Читать книгу WAS BLEIBT, IST DAS LEBEN - Oliver Klamm - Страница 7

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Es folgten ruhige und harmonische Monate, die ganz im Zeichen der bevorstehenden Hochzeit standen. Ein besonderer Höhepunkt war Diwatas vierundzwanzigster Geburtstag am 26.Oktober 1991. Die große Geburstagsparty fand im Harbor View Restaurant statt, einem der romantischsten Orte von Manila. Alle Geburtstagsgäste erfreuten sich eines traumhaften Blickes auf den Hafen. Selbst nachdem sich die als purpurner Ball im Meer spiegelnde Sonne verabschiedet hatte, erstrahlte der Hafen noch in farbenfrohen Lichtern, die von Grün über Violett bis zu Blau reichten. Nicht weniger bunt war die ungeheure Fülle der Meerestiere im Aquarium: Hummer, Shrimps, Garnelen, Katzenfische, Lachse, Thunfische. In vollen Zügen genossen die fünfzig geladenen Gäste die köstlichen Speisen vom riesigen Buffet. Sushi in allen Variationen wurde ebenfalls serviert. Natürlich durften auch einheimische Fischgerichte nicht fehlen: Singsang, eine philippinische Art der Bouillabaisse, Lapu-lapu, in süß-saurer Soße angerichtete Barscharten, Tanguin bin guema, spanische Makrelen, Banguibang, mit Gemüse oder Kartoffeln gefüllter Milchfisch sowie Pusitama, Tintenfisch, den man auf verschiedene Arten isst, auch in der eigenen Tinte. Als Getränke gab es Cocktails und Fruchtsäfte, die in allen nur erdenklichen Farben erstrahlten. Natürlich mundeten auch diesmal wieder erlesene Weine aus verschiedenen Ländern. Nicht weit entfernt spielte ein begabter Pianist romantische Klaviermusik. Unter den Gästen waren alle Freunde von Diwata, natürlich auch jene netten und geistreichen jungen Leute aus verschiedenen Ländern, die Marian auf Diwatas originellen Partys kennen gelernt hatte. Alle waren äußerst liebevoll zu dem jungen Deutschen, der jetzt nicht nur Teil der Familie war, sondern auch zum Kreise der Verwandten und Freunde gehörte. Nur Imelda schien sich etwas distanzieren zu wollen. Zu Marians Erstaunen sprach sie auf der ganzen Party fast kein Wort mit ihm. Was hatte er ihr bloß getan?


Sogar als zwei Kellner in weißen Anzügen eine riesengroße, dreistöckige Geburtstagstorte aus Marzipan in den Raum trugen, wirkte Imeldas Lächeln gequält. Alle waren schon satt, nachdem sie ihre Bäuche mit den vielen vorzüglichen Speisen des Buffets gefüllt hatten. Niemand hatte erwartet, dass eine Torte dieses Umfanges serviert werden würde. Die Torte trug die bedeutungsvolle Aufschrift Diwata and Marian = ♥. Bevor sie angeschnitten wurde, sangen alle Gäste inbrünstig: Happy birthday to you! Diwata, mit Geschenken überhäuft und zu Tränen gerührt, bedankte sich mit folgenden Worten bei ihren Gästen: „Ich weiß gar nicht, wie ich euch allen danken soll. Ihr seid wunderbar. Womit habe ich so viele Geschenke verdient? Mein größtes Geschenk jedoch ist mein zukünftiger Mann: Ein Geschenk des Himmels.“

Imelda konnte dem nun folgenden stürmischen Applaus nichts abgewinnen. Teilnahmslos und mit ernster Miene stand sie da. Was war los mit ihr? Ging es ihr nicht gut, oder erahnte sie, dass dem heute so freudestrahlenden Paar nur noch wenige ungetrübte Monate vergönnt blieben? Sah sie das nahe Ende des Traumes voraus? Niemand schien sich darüber Gedanken zu machen, am wenigsten Diwata, das Geburtstagskind und ihr zukünftiger Mann. Bis in die frühen Morgenstunden wurde ausgelassen geplaudert, gesungen, gelacht und getanzt.


Eine Woche Urlaub stand Marian noch zu. Das Paar entschied sich für die Insel Palawan, einem Eldorado für Naturfreunde. Eine schwüle Hitze empfing Marian und Diwata am Spätabend des fünfzehnten Dezembers 1991 auf dem Flughafen von Puerto Princesa. Müde fielen sie später in die Betten der bescheidenen, aber originellen Banwa-Pension.

Bereits für den ersten Urlaubstaghatte das Paar etwas ganz Besonderes geplant. In einem überfüllten Kleinbus fuhr es von Puerto Princesa zum Mount Cleopatra, dem mit 1593 Metern höchsten Berg im Norden von Palawan. Die Fahrt führte durch eine stellenweise dicht bewaldete Landschaft. Viel zu schnell fuhr der Fahrer auf der serpentinenreichen Straße und hupte ausgelassen. In den dichten Wäldern um den Mount Cleopatra wohnen die vom Aussterben bedrohten Batak. Marian und Diwata wollten unbedingt einige der Ureinwohner im Norden von Palawan besuchen. Zuerst mussten beide jedoch durch den Urwald wandern. Eine Strapaze! Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel. Die durch extrem hohe Luftfeuchtigkeit bedingte Schwüle war fast unerträglich.


Ihr Weg führte durch dichtes Gehölz, vorbei an possierlichen Affen, Schlangen auf Mangrovenbäumen und in Flüssen dösenden Krokodilen. Schließlich näherten sie sich mit pochendem Herzen einer kleinen Siedlung jenes Stammes. Sie waren gut vorbereitet und wussten, dass sie nur als Freunde empfangen werden könnten, wenn sie ihrem Häuptling Geschenke mitbringen würden. In der Ferne sahen sie schließlich die Bambushütten. Als sie das Dorf betreten wollten, trauten sie ihren Augen nicht. Mit Speeren bewaffnete, nur mit Lendenschurz bekleidete Männer umzingelte sie. Schweigend und mit feierlichem Schritt kam Häuptling Marting Gupo, von den Einheimischen Kapitan genannt, auf sie zu: „Was führt euch zu uns? Mit welchem Ziel seid ihr gekommen?“ Marting Gupo war einer der wenigen Batak, die Tagalog sprechen konnten. Die meisten sprachen ihre eigene Batak- Sprache, derer aber Diwata nicht mächtig war. Diwata antwortete: „Wir sind gekommen, um eure Sitten und Gebräuche kennenzulernen. Wir sind hier mit friedlichen Absichten.“ Als Beweis für ihr gutes Bestreben übergab Diwata dem Oberhaupt der Batak-Gemeinschaft Salz, Zucker, Trockenfisch, lebendes Geflügel sowie Tabak. Gupo nickte den Männern zu, die sofort mit ihren Speeren verschwanden und unbewaffnet in Begleitung ihrer Frauen zurückkamen. Es herrschte ein Sprachengewirr. Das einzige Wort, was Diwata verstehen konnte, war Pakay. Sie wusste, dass es in der Batak-Sprache Absicht bedeutete.


Offensichtlich hatte Marting Gupo ihnen von ihrem kurzen Begrüßungsgespräch berichtet. In Begleitung des ganzen Dorfes führte Gupo Marian und Diwata zu einem großen, von Bambushütten umgebenen Platz. Er bat sie, sich ins feuchte und warme Gras zu setzen. Die tropische Sonne brannte auf die Strohhüte der beiden Reisenden. Sie wurden von Frauen auf der linken und von Männern auf der rechten Seite umkreist. Die Frauen trugen kurze Röcke aus Baumrinde. Sie waren barfuß und barbusig, ihre Haut war dunkelbraun. Mittellange, lockige schwarze Haare bedeckten ihre nackten Schultern, geschmückt mit getrockneten Gräsern, Perlen und Muscheln. Marian starrte sie an, bis Diwata ihn in den Arm kniff und aufforderte, dies sofort zu unterlassen. Sie ärgerte sich. Glaubten diese Europäer, sie könnten Ureinwohner wie Tiere im Zoo behandeln? Zu Diwatas Erleichterung schien keinen der Frauen Marians unangemessenes Verhalten aufgefallen zu sein. Die Männer waren nur mit Lendenschurz bekleidet und teilweise tätowiert. Auch sie vermieden einen direkten Blickkontakt mit den Weitgereisten. Diwata stellte ihren zukünftigen Mann vor. Sie nannte seinen Namen und fügte hinzu, er komme aus dem weit entfernten Land der Bleichgesichter und der Langnasen. Wie gut war es, dass Marian sie nicht verstehen konnte. Als Diwata ihren Namen nannte, standen Frauen und Männer auf und verbeugten sich einzeln vor ihr. Im pantheistischen Glauben der Batak bedeutet das Wort Diwata guter Geist. Die Dorfgemeinschaft kniete also nieder und bat die Fremde aus Manila um eine reiche Reisernte.


Während die Männer auf die Jagd gingen, zeigten die Frauen Marian und Diwata die einfachen Häuser des Dorfes. Fernab jeglicher Zivilisation sahen sie weder Fernseher noch Computer oder Stereo-Anlagen. Ganze Familien schliefen in einem Zimmer in Hängematten. Statt moderner Küchen gab es Kochecken. Machte das Paar aus Manila eine Reise in eine längst vergangene Zeit? Die Gastfreundschaft der Frauen war beeindruckend. Als Begrüßung sangen sie seltsam klingende Lieder, die aus einer längst vergessenen Zeit zu stammen schienen.


Gegen Abend kamen die Männer mit fetter Beute von der Jagd zurück. Schlangen, Marderkatzen und Maushirsche hatten sie in großer Zahl gefangen, ja sogar ein Krokodil. Abends wurden sie an einem großen Feuer gebraten, um das Frauen und Männer tanzten. Das Fleisch wurde mit zerstampften Kräutern und Süßkartoffeln serviert. Dazu gab es lamba lamba, Palmen- und Reisschnäpse, sowie Rum. Alle berauschten sich an den Getränken.


Nachts lagen Diwata und Marian in seiner Hängematte unter einem großen Moskitonetz und konnten aufgrund der starken Hitze nicht einschlafen. Bis auf die unheimlichen Geräusche nachtaktiver Vögel sowie das Schreien des einen oder anderen Babys herrschte eine unheimliche Ruhe. Marian ging aus der Bambushütte und sah einen atemberaubenden Sternenhimmel, wie er ihn niemals zuvor gesehen hatte. Ein Schwarm von Fledermäusen flog über ihn hinweg. Er ging wieder in die Hütte. Gegen drei Uhr morgens schlief er endlich ein. Beide wurden von kreischenden Affen geweckt, die bis vor die Fenster ihrer Hütte vorgedrungen waren.


Am darauffolgenden Morgen verabschiedeten sie sich von den Batak und wanderten wieder stundenlang durch den tropischen Regenwald. Jetzt am Vormittag war es schon sehr feucht.


Nach ihrer mehrstündigen, strapaziösen Wanderung nahmen Diwata und Marian den Bus und fuhren durch eine atemberaubende Berglandschaft zum Palmenstrand von Sabang. Nicht weit entfernt vom Strand schlief das Paar in einer einfachen Holzhütte und ließ sich am nächsten Morgen zu jener riesigen Höhle schippern, durch die der längste schiffbare unterirdische Fluss der Welt fließt: Der Underground River. Vorher bestiegen sie ein kleines Paddelboot. Schlangen hingen von den Ästen der Mangrovenbäume hinab, Affen sprangen von Ast zu Ast.


Sobald sie jedoch in die Höhle gedrungen waren, empfing sie eine völlig andere Welt. Niemals zuvor hatten sie solch beeindruckende Stalaktiten und Stalagmiten gesehen, mal in der Form einer Kathedrale, dann wieder in der Gestalt der schmerzensreichen Jungfrau Maria und vielen anderen Höhlenformationen. Im Schein der Kerosinlampen wirkten sie furchterregend und Achtung gebietend. Tausende von Schwalben und Fledermäusen wirbelten um die Tropfsteine herum. Waren die Fledermäuse Vampire, die den menschlichen Gästen bald das Blut aussaugen würden, oder hatten sie friedliche Absichten? Wer konnte das schon genau wissen! Die ganze Höhle wirkte gespenstisch und unwirklich. Nach ihrer Rückkehr nahm das erschöpfte Paar noch ein entspannendes Bad am Strand von Sabang, wurde dabei allerdings von unzähligen Sandfliegen belästigt.


Die folgenden Tage in El Nido entsprachen jedem Klischee eines gelungenen Strandurlaubes. Mit einem bezaubernden Farbenspiel begrüßte ein berückender Sonnenaufgang den Tag. Es folgten ausgelassene Stunden, die sie abwechselnd am sonnendurchfluteten Strand und im warmen Meer verbrachten. Abends genoss das hungrige Paar köstliche Fischgerichte sowie die traditionelle Suppe aus Vogeleiern. Nachts lauschten sie eng aneinander geschmiegt dem Meeresrauschen.


Am vorletzten Tag erkundeten Diwata und Marian das Baracuda- Archipel mit seinen mannigfaltigen kleinen, im Meer verstreuten Inseln. Sie bewunderten zahlreiche Steinklippen, die wie Schiffe aus glasklarem Wasser aufstiegen. Wie eine Traumlandschaft wirkten die weißen Strände sowie die sich hinter schroffen Felsmauern versteckenden Lagunen. Als begeisterter Taucher konnte es sich Marian nicht entgehen lassen, die atemberaubenden Unterwasserlandschaften zu erkunden. Im wahrsten Sinne des Wortes tauchte er in eine andere Welt und erfreute sich der Schwärme farbenprächtiger Fische, Barrakudas oder Schildkröten.


Noch einmal war es ihnen vergönnt, mit Leib und Seele Träumer zu sein. Sie durften sich eines Wunderlandes erfreuen, dessen Tore nur für sie geöffnet zu sein schienen, während sich am Horizont pechschwarze Wolken türmten. Das Liebespaar glaubte immer noch, es könne seinen Traum bis in die Unendlichkeit verlängern und sich vom Leben durch mehrfach verschlossene Pforten schützen. Die brutale Wirklichkeit mit all ihren Irrungen und Wirrungen wollte jedoch nicht mehr lange auf sich warten lassen. Sie gab Diwata und Marian nur noch eine zweitägige Schonfrist.


