kamen von den Philippinen, andere stammten aus weiteren asiatischen Ländern wie Japan und Korea, manche aus Kenia und Marokko, Brasilien, Australien, Indien und Israel. Waren es Models, die danach strebten, Miss World zu werden? Ihr Teint umfasste die Farben Weiß, Brünett, Braun und Schwarz. Auch ihre Haarfarbe war unterschiedlich. Etwas hatten jedoch alle gemein: Sie waren von außergewöhnlicher, jugendlicher Schönheit. Das Tor zum Erwachsenensein hatten sie gerade durchschritten, sich zugleich jedoch noch die unschuldige Anmut ihrer Sturm-und-Drang Zeit bewahrt. Bis zur Hüfte standen die nur mit Slips bekleideten Frauen im Wasser. Die Schönste von allen, die in der Mitte stehende „Göttliche“, war nackt. Sie und die anderen Frauen warfen sich gegenseitig einen goldenen Ball zu. Marian starrte die Frauen an. In einer Vision sah er mit seinem inneren Auge, wie flüchtig die Schönheit der Mädchen war.


Wie schön ihr seid, ihr Seerosen. Und wie bezaubernd du bist, meine Lotusblüte. Doch in einem Atemzug werdet ihr verwelken und eure Schönheit wird vergehen. Erfreut euch eurer Jugend, genießt jede Sekunde eures ungetrübten Daseins. Euer Traum hat gerade begonnen, doch sehr bald wird er schon wieder ein Ende finden. Was bleibt, ist das Leben.


Diwata brach, des Freundes Gedanken lesend, aus dem Kreis und rannte weinend auf ihren Geliebten zu. Die anderen jungen, noch unerfahrenen Frauen kicherten leise aus Verlegenheit.


„Wer hat dir erlaubt, andere Frauen anzuschauen, geschweige denn mit ihnen zu sprechen“, lachte Diwata auf ihrem Rückweg zum Taxi. Der Tag hatte bereits begonnen, schon jetzt um halb sechs Uhr morgens herrschte reger Berufsverkehr. Wie gut, dass Marian sich einen Tag frei nehmen konnte. Offenbar hatte er doch nicht geträumt. Er wusste, dass die Bemerkung seiner Freundin nicht ernst gemeint war, denn Diwata kannte gewöhnlich keine Eifersucht. „Inmitten schöner Perlen finde ich immer meinen Diamanten.“ Die schönen Sprüche verliebter Männer sind gewöhnlich nichts als schöne Worte, doch ihrem Freund nahm sie das Versprechen ab. Plötzlich blieb sie stehen und sah Marian mit ernster und trauriger Miene lange in die Augen. „Unser Traum kommt zu keinem Ende“, sagte sie leise, aber zuversichtlich. Dann bat sie ihn, sich auf einen Bordstein zu setzen und flüsterte ihm frohen Mutes ins Ohr: „Wir können unsere Frist immer wieder verlängern.“ Marian kämpfte mit den Tränen, weil er wusste, wie flüchtig die Liebe war.


Der morgendliche Traum wurde jäh beendet, als plötzlich drei vermummte, schwarz gekleidete Männer in schwarzen Springerstiefeln vor ihnen standen. Alle hielten Pistolen in ihrer Hand. „Geld her!“, sagte einer von ihnen mit tiefer Stimme: „Ich will dein Geld!“ Marian suchte in seiner Hosentasche und fand einige Pesos-Scheine. „Gib mir deine Kreditkarte, du Arsch!.”

Marian, der seine Kreditkarte vernünftigerweise zu Hause gelassen hatte, stammelte:

“Tut….tut mir leid, aber ich habe keine.“

„Willst du mich verarschen? Wo wohnst du?”


Diwata erklärte den Vermummten mit gespielter Ruhe, dass sie in der Nähe des Ayala Parks in Makati wohnten. Die Verbrecher hatten vor, Marian zu zwingen, seine Kreditkarte aus Diwatas Villa zu holen und dann zu seiner Bank zu fahren, um so viel Geld wie möglich von seinem Konto abzuheben.


„Antonio, vámonos“, sagte einer der Vermummten auf Spanisch. Antonio war ein kolumbianischer Drogendealer, der lange in Madrid gewohnt hatte und nun in Manila untergetaucht war. Er stand auf der Fahndungsliste der lokalen Polizei. Die Vermummten stießen ihre vor Angst zitternden Geiseln in einen alten, schwarzen und verbeulten Mercedes. Vermutlich war das Auto gestohlen. Antonio gab Gas, während die anderen beiden Männer ihre Pistolen an Diwatas und Marians Kopf hielten. Diwata erklärte auf Tagalog den Weg. Offensichtlich verstand auch Antonio die offizielle Sprache der Philippinen perfekt. Sie sprach zwar sehr gut Spanisch, war jedoch jetzt zu aufgeregt, um diese Sprache zu sprechen. Antonio fuhr wie ein Verrückter über die President Quiriño-Avenue, vermutlich, weil er befürchtete, von einem Polizeiauto verfolgt zu werden. Die anderen machten sich über Marian lustig. „Woher kommst du? Americano, Gringo?“ Als Marian sagte, dass er Deutscher sei, lachte der Andere: „Oh, German. Deutscher bald kaputt”. Er lachte wie ein Idiot, stolz darauf, die wenigen Brocken Deutsch, die er beherrschte, preis zu geben. Auf dem South Super Highway bewahrheitete sich das, was Antonio befürchtet hatte. Im Rückspiegel sah er die Polizei. Es kam zu einer wilden Verfolgungsjagd.


Zwischen San Antonio und Makati fuhren sie mitten in eine Polizeikontrolle. Doch Antonio gab Vollgas, rammte ein Polizeiauto und verletzte einen Polizisten dabei schwer. Mit seinem stark beschädigten Mercedes gelang es ihm zu entkommen, wurde jetzt aber von noch relativ weit entfernten Polizeiautos verfolgt. Abrupt bog er in eine Seitenstraße. Dort wähnte er sich in Sicherheit und blieb stehen. Die vermummten Männer warfen Marian zu Boden, zwangen ihn, sich auf den Bauch zu legen und richteten ihre Pistolen auf ihn. Zynisch bemerkte einer: „Wir wollen dich nicht lynchen. Wir brauchen nur deine Knete!” Antonio sagte: „Hijo de puta!“ Dann feuerten sie los, doch Gott sei Dank streiften die Schüsse Marians Rücken nur leicht. Anschließend traten beide mehrmals kräftig gegen seine Wirbelsäule. Diwata, die nicht mehr länger zusehen konnte, wie zwei vermummte Männer ihren hilflos auf dem Boden liegenden Freund verletzten, besprühte die Täter mit Tränengas und trat außer sich vor Wut mit aller Kraft zwischen die Beine eines der Kriminellen, der wie ein winselnder Wolf schrie.