Bereits der Morgen des siebten Tages begann wie ein Traum. Ein betörender Sonnenaufgang bettete Meer und Strand in Purpur und Scharlachrot. Köstlich frische Muscheln genossen sie in einem Strandrestaurant. Dazu aßen sie grüne Früchte und Reis. Sie verzehrten so viel, dass sie kaum noch laufen, geschweige denn im Meer schwimmen konnten. Mittags probierten sie in einem kleinen Strandrestaurant etwas Exotisches: Tamilok, eine Molluske, die mit äußerster Vorsicht aus dem Stamm eines Mangrovenbaumes heraus gepult wird. Der Tamilok wird im Volksmund auch „Waldwurm“ genannt. Ekelerregend wie ein Wurm sah das glitschige grüne Ding auch aus, schmeckte jedoch so vorzüglich wie eine süße rohe Auster. Vor allem Marian genoss jenen Tamilok, von dem gesagt wird, dass er die Potenz fördere. Zubereitet in einheimischem Kokosessig, Sukang tuba tuba genannt, schmeckte das Weichtier noch besser als gewöhnlich. Kokosmilch und Mangosaft mundeten ebenfalls vorzüglich.


Am Nachmittag fuhren sie mit einem kleinen Boot zu einer kleinen Insel namens Matinloc: Insel der Morgenröte. Nagani, ein alter Seemann mit braunem, faltigem Gesicht, ruderte mit gleichmäßigen Bewegungen. Es war windstill, das tiefblaue Meer war ruhig. Das Plätschern der Ruder störte die meditative Stille keineswegs, sondern war ein Teil von ihr und lullte das Paar in den Schlaf. Unter der angenehm warmen Sonne träumte es sich besonders gut. Wirklichkeit und Traum verschmolzen so ineinander, dass man sie nicht mehr voneinander unterscheiden konnte.


Als sie kurz vor ihrer Ankunft aufwachten, trauten Diwata und Marian ihren Augen nicht. Sie sahen eine traumhaft schöne, mit Regenwald bedeckte Insel, die von weißen Sandstränden und Korallenriffen umgeben war. Sie setzten sich an einen menschenleeren Strand und beobachteten die vielen sich im blauen Meer tummelnden bunten Fische. Anschließend fuhren sie mit einer Kutsche zur mittleren Westküste der Insel, da auf dem gesamten Eiland keine Autos fahren durften. Im warmen, türkisblauen Wasser schwammen sie durch ein Tor aus Felsen. Es war wie eine Reise in eine Märchenwelt. Nun erschien ein besonders malerischer Strand, der seiner Einsamkeit wegen Secret Beach genannt. Diwata und Marian verstanden sofort die Bedeutung des Namens, denn das Gestade war menschenleer. Diwata und Marian fühlten sich wie Adam und Eva, die zum ersten Mal das Paradies betraten. Hohe, schroffe Klippen schirmten die Sandbucht vom Rest der Welt ab. In dieser Traumwelt konnte Marian Vergangenheit und Zukunft vergessen. Nur das Jetzt zählte. Selbst allein hätte sich Marian an jenem geheimnisvollen Strand überaus beglückt gefühlt, doch etwas Entscheidendes hätte gefehlt: die bezaubernd schöne Frau an seiner Seite, durch die seine Umwelt zu einem wahrhaftigen Eden wurde. Marian und Diwata blickten schweigend auf das Meer, bis Diwata plötzlich Johann Wolfgang von Goethes Nähe des Geliebten zitierte:


Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer

Vom Meere strahlt

Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer

In Quellen malt.


Im Laufe ihrer Beziehung hatten Marian und Diwata viele wunderschöne Sonnenauf- und untergänge am Meer gesehen. An das großartige Farbenspiel über dem Wasser hatten sie sich fast gewöhnt. Selbst Wunder der Natur können zur Routine werden, wenn es derer zu viele gibt. Keiner ähnelte aber auch nur annähernd dem Sonnenuntergang am Geheimen Strand. Ein leuchtendes Gelb verschmolz zu einem intensiven Orange, das sich in ein noch kräftigeres Rot verwandelte. Nackt fotografierten sie sich gegenseitig in allen nur erdenklichen Posen. Anschließend hielt der Selbstauslöser von Marians Kamera Bilder des sich im Lichte des Sonnenunterganges innig umarmenden entblößten Paares für die Unendlichkeit fest. Sie wollten ihre gemeinsam erlebten, unvergesslichen Augenblicke des Glücks auf Fotos verewigen, inbrünstig hoffend, dass diese alle Zeiten überdauern würden.


Das Violett des Sonnenunterganges am Horizont über dem Meer verschwand. Sterne und Mond leuchteten mit unvorstellbarer Helligkeit am Himmelszelt. „Was machen wir jetzt?“, fragte Diwata ängstlich. „Wir können auf keinen Fall zurück schwimmen. Wir müssen hier übernachten. Ohne Essen. Ohne Kleidung.“


Sie schmiegte sich an ihn, doch auch die Nähe des Geliebten konnte ihre Furcht nicht vertreiben. Was würde geschehen, wenn sie plötzlich von einem Taifun oder einer Flutwelle überrascht werden würden? Auf einmal musste sie lachen. Sie lachte über dummen Gedanken, die absurde Situation, ihre Naivität und Verrücktheit. Marian verstand nicht, warum sie ausgerechnet jetzt der ungehemmten Fröhlichkeit verfiel, doch er lachte mit, als ob sie damit böse Geister der Nacht und furchterregende Nixen vertreiben könnten, bis beide plötzlich ihres Gelächters müde wurden und wie zwei Spatzen im Nest dicht aneinander geschmiegt friedlich einschliefen. Nachdem sie in den frühen Morgenstunden aufgewacht waren, flüsterte Diwata in das Ohr ihres Geliebten: „Heute bist du wieder Salomo und ich Sulamith.“


Wie ein tobender Wirbelsturm eroberte sie ihn mit unvergleichbarer Leidenschaft. Sie lechzte danach, dass er ihr gehörte, ihr und niemandem sonst. Sie wollte, dass er sich auch nach Millionen von Jahren noch an die unvergessliche Nacht am „Geheimen Strand“ erinnern würde. Und sie eroberte ihn mit ihrer Stimme voller Zärtlichkeit, Leidenschaft und Liebe, mit ihren zarten Händen, mit ihren sinnlichen Lippen, mit ihrer Zunge und mit ihrem Mund. Ehe er sich versah, saß sie auf ihm und saugte sein Glied mit ihrem Geschlecht regelrecht auf. Zwei Körper schimmerten im Mondschein. Felsen und Meer wurden Zeugen einer wilden Reiterin, die ihre Arme dem Himmel entgegenstreckte. Es war, als wollte sie die silbrig leuchtenden Sterne und den sich in der Unendlichkeit des Ozeans spiegelnden Mond lobpreisen. Es war, als wollte sie Gott im von ihm erschaffenen Eden frohlocken. Im Garten des Schöpfers verschmolzen Göttin und Gott zu einem Kunstwerk, als hätte der Mond es aus weißem Marmor geformt. Alles schien so unwirklich und doch so wahrhaftig. Träumte sie? War sie wach? Sie konnte Traum und Wirklichkeit nicht mehr voneinander unterscheiden.


Nun hatte er die Führung. Er lag auf ihr. Sie spreizte ihre Beine und spürte wie sein Geschlecht immer tiefer in sie eindrang. Sie streckte ein Bein zwischen seinen aus, damit sein Glied noch tiefer in ihren Bauch vorstoßen konnte. Sie wollte seinen Penis ganz und gar in sich aufnehmen. Ihren Blick nach oben gerichtet sah sie Mond und Sterne. Sie selbst waren Engel, die in ihrem Sinnesrausch von Stern zu Stern schwebten. Sie selbst waren Gestirne der Galaxis, schwebend in der Unermesslichkeit des Alls, während all ihre Sinne magnetisch von der innigen Verschmelzung angezogen wurden. Ihre Körper bebten im Rhythmus zügelloser und völlig enthemmter Bewegungen, verschmolzen im Gleichmaß des schäumenden Meeres, bis Säfte aus ihnen quollen und sich ineinander fließend zu einem unkontrollierbaren Strom vereinten. Hohe Schreie der Lust erklangen, begleitet vom Rauschen des Meeres.


Sie lagen nackt am Strand. Sie hatten es wieder getan, doch nicht wie vorher. Schon seit Monaten hatten sie sich nicht mehr mit Kondomen geschützt, seit Wochen hatte sie ohne sein Wissen auch die Pille nicht mehr genommen. Möglicherweise war die vergangene Nacht am „Geheimen Strand“ eine schicksalhafte Nacht, deren Folgen ihr Leben und das Leben ihres zukünftigen Mannes vollkommen verändern sollte. Ihres zukünftigen Mannes? Schon seit langem war er ihr Mann, auch ohne Trauschein. Ihr war es vollkommen gleichgültig, ob sie noch vor ihrer Hochzeit eine Familie würden. Was bedeuteten jetzt noch Konventionen? Sie stand auf und schmiegte sich seitlich so an ihn, dass ihr Herz genau sein Herz berührte. Zwei Herzen schlugen im gleichen Takt aufeinander, ineinander zu einem Herzen verschmelzend. Mit liebevoller und erregter Stimme sagte sie im Takte ihres gemeinsam pochenden Herzens: „Von nun an bleiben wir immer zusammen. Selbst der Tod kann uns nicht mehr trennen.“ Und mit Goethes Worten sagte sie: „Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne, du bist mir nah.“


In Trance sprach Marian ihr nach. Seine rauschhafte Verzückung war dermaßen groß, dass er noch nicht einmal erahnen konnte, von welch schicksalhafter Bedeutung seine eigenen Worte waren.

Amors Schatten

Nach Marians und Diwatas Rückkehr hätte alles wie vorher sein können. Dieselbe stilvoll eingerichtete und weihnachtlich geschmückte Villa in Makati, die gleiche Weihnachtsbeleuchtung im Ayala Park. Es war der 23. Dezember, ein Tag vor Heiligabend, doch Marian hatte sich verändert. Er wirkte in sich gekehrt, zerstreut und bedrückt. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Beim Frühstück fragte ihn Diwata: „Was ist los mit dir? Dein Körper ist hier. Mit deinen Gedanken aber bist du ganz woanders. In Deutschland?“


Es war erstaunlich, wie sie seine Gedanken lesen konnte. Er hatte tatsächlich an seine Eltern gedacht, mit denen er seit langem keinen Kontakt mehr hatte. In Anbetracht der bevorstehenden Hochzeit würde er jedoch über seinen Schatten springen und sich mit ihnen wieder versöhnen müssen. Der Gedanke an die Rückkehr nach Hintertupfingen war für ihn fast unerträglich. Würden seine Eltern Diwata akzeptieren?


Marian hatte ein mulmiges Gefühl, erst recht angesichts der Tatsache, dass er mit ihnen auch über seine gescheiterte Ehe mit Lesley Indira Bhattacharya Smith sprechen müsste. Er wünschte, er könnte als mondäner Held in seine Heimatstadt zurückkehren. Stattdessen würden seine Eltern ihn für einen Versager halten. Doch was auch immer passieren würde: Er musste sich den Dingen stellen.


Marian konnte nicht mehr seiner Verantwortung entfliehen. Das unbeschwerte Leben, geprägt von Sonnenuntergängen, köstlichen Speisen, Festen jeglicher Art, originellen Partys, Aufenthalten auf exotischen Inseln und zügellosem Sex musste ein Ende haben. Aus der Traum! Er konnte nicht mehr weiter träumen, während sich pechschwarze Gewitterwolken am Horizont häuften. Er musste ein kräftiges Gewitter zulassen, um anschließend die Sonne wieder in reiner Luft zu genießen. Er war nicht naiv und wusste ganz genau, dass die Begegnung mit seinen Eltern und die unangenehmen Gespräche über die Scheidung in London sehr schwierig und nervenaufreibend sein würden. Dass eine persönliche Katastrophe ausbliebe, hoffte er. An sein Wiedersehen mit Lesley wagte er gar nicht zu denken, so sehr er sich auch auf seine Tochter Eliza freute. Fest stand für ihn nur, dass er sowohl nach Deutschland als auch nach England reisen musste, und zwar allein. Ihm war ebenso klar, dass der Aufenthalt in Europa lange dauern würde. Sehr lange. Die genaue Zeitdauer konnte er nicht voraussehen. Noch wollte er Diwata und ihre Familie so kurz vor Weihnachten nicht mit der baldigen Trennung von seiner über alle Maßen geliebten Freundin belasten. „Sind es deine Eltern, an die du denkst?“ Marian nickte. Bereits jetzt wurde ihm schwer ums Herz. Diwata kam zu ihm und legte ihren Arm auf seine Schulter: „Mach dir nicht so viele Gedanken. Deine Eltern sind auch Menschen. Irgendwann fahren wir zusammen nach Deutschland. Sie werden sich freuen, dich wiederzusehen, besonders mit einer solch hübschen Begleitung.“


Marian wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Wie groß war die naive Unbekümmertheit seiner Frau! Er wünschte, er könnte ihr und sich die bevorstehenden Probleme ersparen. Das war jedoch nicht möglich. Leider.


Weihnachten: Die ganze Familie feierte zusammen in Ermita. Alle wurden reichlich beschenkt: Kleider, Parfums und Schmuck für die Frauen, Schuhe…. Marians Kleiderschrank wurde um einige Hemden, Hosen und Anzüge reicher. Teure Anzüge. Designeranzüge. Marian und Diwata schenkten sich gegenseitig jeweils eine goldene Kette, beide mit einem Herzen. Besonders berührt war jedoch Marian, als er Diwatas persönlichstes Geschenk öffnete: ein Band selbst geschriebener Liebesgedichte. Eher praktisch, aber nicht weniger kostbar war das Geschenk von Diwatas Eltern für das zukünftige Ehepaar: edles Geschirr aus echtem chinesischem Porzellan.


Wenigstens jetzt gelang es Marian, seine Sorgen zu vergessen. Er briet sogar die mit Rosinen und Nüssen gefüllte Weihnachtsgans, damit Diwatas Familie ein traditionelles deutsches Weihnachtsessen kennen lernen konnte. Leider fehlten Rot- und Rosenkohl, weshalb die Weihnachtsgans mit Reis gegessen wurde. Nebenher gab es köstliche traditionelle Fischgerichte sowie gebratenes Spanferkel. Übersättigt, aber beglückt lief die ganze Familie zur barocken Kirche von Ermita, einer 1571 gegründeten ehemaligen Wallfahrtskapelle zu Ehren der auch heute noch inbrünstig verehrten Jungfrau Maria. Die Christmette dauerte zwei Stunden. Die schier unendlich scheinenden Gebete wurden durch wunderschöne Weihnachtslieder des einheimischen Chores unterbrochen. Marian, der mit Religion nicht viel am Hut hatte, betete zum ersten Mal, dass er alles, was im schwierigen Jahr 1992 auf ihn zukommen sollte, gut überstehen würde. Diwata war zwar zuversichtlicher als ihr Freund, doch auch ihre Gedanken kreisten ebenfalls um ihre gemeinsame Zukunft. Beide glaubten, dass ihre Liebe Berge versetzen könne. Dass sie nach Überwindung aller Hindernisse ein frohgemutes Paar werden würden, davon waren sie überzeugt. Wie gut, dass sie ihr Schicksal nicht voraussehen konnten.


Am ersten Weihnachtstag, dem 25. Dezember, wurde noch einmal geschlemmt. Nach einer Hummersuppe folgten in Wein gebratene Austern, Tintenfisch mit pikanter Soße sowie zahlreiche köstliche Salate. Süße Desserts aus Reis, Eiern, Süßkartoffeln, junger Kokosnuss und Maniok beendeten das Mahl. Getrunken wurden wie immer erlesene Weine sowie exotische Säfte. Auch am ersten Weihnachtstag ging die ganze Familie wieder zur Kirche. Der zweite Gottesdienst war nicht weniger lang.

Die Feste waren vorüber. Marian wirkte wieder bedrückt und traurig. Diesmal fasste er sich ein Herz und sprach mit Diwata. Beide lagen schon im Bett und hatten gerade das Licht ausgemacht, da sagte der Geliebte mit ernster Stimme: „Diwata, ich kann nicht länger hier bleiben und so tun, als sei das Leben nur ein Traum.“

„Was meinst du? Ist Weihnachten nicht ein Traum für die gesamte Christenheit?“ Diwatas Stimme klang erbost. Sie bäumte sich schmollend auf.

„Geburtstage, Weihnachten, Ostern …. was weiß ich, wie viele Feiertage noch, Partys, Reisen zu Traumständen…. Das schöne Leben löst unsere Probleme nicht!“

Diwata geriet nun völlig aus der Fassung. „Welche?“, entgegnete sie mit erregter Stimme. „Welche Schwierigkeiten haben wir?“

„Diwata, hör endlich auf zu träumen. Ich habe einen riesigen Konflikt mit meinen Eltern. Du kennst sie nicht. Es wird schwer sein, dass sie dich akzeptieren. Meine Eltern sind sehr kleinkariert und latent rassistisch.“

„Ach, so ist das“, sagte sie. „Ich bin also bei ihnen nicht erwünscht. Weißt du was, wir können auch alles wieder absagen. Aber wozu brauchen wir deine blöden Eltern überhaupt? Können wir nicht auch ohne sie feiern?“


Mit jedem Wort, das sie sagte, wurde ihre Stimme zorniger. Marian merkte, dass er jene Frau, die seine zukünftige Gattin werden sollte, sehr verletzt hatte. Doch was sollte er tun? Sollte er die Wirklichkeit verschweigen? Was wäre das denn für eine Auffassung von Glück? Marian biss sich auf die Lippe. Spätestens jetzt war wirklich der Moment gekommen, reinen Wein einzuschenken. Wann, wenn nicht jetzt, sollte er endlich darüber sprechen, dass sie gar nicht heiraten konnten, weil er bereits in festen Händen war? Spräche er jedoch über seine Ehe mit Lesley, dann wäre das Liebesglück mit Diwata sicherlich in einem Atemzug beendet. Er verfluchte sich selbst, dass er nicht schon während ihrer ersten schicksalshaften Begegnung im Rizal Park vor dem Konzert von Eraserheads gesagt hatte, dass er in Trennung lebte.


Diwata war außerordentlich tolerant. In Bezug auf Familie und Beziehungen war sie jedoch sehr emotional. Einen in Trennung lebenden Mann, noch dazu mit einer kleinen Tochter aus erster Ehe, könnte sie niemals akzeptieren. Wie würde sie reagieren, wenn ihre Reaktion schon auf die wenig schmeichelhafte, aber realistische Bemerkung über seine Eltern so emotional, ja geradezu hysterisch war?


Einen Abend später erfand er eine Ausrede, um schon zu Jahresbeginn nach Deutschland zu reisen. Er log mit ernster Miene, dass er die traurige Nachricht von einer schweren Erkrankung seiner Mutter erhalten hatte. Seine Lüge klang so glaubwürdig, dass Diwata versuchte, ihn zu trösten.

„Fliegen wir doch gemeinsam zu deinen Eltern. Was du mir über sie erzählt hast, war zwar wirklich verletzend, aber sogar sie sind nur Menschen. Deine Eltern brauchen jetzt unsere Unterstützung.“ Marian dankte ihr, versuchte ihr aber zu erklären, dass er selbst den Kontakt zu ihnen wieder aufbauen und deshalb allein reisen müsse. Diwata nickte verständnisvoll.


Der Tag des Abschieds näherte sich. Der einzige Lichtblick in dieser traurigen Zeit zwischen den Jahren war, dass Marian seine Probezeit als Finanzberater bestanden hatte. Doch selbst diese erfreuliche Tatsache wurde davon überschattet, dass er noch vor Beginn des Jahres 1992 schon wieder Urlaub nehmen musste. Wie sollte er es seinem Chef sagen? Wie würde dieser reagieren? Marian nahm sich ein Herz und erzählte ihm kurz vor Silvester, warum er nach Deutschland und nach England reisen musste. Sein Chef klopfte ihm auf die Schultern: „Immer diese Frauen. Entscheiden Sie sich für die Richtige.“ Doch dann wurde er sehr ernst: „Es muss Ihnen klar sein, Herr Morgenroth, dass Sie spätestens Mitte Januar wieder hier sein müssen und 1992 keinen weiteren Urlaub mehr bekommen. Sollten Sie Ihren Aufenthalt auch nur um einen einzigen Tag verlängern, dann muss ich Sie leider fristlos entlassen und mich nach einem anderen Finanzberater umsehen. Ich hoffe, das ist Ihnen klar.“

„Natürlich“, sagte Marian, wohl wissend, dass eine solch kurze Zeit niemals ausreichen würde.

„Ihre Scheidung müssen Sie eben dann von hier aus regeln, obwohl das sehr kompliziert werden wird“, sagte Marians Vorgesetzter kalt. „Nehmen Sie sich am besten sofort einen Anwalt.“

Der Tag des Abschieds war gekommen. Kurz und schmerzlos hatte sich Marian von Diwatas Familie verabschiedet, da diese davon ausging, dass er bald wieder zurückkommen würde. Nun saß er mit Diwata am Morgen des 30. Dezember 1991 Hand in Hand im Taxi auf dem Weg zum Ninoy Aquino Flughafen. Keiner sagte ein Wort. Was sollten sie auch sagen? Es war das erste Mal, dass sie sich auf unbestimmte Zeit trennten, obwohl Diwata hoffte, ihre Trennung möge so kurz wie möglich dauern. Irgendwie erahnte jedoch auch sie, was auf sie zukam. Schweigend fuhren sie Marians Koffer zur Gepäckabgabe am Schalter der Lufthansa Economy Class. Beide wollten keinen sentimentalen Abschied in der Öffentlichkeit. Doch vor der Passkontrolle hatten beide ihre Gefühle nicht mehr im Griff. Vor den Augen anderer Passanten weinten sie hemmungslos. Vor allem Marian, der normalerweise wahrhaftig nicht nahe am Wasser gebaut hatte, wurde nun von seinen Gefühlen überwältigt und schluchzte herzzerreißend. Seinen über so lange Zeit unterdrückten Emotionen schien er jetzt freien Lauf zu lassen.

„Nimm diesen Umschlag und öffne ihn irgendwann während des Fluges“, sagte sie leise.

„Komm bald zurück.“ Marian nickte, während Tränen wie Ströme über seine Wangen liefen. Er gab ihr seine Telefonnummern. Auch er verlor nicht viele Worte. „Bis bald. Ich liebe dich.“ Das war alles, was er sagte, bevor er in der Menschenmasse verschwand.


Die Boeing 444 startete. Nach dem steilen Flug gen Himmel sah Marian zum letzten Mal das Häusermeer von Manila. Er blickte auf Kirchen, die goldene Moschee und Manilas Burg Fort Santiago, die sich von den Wolkenkratzern Makatis abhoben. Zum letzten Mal schaute er auf die traumhafte Bucht der geheimnisvollen Stadt. Es war ein schöner, mäßig warmer Tag. In dieser Stadt hatte er nun schon seit einem Jahr gelebt. Trauer und Glück kämpften in seiner Seele. Es wurde ihm schwer ums Herz, weil seine Zukunft nichts Gutes versprach. Zugleich fühlte er aber auch tiefe Dankbarkeit, eine solch fantastische Zeit erlebt zu haben.


Der Flug nach Dubai war langweilig und monoton. Er hatte weder Lust zu essen noch zu trinken. Nach der Trauer fühlte er sich benommen, als hätte jemand mit einer Bratpfanne auf seinen Kopf geschlagen. Was er mit Diwata im Kreise der Familie und Freunde erlebt hatte, vermochte er noch gar nicht zu begreifen. Das vergangene Jahr erschien ihm so unwirklich, dass er nicht wusste, ob er aus einem Traum erwachte.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Dubai flog er Richtung Heimat. Irgendwo im All zwischen Saudi-Arabien und der Türkei öffnete er Diwatas Umschlag. Statt eines Abschiedsbriefes las er ein selbst verfasstes und mit schöner, kunstvoller Schrift geschriebenes Gedicht:

Wohin führen unsere Wege?

Ins Ungewisse.

Wohin wir auch blicken:

Nichts als Wolkentürme am Horizont,

Unermessliches Grau bis zur Unendlichkeit.

Nimm sie hin, meine Tränen,

Perlen meiner Seele,

Dein ist mein gebrochenes Herz.

Nimm es hin. Es ist alles, was bleibt.


Marian blickte aus dem Fenster. Er flog über unendliche Wolkentürme, die seine Sicht versperrten. Ebenso nebulös erschien plötzlich seine Zukunft. Immer wieder las er Diwatas traurige Zeilen. Sie war doch solch ein lebensbejahender Mensch. War sie selbst verzweifelt? Was erahnte sie? Hatte auch sie ein beunruhigendes Gefühl wie er? Er starrte auf das Wolkenbett, damit niemand sehen konnte, wie sehr er weinte.

Nach seiner Ankunft auf dem Frankfurter Flughafen am Abend des 31. Dezembers 1991 fühlte sich Marian wie auf einem anderen Planeten. Es war Silvesterabend und der Flughafen wirkte wie ausgestorben. An der Gepäckausgabe wartete er nur kurz auf seine Koffer und wurde sofort mit dem Shuttlebus zum Steigenberger Hotel gebracht. Er stieg aus und trug mit Hilfe eines Hotelangestellten sein Gepäck in sein luxuriöses Zimmer.


Ein eisiger Wind blies ihm entgegen. Obwohl das Thermometer „nur“ 10°C unter null zeigte, hatte er das Gefühl, irgendwo in Sibirien gelandet zu sein. Solch winterliche Temperaturen war er nicht mehr gewohnt. Eiskristalle schmückten die Fenster, Straßen und Bäume waren mit Raureif und einer leichten Schneeschicht bedeckt. Fröhliche Gäste feierten im Hotelrestaurant Silvester und genossen ihr Abendessen, aber Marian hatte weder Hunger noch Durst. Zum Feiern war ihm ganz und gar nicht zumute. Außerdem war er viel zu müde. Er ging nur zur Lobby, um sich anzumelden und die Nacht im Voraus zu bezahlen. Wie ein Schlafwandler kehrte er ins Zimmer zurück. Bis auf seinen Pyjama packte er nichts aus, riss sich die Kleider vom Leib, zog seinen Schlafanzug an, warf sich auf sein Bett, schlüpfte unter die Bettdecke und schlief sofort ein.


Der Zeitverschiebung wegen wachte er jedoch nach einigen Stunden auf und rief sofort Diwata an, um mitzuteilen, dass er gut angekommen sei. Sie war traurig und wortkarg. „Pass gut auf dich auf“, sagte sie mit leiser Stimme. „Komm bald zurück. Ich vermisse dich so sehr!“ Lange Zeit lag er wach. Der Film seines Gedächtnisses spulte die unvergessliche Zeit auf den Philippinen noch einmal zurück bis zu seiner schicksalhaften Begegnung im Stadtpark von Manila. Bilder jener Lebensphase vermischten sich mit Erinnerungen an die Heimat. Sein Kopf drehte sich wie ein rasendes Karussell und seine Gefühle fuhren Achterbahn. Er spürte, wie kalter Angstschweiß in ihm aufstieg, wenn er auch nur einen kurzen Augenblick an seine Eltern und an Lesley dachte. Er war wieder in Europa, doch weder seine Eltern noch seine Frau wussten, dass er unversehrt in Frankfurt gelandet war.


Eine tiefe Melancholie bemächtigte sich seiner. Fast jeder junge Mann wird von seiner Familie stürmisch empfangen, wenn er nach einer langen Zeit im Ausland wieder in seine Heimat zurückkehrt. Und er? Er fühlte sich rastlos wie ein Vagabund und einsam wie ein mutterloses Kind. Er war wie ein Baum ohne Wurzeln, der sich selbst entwurzelt hatte. War er nicht doch zu weit gegangen? Es war vollkommen verständlich, dass er als tatendurstiger, wissbegieriger und weltoffener junger Mann seiner spießigen Stadt den Rücken gekehrt hatte. Musste er jedoch den Kontakt zu seinen Eltern völlig abbrechen? Hatte er auch nur ein einziges Mal daran gedacht, wie sehr er sie durch diese Untat verletzt hatte? Gewissensbisse plagten ihn. Sein Gewissen verfolgte ihn noch mehr, als er an Lesley und Eliza dachte. Hatte er die Hoffnung auf ein glückliches Familienleben nicht viel zu schnell aufgegeben? Vielleicht hatte nur der Alltagsstress die Gefühle erkalten lassen und unter der dünnen Eisschicht brannte immer noch das Feuer der Liebe. Am meisten schmerzte ihn jedoch, dass er Diwata seine Vergangenheit verschwiegen hatte. Nur aus Angst, sie zu verlieren!