In diesem Augenblick erschienen auch schon die Polizeiautos. Acht Polizisten stiegen aus und schrien: „Halt! Keine Bewegung! Stehen bleiben.“ Darauf folgte ein erbitterter Schusswechsel zwischen Delinquenten und Polizisten, bei dem zwei Polizisten schwer verletzt, ein Geiselnehmer leicht verwundet und ein weiterer Verbrecher getötet wurden. Nur Antonio blieb unverletzt. Die beiden Verbrecher wurden von der Polizei in Handschellen zur nächstgelegenen Polizeistation im Stadtteil Pio del Pilar gebracht.


Diwata streichelte weinend den Kopf des Geliebten. Dieser konnte sich vor Schmerzen nicht bewegen und war außerstande, auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Bald schon kam der Krankenwagen und brachte ihn in Begleitung seiner Freundin ins nahe gelegene Santa Clara Krankenhaus.


Es hätte alles schlimmer kommen können, doch es war schon furchtbar genug. Die Ärzte diagnostizierten schwere Prellungen der Wirbelsäule und des Rückens, zwei gebrochene Rippen und zwei leichte Schusswunden. Marian musste zwei Wochen im Krankenhaus bleiben.


Die ersten Tage hatte er Schmerzen beim Atmen und Sprechen. Er konnte nur mit Hilfe von Krankenschwestern aufstehen und auf die Toilette gehen. Diwata besuchte ihn jeden Tag und blieb so lange wie möglich an seinem Krankenbett. Weil sie befürchtete, dass ihm das Essen des Krankenhauses nicht schmecken würde, brachte sie ihm seine Lieblingsgerichte. Zusammen erlebten sie die sonnendurchfluteten Vormittage und lauschten dem nachmittäglichen Regen bei geöffnetem Fenster. Marian hatte das Glück, in einem Einzelzimmer zu liegen. Diwata brachte ihm internationale Zeitungen mit oder las ihm Kurzgeschichten oder Gedichte vor. In dieser schlimmen Zeit kamen sie sich noch näher als zuvor und vertieften ihre Liebe.


Zugleich verspürte Marian aber auch das Verlangen, seine Ehe mit Lesley Indira Bhattacharya Smith wieder neu zu beleben. Das war für ihn kein Widerspruch, weil im Spannungsfeld zwischen Traum und Wirklichkeit beide Frauen von allergrößter Bedeutung waren. Trotz Diwatas Zuneigung vermisste er Lesley jeden Tag mehr und spürte, dass er zu ihr zurück wollte, konnte sich aber nicht dazu überwinden, ihre Nummer zu wählen.


Eines Tages fasste sich Marian endlich ein Herz und rief seine Frau an. Wider Erwarten bat sie ihn schluchzend darum, so schnell wie möglich nach London zurückzukehren. Marian entgegnete, eine Rückkehr sei erst nach dem Ende des Traumes möglich. Lesley konnte sich zunächst beim besten Willen nicht vorstellen, was ihr Mann meinte und reagierte verwundert. Allzu viele Gedanken schien sie sich aber noch nicht zu machen. Sie verabschiedete sich nur mit den Worten, er solle gut auf sich aufpassen.


Nur fünf Minuten später, wesentlich früher als geplant, kam Diwata. Sie trug ein rosafarbenes Kleid, brachte Rosen in der gleichen Farbe und einen selbstgebackenen Kuchen. Sie sah ihn lange an und schien verliebter zu sein als jemals zuvor. Dann zitierte sie aus einem Liebeslied von Rainer Maria Rilke:


Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,

nimmt uns zusammen wie ein Bogenstich,

der aus zwei Seiten eine Stimme zieht.

Auf welches Instrument sind wir gespannt?

Und welcher Geiger hat uns in der Hand?

O süßes Lied.“


Nachdem sie daraufhin eine Weile geschwiegen hatte, umarmte sie ihn und fragte mit besorgter Stimme: „Welcher Geiger hat uns in der Hand? Und wie lange?“


Auf ihre zweifelnde Frage erhielt sie keine Antwort. Aus dem Fenster ertönte das Rauschen eines sintflutartigen Regenfalls. Eine Stunde, nachdem sie gegangen war, entdeckte Marian einen Briefumschlag mit der schlichten Aufschrift Für Marian unter seinem Kopfkissen. Er öffnete ihn und nahm ein Blatt aus dem Umschlag, auf dem in schönster Schrift Diwatas erstes Liebesgedicht stand:


Schöner als Azur der Ozean sind deine blauen Augen,

purpurner als die Morgenröte sind deine Lippen,

tiefer als der tiefste Brunnen ist deine Liebe.

Unsere Eintracht? Farbenprächtiger als der Regenbogen.“


Die Zeit des Krankenbettes war vorüber. Marian musste jeden Tag Überstunden machen und kam erschöpft nach Hause. Da er weder das literarische Talent seiner Freundin hatte noch ein Mann großer Worte war, schenkte er Diwata stattdessen einen Diamanten. Dieser Liebesbeweis hinderte ihn jedoch nicht daran, jeden Tag Lesley vom Büro anzurufen. Er tat dies unter dem Vorwand, Dienstgespräche mit der Deutschen Bank in London zu führen, bis die Lüge entlarvt wurde und sein Chef ihn mit strengem Blick verwarnte.