Mitten in seinen finsteren Gedanken hörte er, wie laute Silvesterraketen explodierten. Er öffnete die Gardine seines Fensters und blickte auf ein farbenprächtiges Feuerwerk am nächtlichen Winterhimmel. Fröhliche Stimmen betrunkener Menschen riefen: „Frohes neues Jahr.“ Kurze Zeit vergaß er seine Sorgen. Als die Knallerei vorüber war, wollte gerade wieder ins Bett gehen. Da klingelte das Telefon. Es war Diwata, die ihm mit leiser, trauriger Stimme ein frohes neues Jahr wünschte. Lange Zeit schwiegen sie sich an, bis sie ihm vorwarf, warum er nicht wenigstens bis Januar bei ihr geblieben sei. Sie hätten zusammen Silvester feiern können. „Ich vermisse dich so sehr“, sagte sie, bevor sie in Tränen ausbrach und schluchzte. Bis kurz vor Morgengrauen konnte er nicht einschlafen. Solch einen kläglichen Silvesterabend hatte er noch nie erlebt, doch er war nicht abergläubisch. Das traurige Ende eines fantastischen Jahres muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass das kommende Jahr schlecht wird, dachte er.


In der Nacht hatte es geschneit. Die Temperatur war noch eisiger als bei seiner Ankunft am Vorabend. Er saß im ICE nach Hintertupfingen, jenem Ort, an dem seine Eltern lebten. Zusammen mit wenigen anderen Fahrgästen raste er an dick verschneiten Wäldern und Hügeln vorbei. Er blickte aus dem Fenster und sah eine wunderbare Winterlandschaft. Deutschland - ein Wintermärchen, dachte er. Die Reisegäste in seinem Waggon schienen die Reise nicht wirklich zu genießen. Eiskalte Gesichter vergruben sich in Zeitungen, keiner sagte ein Wort. Er beschloss, die anderen zu ignorieren und erfreute sich an der bezaubernden Natur, die jetzt im Sonnenlicht erstrahlte. Die Fahrt war wie eine Entschädigung für die gänzlich misslungene Silvesternacht. Welch ein Kontrast zur tropischen Welt der Philippinen!


Schneller als gedacht erreichten sie jenen Ort, den Marian nie wieder sehen wollte. Doch er musste sich eingestehen: Im Lichte der mittäglichen Wintersonne und begraben unter Schneemassen sah sogar Hintertupfingen hübsch aus, so sehr er diese Stadt auch verabscheute.

Obwohl die Luft eisig war, wurde es ihm seines Gepäcks wegen warm. Schwitzend schob er seine großen und schweren Koffer zum Elternhaus. Er hätte ein Taxi nehmen können, doch da auf den Straßen kaum ein Auto fuhr, wollte er die frische Luft einatmen. Es war eine Wohltat nach dem Gestank, den er jeden Tag in Manila ertragen musste. Er war jedoch nicht warm genug angezogen und sein dreißigminütiger Fußmarsch mit zwei schweren Koffern sollte bald fatale gesundheitliche Folgen haben.

Mit pochendem Herzen stand er vor dem biederen Reihenhaus seiner Eltern, vor dem sich jetzt Schneeberge häuften. Wie würden sie ihren verschwundenen Sohn empfangen? Würde Papa sagen, er sei nicht mehr sein Sohn, weil er seine Eltern im Streit verlassen habe? Es kostete ihn einige Überwindung zu klingeln. Als sein Vater die Tür öffnete, traute er seinen Augen nicht. War das wirklich sein Sohn? Schließlich sagte er nur: „Unglaublich!“


Seine Stimme klang weder verbittert noch böse. Marian trat ein und wurde von seiner Mutter umarmt. Freudentränen liefen über ihr Gesicht: „Wir haben dich so vermisst. Es war wirklich nicht nett von dir, einfach abzuhauen. Doch jetzt bist du wieder da!“


Marian sah, dass seine Eltern Besuch hatten. Nachbarn und Freunde hatten mit ihnen Silvester gefeiert. Alle saßen am großen Holztisch und aßen Maultaschensuppe. Anschließend servierte Mutti Spätzle mit Rindergulasch. Er hatte das Gefühl, eine Zeitreise in die Vergangenheit zu machen. In den vergangenen siebeneinhalb Jahren schien sich zu Hause nichts verändert zu haben. Alles war noch genau wie damals im August 1984, als er wutentbrannt sein Elternhaus verlassen hatte: dieselben Holzmöbel, die gleichen Sessel aus schwarzem Leder, dieselben weißen Wände, die gleichen kitschigen Bilder und Hirschgeweihe an den Wänden, derselbe Kamin. In der Ecke stand sogar die gleiche Weihnachtskrippe und auch der Weihnachtsbaum war wie üblich mit bunten Kugeln und Lametta geschmückt. „Mein Gott!“, dachte er nur.


Er war froh, dass der Besuch lange blieb. Dadurch musste er nicht ausführlich von seinem wilden Leben der letzten Jahre berichten. Er sprach fast ausschließlich über seine erfolgreiche Tätigkeit als Finanzberater. Seine Beziehungen erwähnte er nur nebenbei. Er wollte auf keinen Fall bereits am ersten Tag den Eindruck erwecken, irgendwas sei nicht in Ordnung.


Am Abend, nachdem Freunde und Nachbarn gegangen waren, fühlte sich Marian plötzlich sehr unwohl. Er hatte Glieder- und Halsschmerzen sowie hohes Fieber. In der Nacht schlief er sehr schlecht. Am darauffolgenden Tag hustete er. Der Husten wurde von Tag zu Tag stärker, bis er sich schließlich zum Arzt schleppte. „Lungenentzündung“, diagnostizierte dieser trocken. „Hier die Rezepte für Ihr Antibiotikum und für den Hustensaft.“


Unglaublich, wie verweichlicht er war. Kaum war er wieder in seinem Land, wurde er krank. Die klirrende Kälte hatte ihm sicher nicht gut getan. Als er die Arztpraxis verließ, ärgerte er sich noch mehr. Es hatte erneut angefangen, kräftig zu schneien. Für die nächsten Tage hatte der Wetterbericht sonniges, kaltes Winterwetter vorausgesagt. Wie gerne wäre er auf den Loipen der verschneiten Wäldern und Hügeln in der Umgebung Ski gelaufen. Stattdessen musste er nun das Bett hüten und ausgerechnet in der Nähe derer sein, vor denen er davongelaufen war. Welche Ironie des Schicksals! Sein Los schien sich über ihn lustig zu machen. Schlecht gelaunt ging er zur Apotheke, kaufte seine Medikamente und lief zu seinem Elternhaus zurück.


Wadenwickel, heiße Zitrone, Infrarotstrahlen, heiße Bäder, Erkältungstees…. Er versuchte mit allen Hausmitteln, so schnell wie möglich wieder gesund zu werden. Doch eine mittelschwere Lungenentzündung kann man auch mit Antibiotikum nicht so schnell heilen. Er musste zwei Wochen in Hintertupfingen bleiben. Seine Mutter kümmerte sich rührend um ihn, obwohl er seine Eltern nicht nett behandelt hatte. Trotz allem war er ihr Sohn. Marian war die Fürsorge seiner Mutter hingegen peinlich. Mit 26 Jahren fühlte er sich wieder wie ein Muttersöhnchen.


Eines Morgens, als es Marian schon wieder etwas besser ging, klingelte das Telefon. Es war Diwata. Marians Mutter, die nicht wusste, wer die junge Frau am Telefon war, sagte, dass ihr Sohn sehr krank sei und nicht mit ihr sprechen könne. Sie öffnete die Tür des Krankenzimmers und sagte: „Eine Frau mit einem seltsamen Namen hat angerufen. Eine sogenannte Di…Di…Diva….Diva….“ „Diwata“, korrigierte sie Marian. Er musste über die Schwierigkeiten lachen, die seine Mutter mit der Aussprache des Namens Diwata hatte. Besonders amüsant fand er, dass sie seine zukünftige Frau offensichtlich für eine Diva hielt. Beiläufig bemerkte er: „Sie ist meine zukünftige Frau.“ Er sagte es wie etwas Nebensächliches, als wäre diese Nachricht das Normalste von der Welt. Seine Mutter sah aus, als wäre sie aus allen Wolken gefallen:

„Wer ist diese Frau? Woher kommt sie? Warum hast du uns vorher nichts über sie erzählt?“, fragte Frau Morgenroth vorwurfsvoll.

„Mama, siehst du nicht, wie krank ich bin?“, fragte Marian genervt. „Das ist eine lange und komplizierte Geschichte. Lass mich wieder zu Kräften kommen. Dann erzähle ich euch alles.“


Als er fast wieder gesund war, sah er im Fernsehen einen Jahresrückblick über wichtige Ereignisse in Deutschland im Jahre 1991. Im Mittelpunkt dieses Rückblickes stand der rassistische Anschlag auf ein überwiegend von vietnamesischen Flüchtlingen bewohntes Asylbewerberheim in der sächsischen Stadt Hoyerswerda am 20. September 1991. Er wollte wissen, was seine Eltern darüber dachten. Noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sie ihre latent ausländerfeindliche Gesinnung geändert hatten. „Was ist in Hoyerswerda passiert?“, fragte er beim Abendessen. „Wo?“, wollte sein Vater wissen. Es war offensichtlich, dass er sich an den schlimmen Anschlag schon nicht mehr erinnerte, obwohl er erst vor knapp fünf Monaten verübt worden war. Oder wollte er sich daran gar nicht mehr entsinnen?

„Der Anschlag auf ein Flüchtlingsheim in Hoyerswerda. Mit Molotowcocktails. Darüber wurde sehr viel im Jahresrückblick 1991 gesprochen. Außerdem habe ich die schrecklichen Bilder gesehen.“

„Ach, das ist doch Schnee von gestern. Du weißt ja, auch wir finden das nicht gut. Aber man muss doch sagen: Das Boot ist voll. Es gibt zu viele Asylanten. Und die meisten missbrauchen ihr Asylrecht.“

„Das Boot ist voll? Selbst wenn das stimmen würde, wäre das noch immer kein Grund, fremde Menschen so zu behandeln. Dieses Verbrechen ist absolut menschenverachtend.“


Marian bemühte sich, seine Beherrschung nicht zu verlieren. Es war klar: Sein Vater hatte sich nicht verändert. Doch nun äußerte sich auch seine Mutter zum Thema. Was sie sagte, war für Marian noch unerträglicher.

„In gewisser Weise verstehen wir, dass immer mehr Menschen gegen die Überfremdung in diesem Land protestieren. Überhaupt gibt es zu viele Ausländer. Deutschland gehört den Deutschen, meint ihr nicht?“


Marian hatte keine Lust mehr, weiter zu diskutieren. Es war sinnlos, mit seinen Eltern über dieses Thema zu sprechen. Er ging in sein Zimmer und grübelte. Wie sollte er seinen engstirnigen Eltern gegenüber Verständnis für seine Beziehungen mit Lesley und Diwata erwecken? Würden sie ihn jemals verstehen?


Endlich war es so weit: Der Abend, den Marian versucht hatte, lange Zeit zu verdrängen, ließ sich nicht mehr länger verschieben. Er war wieder kerngesund und musste so schnell wie möglich seine Heimatstadt verlassen. Vorher wollte er sich aber mit seinen Eltern versöhnen, koste es was es wolle. Beim Abendessen erzählte er ihnen seine ganze Geschichte. Alles, was seit seiner Trennung geschehen war, erfuhren sie bis ins letzte Detail. Als Marian die Philippinen erwähnte, wurde sein Vater neugierig.

„Was ist das für ein seltsames Land? Davon habe ich noch nie etwas gehört!“ Marian erwiderte: „Ein bezauberndes Land in der Nähe des Äquators: Traumhafte Strände soweit das Auge reicht, unzählige Inseln, gastfreundliche Menschen ganz unterschiedlicher Kulturen und Religionen, eine interessante Hauptstadt namens Manila mit vielen Kirchen und einer Moschee, unmittelbar neben modernen Stadtvierteln.“


Dass die Hauptstadt und viele andere Städte des Landes auch von Korruption, Umweltverschmutzung, Prostitution, Schmutz, Kriminalität und bitterer Armut in Elendsvierteln und Slums geprägt sind, verschwieg er. Er hörte, wie sein Vater seufzte:

„Du wolltest immer besonders sein. Hat unser Land aber so wenig zu bieten, dass du unbedingt in die Ferne schweifen musst?“

„Warum in die Ferne schweifen, liegt das Gute doch so nah“, zitierte seine Mutter Goethe.