Diwata nutzte seine Abwesenheit zum Schreiben der ersten Seiten ihres Romans Rosario entscheidet allein. Rosario, die Heldin des Romans, trifft alle Entscheidungen selbst. Gegen den Willen ihrer Eltern wird sie Schauspielerin und Sängerin und widersetzt sich auch dem Zwang, ihren Freund Arnel, einen zwar talentierten, aber kommerziell erfolglosen Maler, zu heiraten. Die Zuneigung des jungen Paares ist über alle Maßen leidenschaftlich und tabulos, jenseits jeglicher gesellschaftlicher Normen und Konventionen. Das Paar widersetzt sich den Moralvorstellungen von Rosarios Eltern und der Doppelmoral seiner bigotten Gesellschaft und wird deshalb ausgegrenzt und verachtet. Die unkonventionelle und bisweilen besessene Liebe des Paares gleicht einem Fels in den Wogen des Meeres, bis sich beide in der Lebensmitte dazu entschließen, von einem Felsen auf der Caramoan-Insel in die tosende Brandung zu springen, um die Last des Alterns nicht ertragen zu müssen.


Täglich schrieb Diwata bis zu zehn Stunden an ihrem Roman und war ebenso ausgebrannt wie Marian. Deshalb trafen beide Mitte Juli den spontanen Entschluss, eine kurze Auszeit zu nehmen und sich eine Woche auf der Insel Boracay zu erholen. Beide wussten zwar, dass sich die Regenzeit für einen Urlaub nicht gut eignete, waren jedoch zu entkräftet, um in Manila zu bleiben.


Boracay gehört zu den Visayas, jenen Inseln der Philippinen, die mit palmengesäumten Bilderbuchstränden, Wasser im leuchtenden Türkis und üppiger Pflanzenwelt jedem Klischee von Tropenparadiesen entsprechen. Diwata und Marian übernachteten im The Strand Boracay Resort, einem Hotel direkt am legendären Weißen Strand. Von der Veranda ihres luxuriösen Penthauses aus hatten sie einen traumhaften Blick auf den kristallklaren Pazifik.


Es war keine Hauptsaison, weshalb sie nur die Hälfte der in der Trockenzeit üblichen Übernachtungspreise zahlen musste. Der Regenzeit wegen hatte das Hotel auch nur wenige Gäste, meist junge Paare aus überwiegend asiatischen Ländern, mit denen das Liebespaar schnell Kontakt knüpfte. Außerdem hatten beide Glück, denn bis auf die beiden letzten Tage war das Wetter gut und es schien den ganzen Tag die Sonne.

Boracay. Bezaubernde, farbenprächtige Sonnenaufgänge begrüßten ein Paar, dessen Liebe neu entflammte. Marian gelang es sofort nach seiner Ankunft, Vergangenheit und Zukunft zu vergessen und sich ausschließlich der Gegenwart zu widmen. An diesem traumhaften Ort gab es nur noch jene Frau, die für ihn einen Traum verkörperte: Diwata.


Nach dem ausgiebigen Frühstück im tropischen Garten verbrachten die Liebenden die meiste Zeit am Strand, zunächst am sich Kilometer weit hinziehenden Weißen Strand und später an den kleineren, fast menschenleeren Stränden Dini, Balang und Bungan. Sie badeten und schwammen im leuchtenden Türkis erstrahlenden Wasser des Pazifischen Ozeans, der im wahrsten Sinne des Wortes ein Ort des Friedens, der Entspannung und der Harmonie war. Mittags prallte die tropische Sonne so intensiv auf die Wasser- und Sonnenhungrigen hernieder, dass sie im Schatten lauschiger Kokospalmen Cocktails schlürften und dann, leicht berauscht von deren Wirkung, in ihrer Hängematte dösten. Abends zogen beide von Bar zu Bar und von Club zu Club, doch wirkliche Genugtuung fanden sie erst während einer märchenhaften Nacht am Weißen Strand.


Unter einem funkelnden Sternendach und dem sich in den Wellen des Ozeans spiegelnden Mond eröffnete sich Marian und Diwata eine zauberhafte Welt, die der Härte des wirklichen Lebens entrückt zu sein schien. Überall beleuchtete ein Meer von Duftkerzen kunstvoll gebaute Sandburgen. Anmutige junge Leute tanzten um zahlreiche Lagerfeuer. Der ganze Strand war erfüllt von einer elektrisierenden, jugendlichen Fröhlichkeit. Badende ergötzten sich an den im Mondlicht schimmernden Wellen des Ozeans, ihre Körper erstrahlten weiß im lieblichen Lichte des Mondes, als ob sie als Nixen und Wassermänner vom offenen Meer an den Strand gespült worden wären. Liebkosende Paare wälzten sich im weißen Sand. Wo immer ein Fremdling menschliche Nähe suchte: Er fand sie sofort im Kreise liebevoller Menschen und wurde lächelnd empfangen. Alles war von einem gleichermaßen äußeren und inneren Lichte erfüllt, Liebe und Wärme durchdrangen den Kosmos und die Seelen der Anwesenden zugleich: eine heile Welt in Gottes Schoße.


Am Morgen des fünften Tages auf Boracay saß Marian im Lustgarten seines Hotels und atmete den berauschenden Duft der tropischen Pflanzen, als plötzlich Diwata in einem weißen Kleid erschien und ihn mit einem wohlriechenden Parfum betörte. War sie auch eine der köstlich duftenden Pflanzen? Welch wunderbarer Rausch der Sinne, welch unvergessliches Fest der Düfte! Doch dann zerrte die junge Frau ihren Geliebten aus dem Garten und führte ihn zu einem riesengroßen, mit heilsamem Schlamm gefüllten Bottich am Strand.


Nach einer intensiven Massage badeten beide nackt im Schlick. Ein unbeschreibliches Gefühl der Entspannung und Harmonie beruhigte Körper und Seele. Plötzlich sah Marian, wie Diwata aus dem Bottich sprang und vor den Augen der entgeisterten Badegäste in den Ozean rannte. Sie stand bis zu den Unterschenkeln im Wasser, tanzte in den harmlosen Wellen, spreizte ihre Beine, warf ihre Arme in die Höhe, drehte sich und bewegte sich mit solcher Anmut, als ob sie eine Ballerina wäre. Der tiefblaue Himmel und das türkisfarbige Meer warfen blaue Schatten auf den vollständig mit Schlamm bedeckten Körper der jungen Frau, der jetzt in Azur erstrahlte. Drei Farben Blau verschmolzen zu einer Eintracht der Tugend und Schönheit. Aphrodite im schäumenden Meer gab ihrem Geliebten ein unmissverständliches Zeichen, ihr zu folgen. Nun sprang auch Marian aus dem Bottich und rannte in die Arme seiner Geliebten. Wie vom Donner gerührt blickten die anderen Badegäste auf das anmutig tanzende, azurblaue Paar.