Für einen kurzen Augenblick war die Stimmung heiter. Alle mussten lachen. Doch dann sagte seine Mutter: „Lass ihn doch. Jeder ist seines Glückes Schmied.“

Marian nickte. „Das glaube ich auch.“


Mit versteinerten Gesichtern hörten die Eltern zu, als ihr Sohn endlich auf den Punkt kam und von seinen Hochzeitsplänen sprach. Es war augenscheinlich, dass ihnen sowohl Marians Ehe mit Lesley als auch seine geplante Hochzeit mit Diwata missfielen. Es folgte ein langes, eisiges Schweigen. Keiner sagte ein Wort. Nur die Kuckucksuhr tickte. Weder die Kerzen auf dem Tisch noch die leuchtenden Kerzen des Tannenbaums konnten das Eis schmelzen. Schließlich sagte sein Vater: „Wie kann man sich sein ganzes Leben so verbauen? Hättest du eine Banklehre in der hiesigen Sparkasse gemacht, dort einen anständigen Beruf gefunden und ein deutsches Mädel geheiratet, dann wären wir jetzt alle zufrieden. Wie heißt es doch so schön: Bleibe im Lande und nähre dich redlich.“


Marian kochte innerlich vor Wut. Fast wollte er sagen: „Bleibet im Kaff und sterbet in Einöd“. Noch war er aber imstande, sich zu beherrschen. Seine Eltern hatten schließlich ein niedriges Bildungsniveau und wenig Verständnis für fremde Kulturen. Sie führten das behäbige, eintönige Leben jener älteren Ehepaare, in deren Welt kein Platz für Neues ist. Er suchte also keine Konfrontation, sondern versuchte, mit ruhiger, aber klarer Stimme Verständnis für sich zu erwecken. Wenn er auch hinter dem stand, was er im Ausland getan und erlebt hatte, so schmerzte es ihn doch, dass sein Privatleben so chaotisch und wenig erfolgreich war. Hatte er aber nicht auch als unvollkommener Mensch das Recht, seinen eigenen Weg zu gehen und akzeptiert zu werden? Das hatte er. Also sagte er, was er sagen musste: „Akzeptiert endlich, dass euer Sohn einen ganz anderen Weg geht als ihr. Schließlich versuche ich jetzt, euch zu verstehen und zu akzeptieren, obwohl mir das schwer fällt. Und wer sagt denn, ob eine Ehe mit einer Deutschen nicht auch in die Brüche gegangen wäre? Heute scheitert doch jeder dritte so genannte Bund fürs Leben.“


Mit dieser Bemerkung schien Marian noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Jetzt verlor sein Vater die Beherrschung. „Verdammt noch mal“, schrie er und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Du hast jahrzehntelang unsere liberale Erziehung genossen. Wir hatten aber immer das Vertrauen darin, dass du irgendwann vernünftig wirst. Das ist bis heute nicht der Fall. Du glaubst, du kannst machen, was du willst. Deshalb muss es jetzt Regeln geben. Eine dieser Regeln lautet klipp und klar: Keine deiner beiden Konkubinen kommt mir ins Haus. Wir sind anständige Leute.“

„Reinhard“, sagte seine Mutter entsetzt. „Weißt du überhaupt, was du da sagst?“

„Das weiß ich ganz genau. Halt endlich deinen Mund. Musst du immer deinen Sohn verteidigen, sogar jetzt, wo er ganz offensichtlich auf dem Holzweg ist?“

„Egal, was Marian getan hat: Er ist kein Kind mehr!“

„Es bleibt dabei: Keine der beiden kommt hier ins Haus!“ Jetzt entflammte auch ein großer Streit zwischen seinen Eltern: „Da habe auch ich ein Wörtchen mitzureden“, sagte seine Mutter wütend.

„Du hast gar nichts zu sagen. Mach, was ich will!“ Der Streit eskalierte dermaßen, dass Marians Mutter anfing zu weinen. Schließlich gab sie kleinlaut nach.

„Du siehst, gegen den Willen deines Vaters komme ich nicht an. Aber willst du meinen ehrlichen Rat hören?“

„Sag.“

„Das Beste wäre, du würdest die Beziehung zu beiden Frauen abbrechen und hier in Deutschland ein neues Leben beginnen.“

Marian, der sich bis jetzt beherrscht hatte, erwiderte: „Das würde euch so passen. Denkt jedoch im Traum nicht daran, dass ich das tu, erst recht nicht hier in dieser Kleinstadt.“

Etwas versöhnlicher, aber unmissverständlich deutlich fügte er hinzu: „Wir müssen einfach sehen, dass wir nicht mehr zueinander passen. Der Generationskonflikt ist zu groß.“ Mit versteinerten Gesichtern hörten die Eltern zu. Warum wollte ihr Sohn nicht zur Vernunft kommen? „Dass ich wieder zu euch gekommen bin, war ein Zeichen meines guten Willens. Ich wollte mich ernsthaft mit euch versöhnen, doch jetzt sehe ich, dass das nicht geht. Gegenseitiges Verständnis hängt von beiden Seiten ab. Ihr aber wollt nicht akzeptieren wie ich bin. Meine Welt ist euch verschlossen und ihr wollt, dass sie fremd bleibt, weil ihr euch nicht einen Millimeter öffnet. Heißt es aber nicht: Der Morgen ist klüger als der Abend?“ Marians Stimme klang jetzt etwas hoffnungsvoller, aber die Gesichter seiner Eltern zeigten keinerlei Gefühlsregung. „Vielleicht seht ihr die Dinge morgen in einem anderen Licht und habt mehr Verständnis für mich. Die Einladung zu meiner Hochzeit mit Diwata ist nicht aufgehoben und ich würde auch gern hier in Deutschland mit euch feiern, vorausgesetzt, ihr akzeptiert endlich, dass meine zukünftige Frau keine Deutsche ist. Was die Scheidung mit Lesley betrifft, macht euch keine Gedanken. Das ist nicht schön, aber ich krieg das schon hin.“

Leider war der darauffolgende Morgen nicht klüger als der hitzige Abend. Marians Eltern waren genauso borniert wie vorher. Sie hätten bestimmt keine Molotowcocktails auf das Asylbewerberheim in Hoyerswerda geworfen und höchstwahrscheinlich auch nicht Beifall geklatscht. Trotzdem konnten sie in ihrer Welt weder Fremde noch Fremdes akzeptieren. Deshalb hatte Marian keine andere Wahl als zu gehen. Sein Annäherungsversuch war erfolglos, die Weichenstellung für eine fröhliche und gelungene Hochzeit war ebenfalls gescheitert. Deshalb sagte er mit trockener Stimme: „Lebt wohl.“


Diesmal hatte er ein Taxi bestellt. Es stand schon vor der Tür. Nachdem Marian die schweren Koffer mit all seiner Kraft in den Kofferraum gelegt hatte, fuhr der Fahrer ihn Richtung Bahnhof. Nicht Wut, sondern Trauer prägte diesen Abschied. Während der kurzen Fahrt sagte Marian kein Wort. Seine Stimme wäre ihm im Halse stecken geblieben. Die schöne, klare Morgensonne versuchte den trübsinnigen Reisenden aufzuheitern, doch es gelang ihr nicht. Zum letzten Mal in seinem Leben warf Marian einen Blick auf seine im Tiefschnee gebettete Heimatstadt. So sehr er diese Stadt auch verabscheut hatte: Diese Abreise fiel ihm schwer. Er schaute zum letzten Mal auf seine Stadt und seufzte tief. Nachdem er den Taxifahrer bezahlt hatte, lief er mit ruhigem Schritt das letzte Stück zum Bahnhof, bezahlte seine Bahnkarte und stieg in den ICE nach Frankfurt am Main. Die Reise ins Ungewisse ging weiter.


Marian kämpfte sich durch die Menschenmassen auf dem Londoner Flughafen Heathrow. Genervt wartete er fast eine Stunde vor der Gepäckausgabe auf seine Koffer. Geschäftige und hektische Menschen aus der ganzen Welt begrüßten und verabschiedeten sich. Sie lachten und fluchten in unzähligen Sprachen. Babylon auf einem der größten Flughäfen der Welt.


Endlich konnte er seine Koffer zu einem jener typischen alten Londoner Taxis tragen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert hatten. Das Taxi kämpfte sich durch den zähfließenden Verkehr auf der stark befahrenen M4. Marian hatte das Gefühl, von einem Traum zu erwachen. Alles erschien ihm so vertraut, als hätte er diese Millionenstadt nur kurz verlassen. Doch dann wirkte alles auf einmal so fremd. Äußerlich schien er ruhig und beherrscht zu sein, aber der Gedanke an Lesley, die er sehr bald wiedersehen würde, ließ sein Herz wie einen Trommelwirbel schlagen. Wie würde sie reagieren? Was würde jetzt passieren? Er wusste es nicht, wollte es auch gar nicht wissen. Das Allerschlimmste befürchtete er.


Die Autokolonne bewegte sich nur langsam. Smog und grauer Dunst umhüllte die Silhouetten der Häuser und Bäume. Weder er noch der Taxifahrer sagten ein Wort. Nur das Brummen des Diesels störte die Ruhe. Endlich erreichten sie den Hyde-Park. An jenem späten Nachmittag des fünfzehnten Januars 1992 hoben sich seine uralten Bäume im blattlosen Winterkleid gespenstisch von den Lichtern der Autos ab. Nur schemenhaft konnte man aus der Ferne den im Jahre 1703 erbauten Buckingham Palace erkennen. Marian hätte frohlockt, wieder in seiner Wahlheimat zu sein, wäre nicht alles von der bevorstehenden Scheidung überschattet worden. Dass er sich von Lesley trennen musste, bestürzte ihn. Auf der Achterbahnfahrt seiner Gefühle siegte aber schließlich der Verstand. Ohne Trennung von seiner Frau würde er Diwata nicht mehr wieder sehen. Konnte er ahnen, dass alles völlig anders kommen sollte? Immer mulmiger wurde sein Gefühl, als er an den pompösen Altbauten von Belgravia vorbeifuhr, jenem piekfeinen Stadtteil, in dem Frau und Tochter wohnten.


Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt, heißt ein Sprichwort. In positiver Hinsicht traf diese Redensart zunächst auf Marians Wiedersehen mit Frau und Tochter zu. Innerlich zitterte der Heimkehrende wie Espenlaub, war außerstande, etwas zu sagen, als sich die große Tür der mit Ziegelsteinen erbauten Villa öffnete und ihm seine dreijährige Tochter voller Freude entgegenlief. Wider Erwarten wurde er auch von Lesley herzlich empfangen. Im großen Kamin brannte ein Feuer, der Tisch war festlich gedeckt, das schmuckvolle Esszimmer war mit Kerzen beleuchtet und es roch nach köstlichem indischem Essen. Was war in seine Frau gefahren? Spielte sie oder war der freundliche Empfang echt? Lesley, deren Mutter Inderin war, servierte ein Essen, wie es in einem indischen Restaurant nicht hätte besser schmecken können: Lamm-, Kartoffel und Gemüsecurry, Bratfisch im Teigmantel sowie Sambar, ein Linsengericht, waren eine Gaumenfreude. Das knusprige Fladenbrot und der aromatische Basmatireis rundeten das Mahl perfekt ab. Doch nicht genug damit. Es folgten noch zwei Desserts: Halva, ein weißer Nougat, sowie Gulab Jamun, fritierte Teigbällchen im aromatisierten Zuckersirup. Ganz besonders gut schmeckte aber das selbst gemachte Mangolassi. „Da staunst du wohl“, sagte Lesley. „Hast du erwartet, dass ich ein solches Abendessen für dich kochen würde?“


Marian war überrascht, wie gut seine Frau in der Zwischenzeit Deutsch gelernt hatte. Sie hatte zwar einen leichten englischen Akzent, machte aber sehr wenige Fehler und hatte Deutschkenntnisse auf Oberstufen-Niveau. Nachdem sie sich eine Weile über allerlei Belanglosigkeiten unterhalten hatten, brachte Lesley Eliza ins Bett.


Marian war erstaunt, dass die Beziehung mit Diwata mit keinem Wort erwähnt worden war. Wollte sichele nicht rächen? Handelte es sich nicht in den Augen seiner Frau um eine Affäre? Hatte er nicht Ehebruch begangen? Auch die große Ehekrise vor Marians Aufenthalt auf den Philippinen hatte sein Verhalten nicht gerechtfertigt.


Plötzlich bemächtigte sich seiner eine solch starke Müdigkeit, dass ihm in kürzester Zeit die Augen zufielen. Er legte seinen Kopf auf den großen Esstisch aus Mahagoni und schlief sofort tief ein. Boshaft lächelte seine Frau, als sie von Elizas Schlafzimmer zurückkam. Genüsslich rieb sie sich die Hände. Sie hatte ein betäubendes Schlafmittel in Marians Mangolassi gefüllt. Er würde so tief schlafen, dass er erst spät am Morgen des sechzehnten Januars aufwachen würde.


Sie zerrte ihn in sein Bett, zog ihn aus, fesselte ihn und steckte ihm einen Knebel in seinen Mund, damit er, falls er aufwachen sollte, nicht um Hilfe schreien könnte. Nun hatte sie alle Zeit der Welt, sich an diesem geliebten und zugleich verhassten Mann zu rächen. Sie nahm sein Portemonnaie aus seiner Manteltasche und öffnete es. Zu ihrem Wohlgefallen fand sie sofort seine Visa- und Masterkarte, die sie mit einer scharfen Schere in mehrere Stücke schnitt und wegwarf. „Rache ist süß“, sagte sie leise und lächelte dabei. „Rache ist Gerechtigkeit.“ Sein gesamtes Bargeld steckte sie in ihren eigenen Geldbeutel. Sie hatte ein Gefühl größter Genugtuung. Jetzt hatte sie alle Macht der Welt über ihn. Sie wollte ihn nicht wegstoßen. Sie war die Gnädige. Er durfte bei ihr bleiben, aber er musste einen hohen Preis dafür zahlen. Gefügig und folgsam musste er werden, willig, alles zu tun, was sie wollte. War sie ihm wohlgesonnen, durfte er sie lieben, aber nur nach ihrem Willen. War sie böse auf ihn, hatte sie das Recht, ihn nach Herzenslust zu quälen. Er musste das Opfer ihrer Launen werden. In seiner Welt sollte es nur noch Lesley geben. Wollte er Geld haben, musste er darum bitten. Je nach Laune würde sie ihm Geld geben, aber nur so viel, wie er für einen Tag bräuchte. Nie wieder sollte er sie verlassen! Nicht einmal für das Zehntel eines Flugtickets nach Manila durfte der klägliche Geldbetrag in seinem Portemonnaie reichen. Auch Pass und Personalausweis nahm sie ihm ab und steckte beide in einen Safe, den sie mehrmals abschloss. Er sollte ihr Sklave werden. Ihr Liebessklave. Ihr Reich sollte Himmel und Hölle zugleich sein. Ihr Herrschaftsgebiet, das sie gleichermaßen als Teufel und als Engel regieren würde.