Sie waren Zeugen eines seltsamen Reigens und wussten nicht, ob sie träumten oder bei vollem Bewusstsein etwas erlebten, was sie niemals vergessen würden.


Eines Nachts wurden Diwata und Marian von einem starken Gewitter geweckt. Hatte sie Petrus einige Tage vom Regen verschont, um es dann wie aus Kübeln gießen zu lassen? Der Regen hörte nicht auf. Am sechsten Tag auf Boracay regnete es den ganzen Tag, mal mehr, mal weniger stark. Die meisten Gäste reisten ab, doch das inzwischen wieder versöhnte Paar blieb. Auch im komfortablen Penthaus ließ es sich gut leben. Marian und Diwata gelang es, die letzten Stunden des Urlaubs zu genießen. Lesend, lachend und küssend töteten sie die Zeit oder faulenzten. Dolce far niente – süßes Nichtstun!


Am letzten Nachmittag saßen Diwata und Marian auf der Terrasse ihres Penthauses, tranken Wein und lauschten dem Rauschen des Regens. Lange Zeit saßen sie stumm da.

„Ich liebe den Regen“, sagte Diwata plötzlich. „Seine ruhige Musik ist eine Wohltat für Seele und Gemüt.“

„Du bist ein merkwürdiges Mädchen“, entgegnete Marian. „Die meisten Menschen hassen den Regen, vor allem im Urlaub.“

„Man muss eben versuchen, das Beste aus einer Situation zu machen, die man nicht ändern kann.“


Das Rauschen verstummte. Eine fast unerträgliche Feuchtigkeit lag in der Luft. Es blieb unverändert heiß. Plötzlich begann es zu donnern, Blitze zuckten über das Meer, und schon wieder regnete es.

„Komm“, sagte Diwata. „Gehen wir ans Meer.“

„Bist du wahnsinnig? Wir können doch bei diesem Wetter nicht an den Strand gehen. Das ist lebensgefährlich.“

„Wer spricht denn hier schon wieder von Lebensgefahr? Immer siehst du irgendwo ein lauerndes Unglück. Nun komm schon.“


Sie riss ihn mit sich. Der Regen wurde immer stärker, der Donner grollte wie ein erboster Gott und aus dem Restaurant des Strand Resorts ertönten Nocturnes von Chopin. Sie liefen barfuß an den menschenleeren Weißen Strand, nur spärlich bekleidet. Über ihrem weißen Bikini trug sie eine weiße Bluse. In all ihrer Anmut stand sie plötzlich vor ihm, nackt wie eine Venus. Auch seine Kleider riss sie vom Leib. Er küsste ihr nasses, langes schwarzes Haar. Während er auf dem Rücken im nassen Sand lag, beugte sie sich über ihn. Ihre sinnlichen Lippen berührten Brüste und Bauchnabel, ihre Schlangenzunge drang immer weiter in tiefere Körperregionen vor, begierig, jeden einzelnen Regentropfen seiner nassen Haut und der Eichel seines sich in Sekundenschnelle aufrichtenden Gliedes aufzusaugen.


Auf einmal wandte sie sich von ihm ab. Er stand auf, sie kniete nieder, ihre Hände im Sand vergrabend, und zeigte ihrem Geliebten die pralle Schönheit ihres sinnlichen Pos, der wie ein zwei geteilter Fischschwanz aussah. Er spürte, wie sich ein animalischer Trieb seiner bemächtigte und es kaum erwarten konnte, mit ihr zu einem zweiköpfigen, vierbeinigen, vierfüßigen, vierarmigen und vierhändigen Tiermenschen zu verschmelzen. Schnell drang er in sie ein und bewegte sich im Rhythmus des Donners, des Regens, des rauschenden Meeres und der Klaviermusik, langsam zunächst, dann immer schneller. Eine unbeschreibliche Hymne an die Nacht ertönte, begleitet von den immer lauter werdenden, kurzen Lustschreien des Liebespaares. Er verlor jegliche Kontrolle und schlug mit den Händen auf ihre nackten Schultern, sie schrie in Ekstase, bis ihre Körpersäfte, begleitet von Donner und zuckenden Blitzen, zur gleichen Zeit lustvoll explodierten und sie, ineinander verschmelzend, ihren letzten lauten Schrei zügelloser Leidenschaft ausstießen.


Der Traum hatte keinerlei positive Nachwirkungen. Nur einen Tag nach ihrem Rückflug nach Manila musste Marian wieder sehr hart arbeiten und viele Überstunden machen. Diwata besuchte ihre Vorlesungen und Seminare. Nebenher schrieb sie so viel wie möglich an ihrem Roman Rosario entscheidet allein. Einige Tage später, an einem verregneten Freitagabend Ende Juli, fühlte sich die junge Frau plötzlich sehr schlecht. Kopf und Glieder schmerzten höllisch, ferner litt sie an Schüttelfrost. Sie maß Fieber und bekam einen Schock: Es zeigte 41°C. Sie holten einen Notarzt, der vermutete, dass sie Grippe hatte. Sie musste tagelang im Bett bleiben. Marian hatte sich gegen den Willen seines verärgerten Chefs wieder eine Woche beurlauben lassen. Er verließ kaum ihr Zimmer und war immer bei ihr. Diwata hatte keinen Appetit und spuckte das Wenige, was sie aß, wieder aus. Ihr Gesicht war durch das hohe Fieber rot. Ihr Zustand besserte sich überhaupt nicht, verschlimmerte sich sogar. Die Rötungen im Gesicht nahmen zu und ihre Blutgefäße wurden größer. Eines Abends brach ihr Blutkreislauf völlig zusammen. Diwata musste mit dem Krankenwagen mit Blaulicht zur Notaufnahme der Santa Clara Klinik gebracht werden. Die dortigen Ärzte diagnostizierten sofort: Dengue-Fieber. Würde ein hämorrhagischer Schock sie an die Schwelle des Todes führen? Sie hatte Glück. Im Krankenhaus wurde sie rund um die Uhr überwacht, bekam Infusionen und starkes Antibiotika. Sehr bald ging es ihr wieder besser. „Eine schöne Erinnerung an Boracay“, lachte sie eines Tages Mitte August. Doch Marian war keineswegs zum Lachen zumute. Sie sah aus wie ein Häufchen Elend, hatte stark abgenommen und war sehr weiß im eingefallenen Gesicht.


Marian hatte vorher einen Anruf von seinem Chef erhalten, der damit gedroht hatte, ihn sofort zu entlassen, wenn er neben der ihm noch zustehenden Ferienwoche an weiteren Tagen fehlen sollte, aus welchem Grund auch immer. Obwohl Diwata immer noch sehr schwach war, musste er wieder arbeiten, beschränkte die Zeit aber auf sieben Stunden pro Tag. Während seiner Abwesenheit leisteten Diwatas Eltern und Geschwister der jungen Frau Gesellschaft, die langsam wieder zu Kräften kam. Dennoch war sie immer noch schwach und konnte nur mit Unterstützung eines Familienangehörigen laufen. Wenn Marian nicht arbeitete, versuchte er, jede Minute bei ihr zu sein und hielt sie fest, während sie im Hofe des Krankenhauses spazieren gingen. „Ich bin wie ein Baby, das laufen lernen muss“, sagte sie und lächelte Marian an. Nach seiner hingebungsvollen Betreuung während ihrer Krankheit hatte sie nicht mehr die geringsten Zweifel. Ihre gemeinsame Zukunft war besiegelt. Sie wusste jetzt mit absoluter Sicherheit: Er soll mein Lebenspartner werden. Er oder niemand.


Während ihrer neunmonatigen Beziehung hatten Diwatas Eltern das Paar weitgehend in Ruhe gelassen, doch jetzt war ihre Geduld zu Ende. Die Hochzeit wurde nicht mehr ausschließlich in Erwägung gezogen: Sie musste von nun an akribisch vorbereitet werden.


Eines Abends im September rief Maria Dalisay Dinguinbayan an. „Ich muss mit dir dringend sprechen. Bitte komm sofort“, sagte sie streng. Diwata hatte sofort die schlimme Vorahnung, dass ihre Mutter sie züchtigen wollte. Angespannt fuhr sie nach Ermita. Die Mutter führte sie zu jenem mit einer Steinplatte bedeckten Tisch, an dem schon Marian während seiner ersten Bekanntschaft mit ihrem Vater Platz genommen hatte. Mit bedeutungsschwerem Blick sah sie die gegenüber sitzende, junge Tochter an.

„Es geht um dich und Marian“, sagte Maria Dinguinbayan mit einem gewissen Pathos. „Sag mir bitte ehrlich: Liebst du ihn wirklich?“

„Warum fragst du mich das?“, entgegnete Diwata etwas genervt, „natürlich liebe ich ihn. Ich liebe ihn über alle Maßen.“

„Was bedeutet das? Was verstehst du junges Küken schon von Liebe?“

Diwata war jetzt verletzt und reagierte ziemlich beleidigt auf diese nicht sehr taktvolle Bemerkung ihrer Mutter.

„Ich verstehe genauso viel oder wenig von Liebe wie du. Ich weiß, dass ich einen Mann gefunden habe, der perfekt zu mir passt. Er ist so gütig zu mir. Außerdem sind wir seelenverwandt. Wir interessieren uns beide für Literatur und Musik, lesen dieselben Bücher und haben den gleichen Musikgeschmack. Doch das Wichtigste ist: Er kann meine Gedanken lesen. Und er ist so ein guter Liebhaber!“

„Das kann ich mir vorstellen“, stöhnte die Mutter, „ich brauche keine Details. Das geht mich nichts an. Ich bin jedoch nicht so naiv, nicht zu wissen, was ihr beide zusammen treibt. Du weißt aber genau: Du bist hier nicht in jenen europäischen Ländern, in denen du gewohnt hast und deren freizügigen Lebensstil du offensichtlich selber führst. Auch in einer großen Stadt wie Manila und einem sehr toleranten Elternhaus kann eine wilde Ehe auf Dauer nicht mehr geduldet werden.“ Diwatas Mutter geriet in Rage. „Die gesamte Verwandtschaft und Bekanntschaft reden schon über uns. Willst du, dass deine Eltern und du weiter das Gesicht verlieren?“

„Nein, natürlich nicht“, versuchte Diwata sie zu beruhigen.

„Hast du dir also Gedanken darüber gemacht, mit ihm dein Leben zu verbringen? Verstehst du was ich meine? Weißt du, was das bedeutet? Das Leben?“

Sie stand auf und streichelte Diwatas lange schwarze Haare.

„Nein, natürlich weißt du das nicht. Du bist noch so jung. Ein verwöhntes Gör wie du kann es gar nicht kennen. Wir haben dich viel zu sehr verhätschelt und dir alles ermöglicht. Doch ich sage dir: Das Leben ist verdammt hart. Man muss den Alltag bewältigen, seinen Unterhalt verdienen und sich später darüber hinaus um quengelnde Kinder kümmern. Spätestens dann ist die Party vorbei.“ Diwata stöhnte so genervt, dass ihre Mutter das Thema wechselte: „Übrigens: Bitte jetzt kein Kind. Vor der Eheschließung dürft ihr kein Kind bekommen, verstanden? Bitte versprich mir das!“

„Natürlich nicht, Mama“, versicherte Diwata. „Wir sind zwei Erwachsene, verantwortungsvolle Menschen. Er ist bald 26 und ich bin fast 24. Wir schützen uns. Ich nehme die Pille.“

„Gut. Doch du hast meine wichtige Frage noch nicht beantwortet: Ist er der Mann für das Leben?“

„Natürlich ist er das“, sagte Diwata und wirkte glaubwürdig. „Du sprichst von Literatur und Musik. Auch ich liebe diese Künste. Doch damit kann man heute keinen Peso verdienen.“ Diwata errötete vor Wut.

„Mama, du weißt genau, dass er in der Deutschen Bank als Finanzberater arbeitet und sehr gut verdient. Wenn es um Geld und die Zukunftsplanung geht, ist er sehr verantwortungsvoll und bodenständig. Doch er ist auch kein Langweiler, der wie ein Roboter nur seine täglichen Pflichten erfüllt. Gott sei Dank ist er auch ein humorvoller und sinnlicher Mensch mit Sinn für die Muse. Er schreibt zwar selbst keine Gedichte oder Geschichten, interessiert sich jedoch wie du weißt sehr für Literatur und unterstützt meine Arbeit an Rosario entscheidet allein.“

„Rosario entscheidet was?“, fragte Mutter Maria, als ob sie aus allen Wolken gefallen wäre.