Eine blasse, milchige Wintersonne warf ihre Strahlen durch das Fenster jenes Zimmers, in dem der geknebelte Marian aus tiefem Schlaf erwachte. Tochter Eliza war zu dem Zeitpunkt schon längst in der Kindertagesstätte. Was war los? Er versuchte aufzustehen. Da merkte er, dass er gefesselt war. Er wollte etwas sagen. Warum gelang es ihm nicht? Er spürte, dass etwas in seinem Mund steckte und er außerstande war, auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Und dann stand plötzlich sie vor ihm: eine fast nackte Venus, nur im schwarzen Lederdessous und in ebenfalls schwarzen Lederstiefeln. Sie trat mit den hohen Absätzen ihres Stiefels auf den nackten Waschbrettbaus ihres Ehemannes. Er versuchte tapfer und stark zu wirken, doch die Schmerzen waren zu stark. „Aua“, versuchte er zu schreien. Er konnte jedoch keinen einzigen Laut formulieren. Sie lächelte boshaft: „Attraktiv bist du immer noch. Aber jetzt gehörst du mir. Vergiss deine Scheidung. Wir werden ewig zusammen bleiben, über den Tod hinaus. Wir sind füreinander bestimmt, nicht diese…. diese…. Diwata!“ Sie machte ein verächtliches Gesicht und spuckte in Marians Gesicht als Ausdruck höchster Missachtung für eine Frau, die in ihren Augen nichts weiter als eine billige Konkubine war. Und auch er musste für die Schmach büßen: „Jetzt habe ich absolute Kontrolle über dich. Bilde dir nicht ein, dass du dich auch nur einen Millimeter von meiner Welt entfernen kannst, wenn ich das nicht will. Und wisse!“…. Sie riss ihre Augen weit auf und blickte ihn wie eine Größenwahnsinnige an. Marian hatte plötzlich panische Angst vor seiner eigenen Frau. „Und wisse: Sollte es dir doch gelingen, noch einmal deine Konkubine zu sehen, dann wirst du in einem Atemzug Frau und Tochter verlieren. Weißt du, was das bedeutet?“ Marian nickte mit dem Kopf wie ein gefügiges Kind. „Du weißt es nicht“, schrie sie ihn an. „Ich werde Eliza und dann mich selbst erschießen.“

Marian hoffte inbrünstig, dass er träumte. Doch dann bemerkte er, dass er keinem Albtraum zum Opfer gefallen war. Was er in diesem sonnendurchfluteten Zimmer erlebte, war weder Nachtmahr noch Psychothriller: Es war brutale Wirklichkeit.


Lesley Indira Iqbal Antara Bhattacharya Smith war die Tochter einer schwarzhaarigen und dunkelhäutigen Inderin und eines blonden und hellhäutigen Engländers. Allein Tochter eines binationalen Ehepaares zu sein war zu Lesleys Kindheit schon etwas Besonderes. Doch aus der Liebesbeziehung zwischen einer Inderin und einem Ungläubigen zu stammen, war schlicht unglaublich. Indische Eltern verheiraten nämlich gewöhnlich ihre Töchter und sie würden niemals einen ungläubigen Weißen als Mann akzeptieren, egal aus welchem Land er kommt. Lesleys Mutter Chandrakhanta hatte sich den strengen Moralvorstellungen ihrer Eltern widersetzt und sich aus Liebe für den Engländer Kevin entschieden. Selbst den totalen Bruch mit Eltern und Familie hatte sie in Kauf genommen. Entsprechend gelassen hatten auch Chandrakhanta Smith und ihr Ehemann auf die Heiratsabsichten ihrer Tochter reagiert. Dass diese einen Deutschen auserwählt hatte, war für beide kein Problem, obwohl Kevins Eltern aus historischen Gründen gewisse Vorbehalte hatten.


Nun stand die bildschöne Mischlingsfrau nackt vor ihrem Auserwählten, den sie gefesselt hatte, damit er nie wieder davonlaufen konnte. Lange braune Haare bedeckten ihre nackten Schultern und ihre großen schwarzen Augen waren unwiderstehlich. Einen Augenblick lang verstand der von ihr Geknebelte nicht, weshalb er solch eine wunderschöne Frau überhaupt verlassen hatte. Plötzlich fiel ihm eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Diwata auf, abgesehen von ihrer Haut, die deutlich heller war. Nur einen kurzen Augenblick später erfuhr er das impulsive Wesen seiner Frau körperlich, als diese ihm befahl, sich auf den Bauch zu legen und mit brutaler Gewalt mit ihrem schwarzen Ledergürtel auf seinen nackten Hintern schlug. Auf diese Weise konnte die von ihm so lange Gedemütigte ihre Wut abreagieren und dabei sogar sexuelle Lust empfinden. Marian fühlte sich wie ein sexuelles Opfer in einem Roman vom Marquis de Sade.


Nach ihrer Art der „Bestrafung“ wollte sie ihn körperlich zurückerobern. Ihre Waffen waren zierliche Hände, wohlgeformte Brüste, lange Beine, sinnliche Lippen und das zarte Fleisch einer glattrasierten Vagina. Sie entfesselte seinen Körper mit feurigen Küssen und dem erregenden Spiel ihrer Zunge. Mund und Scheide ließ sie von seinem harten Glied durchdringen. Zunächst empfand er Widerwillen und dachte: „Streng dich nur an. Was bist du ihr gegenüber.“ Doch er war zu sehr Mann, um ihren Liebeskünsten zu widerstehen. Sie wollte die Andere sein, sie, die es gewagt hatte, ihren Mann zu erobern. Sein unkontrollierbar quellender Körpersaft war schließlich der Beweis dafür, dass es seiner wild auf ihm reitenden, sich mit ihm verschmelzenden Frau gelungen war, ihn zurückzugewinnen.


Die seelische und geistige Rückeroberung ließ auf sich warten. In der Abgeschiedenheit seines Zimmers ging Marian in sich. Im Wechselspiel der Gefühle und im Spannungsfeld zweier Frauen entschied er sich letztlich nicht für die romantische Liebe, sondern für die Menschlichkeit und für die Vernunft. Er hatte eine kleine Tochter und wollte sich der Verantwortung stellen. Vielleicht würde es ihm gelingen, nach Manila zurückzufliegen. Doch was wäre dann der Preis? Würde er seine kleine niedliche Tochter jemals wiedersehen? Außerdem wusste er, dass Lesley nicht nur gedroht hatte. Sie wäre durchaus imstande, die schrecklichen Morde tatsächlich zu verüben. Könnte er das mit seinem Gewissen vereinbaren?


In einer ruhigen und sachlichen Aussprache mit Lesley versprach er, in London zu bleiben. Er vermied es ausdrücklich zu sagen, dass er nie mehr auf die Philippinen reisen würde. Das wäre wieder eine Unaufrichtigkeit gewesen und der Lügen war er mittlerweile überdrüssig. Doch er betrog sich selber. Er sagte sich, dass Lesley und Diwata für ihn „eins und doppelt“ seien. Diwata verkörpere den Traum und Lesley das wirkliche Leben. Er redete sich seine Lebenslüge so lange ein, bis er wirklich an sie glaubte und dadurch scheinbar zur Ruhe kam. Er spürte, dass er irgendwann Diwata wiedersehen würde, doch er wusste beim besten Willen nicht wann. Verband ihn das Schicksal wirklich mit der Geliebten und der Ehefrau zugleich? Er musste sich eingestehen, dass er Diwata zunächst ebenso verletzen würde wie seine Frau, sollte er ihr tatsächlich den Rücken kehren.


Ganz langsam gewann er das verlorene Vertrauen seiner Frau zurück. Allen Verletzungen zum Trotz blieben Lesleys Drohungen leere Worte. Marian fand schnell Arbeit in einer Filiale der Deutschen Bank in London und verdiente so viel Geld, dass er problemlos seine Zelte hätte abbrechen und zu Diwata zurückkehren können. Er traute sich aber nicht, erneut nach Manila zu fliegen. Über die Geliebte hinwegzukommen war trotz aller verzweifelten Bemühungen vergeblich. In tränenreichen, einsamen Augenblicken der Verzweiflung fand er nur im Gelübde vom „Verbotenen Strand“ Trost:

Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne, du bist mir nah.“


Traurig und in sich gekehrt saß Diwata den ganzen 30. Dezember 1991 in ihrem palastartigen Haus. Sie hatte weder Hunger noch Durst. Es war das erste Mal, dass sie ihren geliebten zukünftigen Mann für längere Zeit nicht sehen würde. Seine Rückkehr bezweifelte sie jedoch keinen Augenblick. Waren sie nicht füreinander bestimmt?


Die Stille ihres Hauses war unerträglich. Warum musste sie sogar Silvester alleine verbringen? Wie erleichtert war sie, als Marian endlich anrief. Lange hatte sie auf dieses Gespräch gewartet. Doch auf einen weiteren Anruf hoffte sie vergebens. Ihr wurde es schwer ums Herz.


Eine Woche später war seine Mutter am Telefon. Wie kalt war ihre Stimme! Und wie schroff!. Erst als es dem lungenkranken Geliebten wieder besser ging, durfte sie mit ihm sprechen, aber auch jetzt klang er unnahbar und unverbindlich. Was war bloß geschehen?


Schließlich hielt sie es zu Hause nicht mehr aus. Sie ging stundenlang ruhelos im Ayala Park spazieren, schaute weg, wenn Liebespaare ihren Weg kreuzten und wollte mit keiner Menschenseele sprechen. Eines Nachmittags führte der Weg sie wieder in den Rizal-Park. Ihre Erinnerungen wurden fast unerträglich. Vor etwas über einem Jahr hatte sie Marian hier kennengelernt. Schon während ihrer ersten Begegnung hatte sie etwas gespürt, an was sie nicht mehr glauben wollte: Liebe auf den ersten Blick. Und jetzt? Nichts als Leere, Melancholie, Traurigkeit. Warum meldete er sich nicht öfter? Vermisste er sie nicht? Hatte er sie schon vergessen? Sie lief durch den Park Richtung Uferpromenade am Denkmal von José Rizal vorbei. Genau an dieser Stelle hatten sich ihre Wege zum ersten Mal gekreuzt. Tränen liefen ihr über das Gesicht, aber niemand beachtete sie. Die vorbeiziehenden Menschen waren fröhlich, Paare lachten ausgelassen und Kinder ließen Luftballons steigen. Es war, als würde sich jener denkwürdige Nachmittag vor dem Ereaserheads-Konzert wiederholen, aber ohne Imelda und Marian.


Im Chinesischen Garten setzte sie sich auf dieselbe lauschige Parkbank, auf der sie sich zügellos und ohne Scheu geliebt hatten. Ihr einziger Begleiter war jetzt ein Buch mit Kurzgeschichten, in das sie sich vertiefte. In der Abgeschiedenheit und Harmonie des Ortes kam sie endlich zur Ruhe und vergaß für einige Stunden ihre Sorgen. Ein leichter Wind kam auf. Die angenehm kühle Brise tat ihr gut.

Am darauffolgenden Tag hielt Diwata ihre selbst gewählte Einsamkeit und Abgeschiedenheit nicht mehr aus. Es war der Vormittag des zwölften Januars 1992, eines grauen Tages. Sie rief Imelda an. Die Freundinnen vereinbarten, im japanischen Café Akiba um vier Uhr nachmittags über die Ereignisse seit Jahresbeginn zu sprechen. Diwata fühlte sich etwas besser. Sie freute sich auf aromatischen Kaffee, leckeren Kuchen und ein Gespräch mit ihrer besten Freundin, das – so ihre Hoffnung – sie seelisch wieder aufbauen würde. Doch es kam alles ganz anders.


Imelda, die sie seit ihrem Geburtstag nicht mehr gesehen hatte, umarmte sie schon vor dem Café. Beide Frauen freuten sich über ihr Wiedersehen. Lange Zeit konnten sie sich nicht für den Kuchen entscheiden. Sollte es der cremige Yoghurtkuchen sein oder doch lieber der exotischere Süßkartoffelkuchen? Auch Schokoladen,- und grüner Teekuchen sahen vorzüglich aus. Schließlich entschieden sich beide für ein Stück grünen Teekuchen mit Sahne. Schwierig war es auch, den passenden Kaffee auszuwählen, zumal alle nur erdenklichen Geschmacksvarianten angeboten wurden, von Zimt, Pfefferminz und Nougatschokolade bis zum klassischen Cappuccino, Espresso oder Latte Machiato. Sie nahmen einen Mokka mit Sahne. Kuchen und Kaffee waren Kalorienbomben, aber Diwata störte das nicht. Das Leben war hart genug. Es war Zeit, dass sie sich selber mal wieder etwas Schönes gönnte, wenn auch nur für einen Nachmittag. Sie setzten sich an einen Designertisch aus Holz im modern, aber nicht ungemütlich eingerichteten Café. Die Gäste an den Nachbartischen waren meist junge Leute oder philippinische und japanische Liebespaare.


Nachdem sie zunächst über alles Mögliche geredet und herumgealbert hatten, kam Imelda auf den Punkt: „Um ehrlich zu sein: Du siehst ziemlich fertig aus. Was ist los mit dir? Marian kommt doch bald zurück!“ „

„Das stimmt“, entgegnete Diwata, „doch er ist so komisch. Wir hatten einen fantastischen Urlaub auf der Insel Palawan. Seit wir zurückgekommen sind, ist er jedoch wie ein anderer Mensch. Er wirkt genervt und bedrückt, spricht kaum noch mit mir, wirkt geistig abwesend. „Nach einer Schweigeminute sagte sie traurig: „Hör zu, Imelda!“ Sie nahm die Hände ihrer Freundin in ihre eiskalten Hände und sah sie mit ihren großen braunen Augen an. „Irgendetwas stimmt nicht mit uns. Ich habe das Gefühl, dass in den nächsten Tagen etwas Schlimmes passieren wird. Normalerweise bin ich lebensfroh und optimistisch, aber jetzt geschieht etwas, was ich nicht verstehe.“

„Was verstehst du nicht?“, fragte Imelda entgeistert.

„Er ruft kaum an, sogar am Telefon ist er so….so…“

„Wie ist er?“, unterbrach sie Imelda.

„So unnahbar“, fiel Diwata das passende Wort ein. „Ich habe das Gefühl, ich spreche mit einem Fremden.“

„Hmm“, entgegnete Imelda etwas ratlos. „Das hört sich ja gar nicht gut an.“


Für eine kurze Zeit schwiegen sie, schlürften ihren Mokka und aßen einige Stücke ihres Teekuchens. Obwohl er sehr gut schmeckte, konnte Diwata ihn nicht wirklich genießen. Dann folgte eine Frage, mit der Diwata schon gerechnet hatte:

„Sag mal, Diwata, wie ist euer Sex?“

Diwata antwortete detailliert, wie wild sie es getrieben hatten und wie unvergesslich ihre Erlebnisse waren.