„Oh, das habe ich dir noch gar nicht erzählt. Rosario entscheidet allein wird mein erster Roman.“

„Diwata“, stöhnte ihre Mutter, ohne auch nur eine einzige Frage zu dem heiklen Inhalt zu stellen. „Diwata, du warst immer schon exzentrisch und eigenwillig. Doch bitte versuch auch du, etwas Sinnvolles zu tun. Vielleicht kannst du eine Ausbildung als Deutschlehrerin machen und später beim Goethe-Institut arbeiten, da du diese Sprache ja perfekt beherrschst.“

„Deutschlehrer verdienen zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig. Das weißt auch du.“

„Auf jeden Fall verdienen sie mehr als eine naive junge Frau, die sich als Schriftstellerin versucht“ erzürnte sich Diwatas Mutter. „Fast hundert Prozent aller Manuskripte landen im Papierkorb, viele werden nicht einmal gelesen. Und selbst von denen, die entdeckt werden, können nur die Wenigsten von ihren Werken leben.“

„Fünf Prozent der Manuskripte werden gelesen und drei Prozent der Schriftstellerinnen werden entdeckt und bekommen den Vertrag eines Verlages. Ich werde eine von ihnen sein“, sagte Diwata mit trotzigem Selbstbewusstsein. „Ob ich davon leben kann oder nicht, entscheidet das Schicksal. Ich bin aber davon überzeugt, dass ich es als talentierte und willensstarke Frau schaffen werde.“

„Dein Selbstvertrauen und dein Optimismus in Ehren. Doch bleib bitte auf dem Teppich.“ Lange schwiegen sich Mutter und Tochter an. „Wirst du ihn heiraten?“, fragte die energische Frau mit peinigendem Blick.

„Ja“, antwortete Diwata aus Pflichtgefühl.

Marian war von den Hochzeitsplänen zunächst gar nicht begeistert. „Müssen wir wirklich heiraten?“, fragte er. Diwata war zerrissen. Auch für sie hatte das Eheleben keine uneingeschränkt positive Bedeutung. Einerseits wusste sie, dass sie auch ohne Trauschein mit Marian ein erfülltes Leben führen konnte. Als unangepasster Mensch hinterfragte sie außerdem den Sinn veralteter Traditionen. Andererseits konnte sie als romantisch veranlagte Frau einer traditionellen Hochzeit mit Kutsche und Brautkleid durchaus etwas Schönes abgewinnen. Außerdem war eine Eheschließung für sie der größte Liebesbeweis, wenn sie auch wusste, dass allzu viele Paare zu leichtfertig diesen großen Schritt wagen und viel zu häufig scheitern. Nein, eine eindeutige Rebellin war sie nicht. Wie konnte sie sich gegen etwas auflehnen, was sie zugleich wünschte? Rebellion und Tradition zerrissen sie. Den geliebten Eltern wollte sie durch die Hochzeit beweisen, dass ihre Liebe zu Marian ernsthaft und aufrichtig war. Hatte sie aber wirklich gelebt? War sie nicht viel zu jung für den Bund des Lebens?


Marian sprach sie eines Tages darauf an, warum sie einen Roman über eine unkonventionelle und bewusst ledige Frau schrieb, zugleich aber selbst unbedingt heiraten wollte. Diwata fand keine Antwort. Sie war in der Tat ein zwiespältiger Mensch. Lange dachte sie darüber nach. Den Deutschen an ihrer Seite begehrte sie, fragte sich aber, ob sie ihre aufrichtige Zuneigung nicht auch ohne Eheschließung beweisen könnte. Sie tröstete sich über ihre Zweifel dadurch hinweg, dass sie sich einredete, der Traum werde fortgesetzt. Alles könne nur noch besser werden, da ihre Ehe die Garantie für ein wonnetrunkenes Leben sei. Marians griesgrämiges Gesicht versalzte hingegen jene Suppe, die sie gerade versuchte, so schmackhaft wie irgend möglich zu kochen.

„Was zum Teufel ist denn in dich gefahren? Was hast du nur gegen die Ehe?“

„Diwata“, sagte Marian mit ernstem und gewichtigem Blick, „du weißt, dass ich dich von ganzem Herzen liebe, aber für das, was du bist: eine außergewöhnliche, leidenschaftliche, sich gesellschaftlichen Normen widersetzende Frau. Es ist doch bekannt, dass die Ehe sehr oft die Liebe tötet. Wo bleiben Erotik und Leidenschaft im Grau des Alltags? Bono bezeichnet Liebe in seinem Lied One als höheres Gesetz, das er einem Tempel gleichstellt. Wird es stark genug sein, sich den Widrigkeiten des Lebens zu widersetzen?“

„Entschuldige, aber ich verstehe dich nicht. Warum zum Teufel versuchst du immer, vor dem wirklichen Leben zu fliehen? Ist die tägliche Routine wirklich so furchtbar, so unausstehlich?“

„Nein, das muss sie nicht sein, aber sehr oft ist sie es. Manchmal sind sogar am falschen Ort liegende Zahnbürsten oder fahrlässig eingeräumte Töpfe im Küchenschrank wichtiger sind als die tief empfundene Liebe, derentwegen beide Partner über die Macken des anderen hinweggesehen haben.“

„Was du meinst, ist die Leidenschaft“, entgegnete Diwata. „Glaubst du nicht, dass es ganz schön anstrengend ist, sie immer wieder neu zu entfachen? Muss es zum Beispiel ein Paar um die Fünfzig wirklich noch so treiben wie Zwanzigjährige?“

„Nein, natürlich nicht“, räumte Marian ein. „Aber wenn die Überbetonung alltäglicher Dinge so schlimm wird, dass es nur noch um Einkäufe, die Bezahlung von Rechnungen, das Putzen der Wohnung oder den Kampf ums Geld geht, dann zieht das Leben an uns vorbei, ohne dass wir es bemerken. Irgendwann sind wir alt und fragen uns: Haben wir überhaupt gelebt? Wie viele Paare sind abends sogar zu erschöpft, miteinander zu schlafen. Tun sie es gelegentlich, dann reiben sie nur ihre Geschlechtsteile aneinander, ohne jegliches Gefühl. Und wie viele Paare sprechen kaum noch miteinander.“