„Das hört sich alles nach einem sexuellen Abenteuer an. Nimm mir die Bemerkung nicht übel, aber ich glaube, du hast jede Nacht seinen Schwanz gelutscht, als Marian noch da war“, sagte Imelda mit leiser Stimme, damit die anderen Gäste sie nicht hören konnten. Diwata traute ihren Ohren nicht. So etwas Vulgäres und Primitives hatte ihr noch niemand gesagt, erst recht nicht ihre beste Freundin. War sie zu weit gegangen? Noch niemandem hatte sie jemals so ausführlich ihr Intimleben berichtet. Sie spürte, wie die Schamröte in ihr Gesicht stieg. Dann konnte sie sich nicht mehr beherrschen: „Ich habe seinen Schwanz geblasen, weil ich Marian liebe“, tobte sie. „Außerdem war es kein sexuelles Abenteuer. Wir sind seelenverwandt.“

Sie sagte es so laut, dass sich viele Gäste neugierig nach ihnen umdrehten. Der Mokka schwappte über, so kräftig schlug sie auf den Tisch.

„Seelenverwandt“, lachte Imelda verächtlich. „Soll ich dir mal was sagen: Dieser Typ nutzt dich nur aus. Ich glaube dir, dass du ihn wirklich liebst, doch er liebt dich nicht, das garantiere ich dir. Er spielt nur mit dir. Er genießt, was du ihm gibst, ohne dir etwas zurückzugeben.“

„Woher weißt du das“, schrie Diwata sie an. „Du kennst ihn doch gar nicht richtig.“

„Ich kenne ihn nicht wirklich?“, schrie Imelda zurück, „Und ob ich ihn kenne. Diwata“, sagte sie mit einer etwas gefassteren und ruhigeren, aber immer noch erregten Stimme, „hör endlich auf zu träumen. Wir waren doch zusammen im Eden-Club. Hast du nicht gesehen, wie er die Mädchen im Pool angestarrt hat, sogar mich? Er nimmt die Nächstbeste, die ihm über den Weg läuft, solange sie attraktive Beine, eine tolle Figur und schöne Augen hat.“

„Das tut er nicht“, fauchte Diwata sie an. Einen kurzen Augenblick wurde es ruhig. Imelda schien sehr konzentriert über etwas nachzudenken. „Oder“, sagte sie ernst, doch das, was sie sagen wollte, schien so schlimm zu sein, dass sie es nicht aussprechen konnte.

„Was oder?“, fragte Diwata ungeduldig. Dann sagte Imelda mit gefasster Stimme:

„Ich habe einen furchtbaren Verdacht. Dieser Typ war überhaupt kein Single, als wir ihn vor knapp über einem Jahr im Rizal-Park kennen lernten. Er war noch nicht einmal ledig. Ich glaube, er war verheiratet. Vielleicht lebte er in Trennung von seiner Frau und suchte eine Affäre, um über den Schmerz hinwegzukommen.“

„Oh du Schamlose“, schrie Imelda sie jetzt außer sich vor Wut an. „So etwas denkst du über Marian, der für mich alles bedeutet? Halt lieber deine Klappe, wenn du nichts Besseres zu sagen hast. Verheiratet! Verheiratet! Ich glaube, du spinnst. Nie im Leben würde er mir das antun. Er würde auch nicht seine Frau betrügen, dessen bin ich mir hundertprozentig sicher.“

„Dann bleib doch bei diesem Casanova, deinem Frauenheld“, sagte Imelda mit zynisch boshafter Stimme. Das traf. Diwata konnte sich nicht mehr beherrschen.


Ein gewaltsamer Zickenkrieg war die Folge. Sie zogen sich heftig an den Haaren, schrien sich an, rauften miteinander, kratzten, ohrfeigten, schlugen, bissen sich, gingen mit Stühlen aufeinander los, kämpften auf dem Boden und stießen dabei so brachial gegen den Tisch, dass die am Tischrand stehenden Tassen umkippten und der Mokka von oben auf sie herabtropfte. Die meisten Gäste hatten da schon das Café verlassen, die anderen starrten sie fassungslos an. Der Leiter des Cafés, Yuta Hashimoto, hatte bereits die Polizei angerufen. Sie kam schnell und forderte die völlig zerkratzten, zerzausten und mit Mokka besudelten jungen Frauen energisch auf, sofort das Café zu verlassen. Beide kamen schnell wieder zu sich und gingen, ohne sich voneinander zu verabschieden, traurig und beschämt nach Hause.

Marian faltete seinen Abschiedsbrief und klebte die Briefmarke auf den Umschlag. Er war gleichermaßen traurig und erleichtert. Für ihn war es kein Widerspruch, mit einem heiß geliebten Menschen nicht zusammenleben zu können. Er glaubte an jedes Wort, was er geschrieben hatte. Mag sein, dass Diwata und er seelenverwandt waren, doch sie waren nicht für die Niederungen des Alltags bestimmt. Mit Lesley hatte er hingegen viel durchgemacht. Ihre Liebe war an der grauen Routine fast zerbrochen, aber dann hatten sie doch noch im letzten Augenblick den Test der Zeit bestanden. Diwata würde er niemals vergessen. Daran hatte er nicht den geringsten Zweifel. Er glaubte, dass Gott alles vorbestimmt hatte und litt unter keinerlei Schuldgefühlen. Gewissensbisse waren ihm noch fremd. Tagsüber gelang es ihm, die Zeit mit Diwata zu verdrängen. Er schien die tägliche Routine zu genießen. Dabei war sein Leben so eintönig und langweilig. Es bestand in der Woche nur aus Arbeit, Essen und Schlaf. Wie viele Väter hatte er täglich nur eine Dreiviertelstunde Zeit für seine süße Tochter Eliza. Er war stolz darauf, in der Deutschen Bank in London wieder als Finanzberater arbeiten zu können, zumal er mehr als das Doppelte wie auf den Philippinen verdiente. Sein wohlwollender Chef in Manila hatte ihm sogar eine ausgezeichnete Bescheinigung zugefaxt, trotz seiner vielen Urlaube. Offensichtlich war er froh, ihn endlich los zu sein. Außerdem konnte er nicht lügen. Das Einzige, was er Marian vorwerfen konnte, waren häufige Fehlzeiten und eine zu späte Kündigung. Ansonsten war er stets professionell aufgetreten und hatte seine stets zufriedenen Kunden bestens beraten.


Marians beruflicher Erfolg in der Deutschen Bank sowie die zu erledigende Hausarbeit hatten ihren Preis. Er hatte nämlich kaum Zeit für seine Tochter, geschweige denn für Musicals in So-Ho oder für Kontakte in der Londoner Szene. Die Freizeitgestaltung am Wochenende beschränkte sich auf gesittete Spaziergänge im schon frühlingshaften Hydepark. Alles schien in Ordnung zu sein, bis auf die Erinnerungen an das Leben mit Diwata, die ihn nachts verfolgen. Die Gedanken an sie wühlten ihn auf. Ruhe fand er nur in Goethes Worten:

Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne. Ich bin dir nah.

Am Morgen des dreizehnten Januars 1992 erwachte Diwata mit starken Kopfschmerzen. Sie stand auf, sah in den Spiegel und war erschüttert über das, was sie sah: eine Frau mit zerkratztem Gesicht, blauem Auge und verwahrloster Frisur. Man konnte deutlich sehen, dass jemand ganze Haarbüschel herausgerissen hatte. Wie konnte es sein, dass dieser Jemand ihre beste Freundin war? Warum hatte sie so unverhältnismäßig auf Imeldas wenig taktvollen Bemerkungen reagiert? Hätte sie sich nicht besser beherrschen können? Weder ihr Aussehen noch ihr Verhalten entsprachen in irgendeiner Weise ihrem Namen. Sie hatte sich wie ein Tier benommen.


Sie war kein Mensch. Gebrandmarkt setzte sie sich auf ihr Sofa und grübelte: Würde sie mit Imelda überhaupt wieder Kontakt aufnehmen können? Hatte sie vielleicht ihre beste Freundin verloren? Ihr wurde es schwer ums Herz. Sie hatte sich mit Imelda treffen wollen, um wieder ein wenig zuversichtlicher in die Zukunft zu blicken. Jetzt war ihre Melancholie noch schlimmer als zuvor.


Sie nahm den Hörer und tippte einige Zahlen von Imeldas Telefonnummer, war jedoch nicht imstande, weiter zu wählen. Schließlich hielt sie es für klüger, eine Weile zu warten, bis die Zeit ihre sich gegenseitig zugefügten Wunden heilen würde. Wie dumm, dass sich diese unerfreuliche Szene ausgerechnet in ihrem Lieblingscafé abspielen musste. Jetzt hatten Imelda und sie ein unbefristetes Hausverbot, aber sie gab die Hoffnung nicht auf, dass dieses Verbot nach Zahlung einer höheren Geldstrafe wieder aufgehoben werden könnte.


Es folgten ruhige, unspektakuläre Tage. Im Laufe der Zeit gingen die Kratz- und Bisswunden zurück. Auch die Verletzung ihres rechten Auges verheilte. Ihre schönen Haare ließ sie sich neu frisieren. Die ersten Tage genoss sie die Ruhe in ihrem Haus, doch nach ungefähr einer Woche wurde die Stille ihr unerträglich. Ebenso schwer zu ertragen war es, dass Marian sie seit über einer Woche nicht angerufen hatte. Warum musste sie immer die Initiative ergreifen?


Am Morgen des fünfundzwanzigsten Januars 1992 hielt Diwata das Schweigen des Geliebten nicht mehr aus. Mit klopfendem Herzen setzte sie sich sofort ans Telefon und hoffte, nun endlich Marians ruhige Stimme zu hören. Stattdessen beschimpfte sie eine Frau: „Was willst du, Hure?“ Daraufhin knallte die Unbekannte den Hörer auf.


Diwata saß wie versteinert auf ihrem Sessel. Wer war diese Frau? Mit welchem Recht war sie von ihr als Nutte bezeichnet worden? Nie zuvor in ihrem Leben hatte es jemand gewagt, sie ohne Skrupel zu beleidigen. Sie war benommen. Wirre Gedanken jagten ihr durch den Kopf. Als sie sich wieder beruhigt hatte, fielen ihr wieder Imeldas unheilvollen Worte ein, die sie so verletzt hatten. Und plötzlich war ihr klar: Die Beleidigung einer Fremden hatte sie auf den Weg zur erniedrigenden Erkenntnis geführt, dass Marian in festen Händen war.


Sie konnte sich nichts mehr vormachen, so sehr auch die Wahrheit schmerzte. Es war ihr in diesem Augenblick gleichgültig, ob das Teufelsweib Marians Verliebte, Verlobte oder Ehefrau war. Das Gefühl, vom Leben belogen und betrogen worden zu sein, entriss ihr den Boden unter den Füßen. Sie spürte, wie das Blut in ihr kochte, versuchte jedoch, sich selbst zu beruhigen. Hoffnung und Verstand kämpften in ihr. Die Hoffnung sagte, es könne und dürfe nicht sein, dass Marian eine Andere habe. Schließlich habe er ihr noch vor wenigen Wochen ewige Treue geschworen. Ihr Verstand hingegen analysierte Marians Verhalten und plötzlich türmte sich ein ganzes Gebirge von Zweifeln vor ihr auf. Warum hatte er so wenig über seine Vergangenheit gesprochen? Weshalb hatte er fast nichts über sich erzählt? Wieso hatte er sich wochenlang so vehement der Eheschließung widersetzt? Warum hatte ihre Liebe sie ein Jahr lang dermaßen verblendet?


Plötzlich klingelte jemand an ihrer Haustür. Es war der Postbote, der ihr einen Brief von Marian aus England übergab. Ihr Herz klopfte wie ein zügelloser Trommelwirbel, kalter Schweiß stieg in ihr auf. Sie zitterte, als sie las:

Diwata,

unser Leben war ein Traum, doch selbst der schönste Traum unterliegt eines Tages den Widrigkeiten des Alltags. Ich kann und darf nicht zulassen, dass die Belanglosigkeit des Lebens das wunderbare Bild, was ich von dir habe, zerstört. Ich kann nicht hinnehmen, dass wir ein durchschnittliches Paar werden und die Routine unseren zu lange hinausgezögerten Traum vernichtet. Was kann die wunderbaren Augenblicke, die wir zusammen erlebt haben, noch überbieten? Trennen wir uns jetzt bewusst, bevor uns das Mittelmaß des Lebens trennt. Unsere Trennung wird lange dauern, aber nicht für immer. Eines Tages werden wir uns wiedersehen und unsere ewige Liebe wird so stark sein, dass sie selbst den Stachel des Todes besiegen wird. Wie jeder Traum ist auch der unsrige vorüber, doch die Erinnerung überdauert in unseren Herzen. Ich bin bei dir, du seist auch noch so fern. Du bist mir nah. Sei dir dessen immer bewusst.

In unerschütterlicher Liebe,

Marian.


Diwata war sprachlos. Sie konnte, sie wollte nicht glauben, was sie da las. Sie musste Marians Brief immer wieder aufs Neue lesen und sich dabei in ihren Arm kneifen, um zu begreifen, dass sie keinem Albtraum zum Opfer fiel. Noch war sie ruhig, doch es war die Ruhe eines großen Schocks, das Schweigen eines Babys oder Kleinkindes nach dem Sturz, bevor es sich die Seele aus dem Leib schreit. Dieser feige Brief machte alle ihre Zukunftspläne zunichte. Das wusste sie bereits jetzt schon. Welch abgrundtiefe Folgen ihre nun erzwungene Trennung aber im Einzelnen haben würde, konnte sie sich jetzt jedoch noch gar nicht vorstellen. Was sie besonders verletzte, war Marians nebulöse Sprache. Mit schönen, poetischen Worten versuchte er die Wahrheit seiner Trennungsabsichten zu vertuschen. Das entsprach so gar nicht seiner bodenständigen Art. Sie war stets felsenfest davon überzeugt gewesen, dass er immer recht unverblümt die Wahrheit gesagt hatte. Jetzt war sie sich jedoch der Tatsache bewusst, dass er viele Dinge verschwiegen hatte. Warum aber hatte er so vieles verschleiert? Hatte er kein Vertrauen oder Angst vor der gemeinsamen Zukunft? Von welchem Traum schwafelte er in seinem Brief? Ein Paar kann doch gerade in schwierigen Zeiten beweisen, dass Liebe imstande ist, Berge zu versetzten. Prägt nicht besonders der Alltag eine dauerhafte Beziehung? Kann ein wahrhaft seelenverwandtes Paar nicht mühelos die tägliche Routine meistern? Ist das Alltägliche wirklich so bedeutungslos?