Diwata tobte: „Wie kannst du so etwas sagen? Woher weißt du das?“

Später wurde sie nachdenklich. Entweder hatte er kein Vertrauen darin, dass sie niemals wie diese Paare werden würden, oder er hatte das, was er sagte, selbst schon einmal erlebt. Sie sah ihn lange sehr ernst an. Dann sagte sie mit leiser, aber bestimmter Stimme:

„Marian, sag mir die Wahrheit: Sprichst du aus Erfahrung?“


Marian wurde es gleichermaßen heiß und kalt. Er zitterte vor Anspannung. Spätestens jetzt war der Augenblick gekommen, an dem er ihr endlich alles über Lesley und seine Tochter Eliza erzählen musste. Doch er brachte es nicht fertig, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Dann kam der erlösende Gedanke. Während der Film seiner Erinnerung bis zu seiner Jugend zurückspulte, hatte er plötzlich seine Eltern vor Augen, die genau jenes langweilige Leben geführt hatten, von dem er sich wünschte, dass es ihm selbst für immer erspart bleiben möge. „Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich an die Ehe meiner Eltern denke. Sie leben zusammen, ohne sich wirklich zu lieben. Alles ist eine perfekt abgestimmte Routine. Sie funktionieren wie zwei füreinander programmierte Roboter.“ Marian war erleichtert, die Wahrheit über andere gesagt und dabei seine eigene Wahrheit verschwiegen zu haben. Denn sein Eheleben mit Lesley war zum Schluss ganz ähnlich wie die freudlose und langweilige Ehe seiner Eltern verlaufen. Er schämte sich nicht einmal seiner eigenen Heuchelei und fühlte sich wie ein Sieger, ohne zu siegen, ein scheinbar makelloser Held. Wieder einmal verbarg der Schein das Sein.

Diwata stöhnte. „Warum ist die Leidenschaft oft von solch kurzer Dauer?“, fragte sie sich traurig. Ältere Ehepartner, die sich in der Langeweile ihres tristen Daseins unter einem Dach entfremden, sind schließlich keine Seltenheit. Marian konnte angesichts der „drohenden“ Hochzeit nun auch den Bruch mit seinen Eltern nicht mehr verschweigen. Sie riet ihm, sich mit ihnen wieder zu versöhnen. Wäre es nicht peinlich und schmerzhaft für ihn, ohne Eltern am Altar das Jawort zu geben? „Hab keine Angst, dass Eintönigkeit eines Tages unsere Liebe erstickt. Erinnern wir uns immer wieder an das, was wir zusammen erlebt haben. Lass uns immer wieder Salomo und Sulamith werden“, lachte sie. „Ich muss aber ehrlich zugeben, dass ich mich nur noch vage an jenen Abend erinnere. Bacchus ist schuld daran.“


Diese Worte trafen Marian ins Herz. Auf einmal spürte er, dass er mit dieser Frau alt werden konnte. Ihr würde es tatsächlich gelingen, die Frist zu verlängern und Flammen der Leidenschaft immer wieder neu zu entfachen. Auch im Alter wäre der Traum noch nicht vorüber.


Eines Abends kam er müde von der Arbeit nach Hause. Sie saß auf dem Bett, bekleidet mit einem weißen Nachthemd, ihre schwarzen langen Haare fielen lose auf die Schulter. Sie sah ihn mit ihren braunen, mandelförmigen Augen lange an und lächelte. Was für ein berückender Blick! Anschließend führte sie ihn ins Esszimmer. Die vorzüglichsten Fisch- und Muschelgerichte standen da auf dem Tisch, ein köstlicher Duft erfüllte den Raum. Wieder einmal feierten sie das Leben, aßen schmackhafte Speisen, tranken erlesene Weine und genossen einen wunderbaren Abend, leicht berauscht von Bacchus Trauben. Er wusste auf einmal nicht mehr, weshalb er eben noch solche Angst davor gehabt hatte, diese wunderbare Frau zu heiraten. Nun war jegliche Angst überwunden. Im Kerzenschein flüsterte er ihr ins Ohr: „Ja, ich will dich heiraten. Jetzt ist es offiziell.“ Beide lachten. Ein langer, leidenschaftlicher Kuss besiegelte das unvergessliche Mahl.


Diwatas Eltern fiel ein Stein vom Herzen. Sie freuten sich darüber, dass Marian endlich auch der geplanten Hochzeit zustimmte, was in ihren Augen eine Selbstverständlichkeit war. Ihrer Ansicht nach hätten Tochter und Schwiegersohn schon viel eher Hochzeitspläne schmieden sollen. Marian geriet hingegen unter Druck. Spätestens jetzt sollte er erzählen, dass er noch verheiratet war, von seiner Frau in Trennung lebte und mit ihr bereits eine gemeinsame Tochter hatte. Doch das brachte er nicht fertig. Er wusste, dass er seine Beziehung mit Diwata aufs Spiel setzen würde. Ihre Eltern würden ihn nicht mehr als Schwiegersohn akzeptieren, höchstwahrscheinlich würde er sich von ihr trennen müssen. Obwohl er kein Asiate war, legte auch er großen Wert darauf, sein Gesicht nicht zu verlieren. An Trennung wollte er gar nicht denken. Diwata bedeutete ihm alles. Verlöre er sie, würde er verrückt werden. Dessen war er sich sicher. Der Preis jedoch, den er für ein gemeinsames Leben mit ihr zahlen musste, war hoch. Schon jetzt erschauderte ihn der Gedanke an die komplizierte und nervenaufreibende Scheidung mit Lesley, die ihm bevorstand. Wäre er überhaupt dazu imstande, wo doch seine Frau noch immer in einem Winkel seines Herzens wohnte? Den Verlust seiner Tochter konnte er ebenfalls nicht ertragen. Was verlangte das Leben von ihm ab!


Alles, was er brauchte, war Zeit. Es gelang ihm, Diwatas Eltern davon zu überzeugen, den Ehebund nicht zu überstürzen, zumal die Feierlichkeiten sehr teuer werden würden. Seine derzeitigen Ersparnisse reichten für die enormen Kosten nicht aus. Man einigte sich auf Oktober 1992 als erst möglichen Hochzeitstermin, vorausgesetzt, bis dahin könnte alles finanziert werden. Als Alternative schlug Marian Dezember 1992 oder Januar 1993 vor.


Nach langen und erbitterten Auseinandersetzungen stimmten Diwatas Eltern schließlich einer standesamtlichen Hochzeit zu. Sie waren zwar weltoffen und tolerant, zugleich aber auch strenggläubige Katholiken. Marian hatte aber darauf bestanden, in einer katholischen Kirche nicht das Jawort zu geben, da er nicht gläubig sei und eine kirchliche Eheschließung mit seinem Gewissen nicht vereinbaren konnte. Es war Diwatas unermüdlichen Vermittlungsbemühungen zu verdanken, dass ihre Eltern letztendlich von ihren Forderungen nach einer Trauung vor dem Altar abließen. Nach wochenlangen Diskussionen standen schließlich auch die Orte der Eheschließung fest. Es sollte sowohl auf den Philippinen als auch in Deutschland zwei große Hochzeitsfeiern geben. In Manila war geplant, zweihundert Gäste einzuladen, die in zahlreichen Kalesas, traditionellen Kutschen, von der Intramuros umzäunenden Stadtmauer bis zum 1912 erbauten Nobelhotel Manila gebracht werden sollten, in dem schon prominente Gäste wie Hemingway, Mac Arthur oder der Herzog von Windsor übernachtet hatten. Dort sollte es dann ein großes Bankett mit allen erdenklichen Speisen und Getränken der regionalen Küche geben. Keineswegs bescheidener war die geplante Hochzeit in Deutschland. Sie war auf der Burg Rheinfels im sagenumwobenen Loreleytal vorgesehen. Dass auch hier das Festmahl nicht schlicht sein durfte, versteht sich von selbst.


Im Oktober1991 musste Marian sehr viel arbeiten. Er selbst wollte unbedingt einen guten Eindruck bei seinem Chef hinterlassen, um die einjährige Probezeit zu bestehen. Deshalb machte er viele Überstunden. Marian wurde immer erfolgreicher und es gelang ihm, viele Zertifikate und Aktien an immer mehr Kunden zu verkaufen. Marians Chef war sehr zufrieden mit ihm. Alles schien auf einem guten Weg zu sein, bis sich eines Tages Lesley unverhofft zurück meldete. Sie war außer sich vor Wut, dass Marian monatelang nicht angerufen hatte. Seit seinem Aufenthalt im Santa Clara Krankenhaus im Juni hatte er nichts von sich hören lassen. Marian fasste sich ein Herz und erzählte zum ersten Mal seine Liebesgeschichte mit Diwata sowie die geplante Hochzeit. Ungefähr eine Minute blieb Lesley still, um ihn dann lautstark zu verunglimpfen. Es folgten regelrechte Kanonenschüsse von englischen Beschimpfungen: asshole, wanker, son of a bitch, idiot… . Lesley war außer sich vor Wut. Wie konnte es Marian wagen, sie so zu erniedrigen? Schließlich waren sie noch verheiratet. Er sollte es zu spüren bekommen! Lesley schrie so laut, dass man ihre wutentbrannte Stimme im Arbeitszimmer hören konnte, bevor sie hysterisch anfing zu weinen. Marian ließ alle Beleidigungen über sich ergehen. Hatte Lesley nicht recht? Hatte er etwa liebevolle Worte erwartet?


Ihm wurde übel. Alles drehte sich. Er musste sich beurlauben lassen. Auf einer Bank im Ayalapark wollte er sich erholen, wurde aber vom Schmerz überwältigt. Tränen rannen über sein Gesicht, aber niemand schenkte seiner Traurigkeit auch nur die geringste Beachtung. Seine Gedanken wanderten zu jener Zeit zurück, als seine Ehe noch intakt war. Im Geiste blickte er in Lesleys tiefe schwarze Augen und lauschte dem fröhlichen Lallen seiner kleinen Tochter. Innig versank er in feurigen Küssen unter funkelnden Sternenzelten lauer Sommernächte im . Sollte er wirklich alles aufgeben, was seine Gattin und er aufgebaut hatten? Wie vielen ungläubigen Fremden war es schließlich vergönnt, eine attraktive Frau mit indischen Wurzeln zu heiraten? Waren sie nicht jung genug, aus eigener Kraft dem Stumpfsinn zu entrinnen und ein neues Leben zu wagen? Auf welches Abenteuer hatte er sich eingelassen? Schon fasste er den Entschluss, in einem Abschiedsbrief an die Geliebte endlich Klarheit zu schaffen und so schnell wie möglich Manila für immer zu verlassen. Dann besann er sich eines Besseren. Ohne Lesley konnte er zwar nicht leben, aber ohne Diwata wollte er auch nicht sein. Wie töricht wäre es, einen gerade erst begonnenen Traum vorzeitig zu beenden! Er musste ohnehin bald notgedrungen nach London zurückkehren. Vielleicht würde dort das Schicksal sein Leben unerwartet und bahnbrechend verändern. Im Entschluss, die Dinge ruhig auf sich zukommen zu lassen, fand er schließlich Trost.


Einige Tage später rief Marian an. Lesley schien sich gefangen zu haben. Ihre Stimme klang sachlich, aber eiskalt. Dass eine andere Frau nun ihren Platz eingenommen habe, könne sie akzeptieren, sagte sie, aber nur unter einer Bedingung: Eliza müsse bei ihr bleiben, er dürfe sie nie wieder sehen. Marian wurde es schwer ums Herz, doch er durfte seine Traurigkeit nicht zeigen. Er musste so tun, als ob alles in Ordnung wäre.


Zu Marians Erleichterung rief Lesley daraufhin nicht mehr an. Seine Frau bedeutete ihm zwar noch immer sehr viel, aber die Kunst des Verdrängens beherrschte er meisterhaft. Er verstand es, Probleme aufzuschieben oder zu vertuschen. Er tat einfach so, als gäbe es gewisse Konflikte gar nicht.

WAS BLEIBT, IST DAS LEBEN

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