Plötzlich musste sie an das widerliche Telefongespräch am Vormittag denken und kam zu der furchtbaren Erkenntnis, dass er überhaupt kein verträumter Dummschwätzer war, sondern ein realistischer Mann, der das wirkliche, bisweilen eintönige und manchmal harte Leben mit einer anderen Frau verbringen wollte. Mit seiner Konkubine, Verlobten, Ehefrau? Das war ihr im Augenblick völlig gleichgültig. Diese schamlose Frau hatte sie Hure genannt, und mit dieser Frau lebte nun ihr Marian zusammen, für den sie alles getan hatte. Was hätte sie noch mehr tun können? Diese Frau hatte sie, Diwata Malaya Dinguinbayan, eine hochintelligente, erfolgreiche Frau aus bestem Hause, als Nutte bezeichnet. War es jedoch nicht ihretwegen, weshalb sie nun vor ihren Eltern sowie all ihren Verwandten und Freunden ihr Gesicht verlieren würde? Oh, du unverfrorene Schlampe! Sie hatte ihr jenen Mann weggenommen, der für sie bestimmt gewesen war. Hatte nicht diese Frau am Telefon die Schuld daran, dass ihr Schicksal nun auf fatale Weise dem jener einfachen Frauen glich, die mit Fremden unbekümmerte Wochen auf einer romantischen philippinischen Insel verbringen und dann schamlos verlassen werden? Sie hatte die furchtbare Gewissheit: Es könnte durchaus sein, dass viele Menschen ihrer bigotten Gesellschaft sie nun tatsächlich als Hure betrachten würden, und schuld daran war vor allem Marian selbst. Dieser Idiot hatte nicht nur sie selbst betrogen, sondern auch seine eigene Frau.


Sie war ohnmächtig vor Wut, erwachte aus ihrem Schockzustand und fühlte sich so miserabel, dass sie sich rächen wollte. Rache bedeutete für sie Gerechtigkeit. Sie wollte nach dem Gesetz des Alten Testaments „Aug um Auge, Zahn um Zahn“ handeln. Doch wie konnte sie Rache nehmen? Sie saß schließlich mutterseelenallein in ihrer Küche. Er, mit dem sie dieses Haus geteilt hatte, lebte nun 12.000 Kilometer entfernt bei seiner Frau, ja sogar im Kreise einer harmonischen Familie. Dessen war sie sich gewiss.


Schließlich konnte sich nicht mehr beherrschen. Sie riss den Küchenschrank auf und schmiss kostbares Porzellan zu Boden, das mit ohrenbetäubendem Lärm zerbrach. Doch nicht genug damit. Mit einem Hammer zertrümmerte sie die Porzellanscherben, bis nur noch winzige Splitter übrigblieben. Dabei verfluchte sie Marian. Gewaltsam öffnete sie die Schublade ihres Küchenschranks, nahm ein riesiges Fleischermesser heraus und stieß es mit all ihrer Kraft so fest in die Tapete ihrer Küche, dass der Putz abbröckelte und ein hässlicher, großer, schwarzer Riss zu sehen war. In ihrer teuflischen Vorstellung stieß sie das Messer mit solcher Wucht in seinen Herzbeutel, dass ihr Peiniger vor den Augen seiner Frau und Tochter blutüberströmt zusammenbrach und starb. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes außer sich, hatte sogar Schaum vor dem Mund. Als sie wieder zu sich kam, brach sie heulend in ihrer Küche zusammen. Wie konnte sie so etwas denken? Wie tief war sie gefallen?


Zwischen Putz und Porzellansplittern saß Diwata zusammengekauert auf den Fliesen ihrer Küche. Sie glich keineswegs - ihrem Namen entsprechend - einer Göttlichen, sondern sah wie ein Häufchen Elend aus. Angst vor sich selbst hatte sie. Zum zweiten Mal hatte sie den Verstand verloren, war völlig außer sich gewesen. Das Leben widerte sie an, Am meisten jedoch hasste sie sich selbst. Die Träumende hatte die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Jetzt musste sie die harten Folgen spüren. Es war, als fiele sie ins zeitlose Nichts.


An die Vergangenheit mit Marian wollte sie nicht mehr denken, weil sie zu schön gewesen war. Ihre Beziehung sollte dem Wunsch ihres Geliebten zufolge ein Traum bleiben. Marian wollte der Liebe nicht einmal die Chance geben, den Test der Zeit zu bestehen. Ohne Marian blieb ihr aber die Zukunft verwehrt. Also gab es nur noch eins: Sie musste vor der Realität fliehen, ihr Gedächtnis zumindest für kurze Zeit mit Hilfe von Alkohol auslöschen. „Alkohol ist dein Sanitäter in der Not.“ Sie erinnerte sich an jenen Song von Herbert Grönemeyer, den ihr Marian einmal vorgespielt hatte. Kein Lied passte besser zu ihrem jetzigen Gemütszustand. Vor ihr standen sechs Flaschen Rotwein aus verschiedenen Ländern.


Sie trank alle Weine aus der Flasche. Keineswegs unbeabsichtigt begann sie mit dem besonders schweren Málaga, den sie auf der Zunge zergehen ließ. Die kräftigen Schlucke verfehlten ihre Wirkung nicht, schon bald begann sich alles vor ihren Augen zu drehen. Nachdem sie den Portwein zur Hälfte getrunken hatte, erkannte sie nur noch schemenhaft die Umrisse ihrer Küche. Es folgten Merlot und Chianti classico. Sie nahm sich viel Zeit, trank ganz langsam aus den Flaschen der französischen und italienischen Weine. Doch das nutzte auch nichts mehr. Da sie am Tag kaum etwas gegessen hatte, war sie jetzt schon besoffen, obwohl sie keine einzige Flasche komplett ausgetrunken hatte. Sauvignon Shiraz und Pinot Noir konnte sie kaum noch halten und goss eine Menge daneben. Die Weinlache bahnte sich ihren Weg durch die Küche.


Während Weinströme aus ihrem Mund liefen, begann sie in der Gestalt eines großen schwarzen Vogels zu fliegen. Zuerst flog sie über die Wolkenkratzer von Makati, dann über das Meer immer höher, bis sie die Häuser ihrer Heimatstadt nur noch als winzige Miniatur erkennen konnte. Schließlich stieg sie noch höher in die Lüfte und schwebte ruhig über einem Wolkenbett.


Sie erwachte am späten Abend. Es war stockdunkel. Ihr war speiübel und sie spürte, dass es bald soweit sein würde. Also versuchte sie, aufzustehen und sich auf den Weg zu machen, doch es gelang ihr nicht, so sehr sie sich auch anstrengte. Immer wieder fiel sie hin. Ihr blieb nichts anderes übrig, als auf allen Vieren zu kriechen. Sehen konnte sie nichts, weil sie in ihrer Trunkenheit den Lichtschalter nicht fand. Sie stieß eine der Flaschen um und verletzte ihre Hand, als sie versehentlich in eine der Glasscherben fasste. Ihre mit Wein besudelten Kleider und die stark blutende Hand hinterließen rote Spuren auf den Fliesen und dem Laminatboden, als sie von der Küche ins Badezimmer kroch. Sie vermochte sich im letzten Augenblick über die Kloschüssel zu beugen und kotzte die Seele aus dem Leib. Nicht ein Tropfen Wein blieb in ihr, sogar Galle erbrach sie.


Oh Dionysos, was hat sie mit deinem Göttertrank gemacht, dem Trank der Musik, des Tanzes und des Frohsinns? Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte sie im Sinnesrausch schwungvoll rubinroten Chianti auf den nackten weißen Körper ihres Geliebten gegossen. Und jetzt? Und jetzt? Alles, was vom Saft der Reben übrigblieb, war eine stinkende Lache im Klo, die sie angewidert wegzog. Ihr Bild im Spiegel ließ sie erschaudern. Zitternder Körper, blutende Hand und todbleiches Gesicht glichen dem Unbild einer Fremden. Sollte sie den Notarzt anrufen? Sie konnte kaum sprechen, so heiser war sie nach ihrem furchtbaren Akt des Erbrechens. Also ließ sie ihre Badewanne halbvoll laufen und hielt ihre Hand ins warme Wasser, das sich rot färbte. Endlich kam das Blut zum Stillstand. Erschöpft legte sie sich auf die Fliesen ihres Badezimmers und schlief sofort tief ein.

Bereits mittags wachte sie auf. Sonnenstrahlen erleuchteten ihre Wohnung. Nichts schien diesen schönen Januartag zu trüben, ganz so, als ob nichts geschehen wäre. Doch sie konnte ihn nicht genießen. Die Sonne blendete ihre Augen. Sie hatte einen Kater, als ob sie allein ein ganzes Weinfass ausgesoffen hätte. Ihr war immer noch etwas übel und Sternchen tanzten vor ihren Augen, aber zumindest konnte sie wieder klar denken. Sie stand auf, taumelte in ihr Schlafzimmer, zog ihre mit Wein und Erbrochenem besudelten Kleider aus und ihren Jogginganzug an. Ihr war es egal, wie sie herumlief, da sie ohnehin niemand beobachten würde. Während sie mit ihrer noch immer schmerzenden rechten Hand die Blut- und Weinspuren wegwischte sowie mit Kehrblech und Handbesen Glas- und Porzellanscherben beseitigte, wurde ihr klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Trennungsschmerz lässt sich weder mit Gewalt- noch mit Alkoholexzessen besiegen. Sie konnte ihren Liebeskummer weder zerschlagen noch verfluchen, erstechen oder mit Wein herunterspülen. Sie musste akzeptieren, dass es ihr schlecht ging, auch wenn es ihr schwer fiel, sich das einzugestehen. Abgesehen von ihrer kurzen, unerfreulichen Beziehung mit Isagani hatte sie niemals irgendein auch noch so geringes Leid erfahren. Auf harte Zeiten war sie keineswegs vorbereitet.


Obwohl sie nicht wusste, was auf sie zukam, war ihr klar, dass die gestern begonnene, schwere Zeit lange dauern würde. Sehr lange. Es würde jedoch alles einfacher werden, wenn sie ihre Trauer zuließe. Hatte sie nicht das Recht, ihre Gefühle zu zeigen? Wenn sie ihren Kummer unter Ausschluss der Öffentlichkeit verarbeiten wollte, stand es ihr zu, einige Tage zu Hause zu bleiben und die Rollläden tagelang nicht hochzuziehen. Schließlich war sie noch nicht berufstätig, die Seminare und Vorlesungen in der Uni fanden auch ohne sie statt und den Zeitplan für die Fertigstellung von Rosario entscheidet allein konnte sie selbst erstellen. Sie hatte das Vorrecht, ihre Zeit selbst einzuteilen. Niemand bestimmte, was sie zu welchem Zeitpunkt zu erledigen hatte.


Kein Schatten hatte jemals Diwatas sonnendurchflutetes Leben getrübt. Als unverwüstliche Frohnatur hatte sie immer die Nähe von Menschen gesucht und sich fast noch nie für längere Zeit zurückgezogen. Doch nun war alles anders. Aus einer extrovertierten jungen Frau wurde eine introvertierte Einsiedlerin. Zwei Wochen lang verließ sie kaum noch ihre Wohnung, außer wenn sie das Nötigste einkaufen musste. Fad schmeckte die Suppe, schlecht mundete das lieblos zubereitete Essen. Sie bekam kaum einen Bissen herunter. Die Wände fast aller Zimmer ihrer Villa bemalte sie schwarz. Ihre einst farbenfrohe und helle Kleidung ließ sie im Schrank und kaufte sich stattdessen schwarze Hosen, Röcke und Anzüge. Alle sollten sehen, wie traurig sie war. Als sie ihrer Friseurin sagte: „Ich möchte einen kurzen Haarschnitt“, entgegnete diese schockiert: „Aber Frau Dinguinbayan. Das kann doch nicht ihr Ernst sein! Sie haben so wunderschöne lange Haare.“


Daraufhin entgegnete Diwata missmutig: „Bitte tun Sie das, was ich Ihnen sage. Ich will kurze Haare.“


Frau del Pilar, ihre Haarstylistin mit spanischen Vorfahren, leistete keinen Widerstand. Was sollte sie auch tun? Ihre eigenwillige Kundin war eine erwachsene Frau, die wusste, was sie wollte. Und außerdem war jeder Kunde Gott. Natürlich merkte sie, dass mit ihrer Kundin etwas nicht stimmte, weil sie kaum ein Wort sprach. Da sie eine gute Freundin von Diwatas Mutter war, wollte sie unbedingt mit ihr über Diwata sprechen. Sie empfand das als ihre Pflicht.


In ihre Wohnung zurückgekehrt, erkannte sich Diwata im großen Spiegel nicht wieder. Sie war erschrocken über das, was sie sehen musste. Eine Frau mit einstmals bezauberndem Anblick hatte sich in einen schwarz gekleideten Geist mit eingefallenem Gesicht, blasser Haut und kurzen Haaren verwandelt. Aus ihren großen, mandelförmigen Augen flossen hemmungslos die Tränen. Nur sie waren noch jugendlich und schön wie ehedem, ansonsten hatte sie das Gefühl, mindestens zwanzig Jahre älter zu sein als noch von einigen Wochen. Monatelang hatte der kunstvoll verzierte Spiegel sie in das Reich ihrer eigenen Anmut und Sinnlichkeit geführt, als sie sich mit Marian den Liebesstellungen des Kamasutra hingegeben hatte. Nun hatte sie keinen Geliebten mehr. War dieser Spiegel nun Freund oder Feind? Gnadenlos führte er ihr vor Augen, welch ein erbärmliches Geschöpf sie jetzt war. Manchmal hasste sie ihn und wünschte sich, er könnte die von Trauer und Leid gekennzeichnete Gestalt in jene jugendliche Schönheit zurückverwandeln, die sie so lange Zeit gekannt und geliebt hatte. Doch was sie jetzt sehen musste, war ihr ganz und gar fremd. Sie hatte sich ihr selbst gegenüber entfremdet und brauchte mehr denn je liebevolle Menschen, denen sie alles anvertrauen konnte. Aber mit wem konnte sie sprechen? Wollte Imelda sie jemals wiedersehen? Konnte sie mit ihren Eltern reden, deren größtes Anliegen es war, nicht ihr Gesicht zu verlieren?


Als sie wieder einmal apathisch und depressiv vor ihrem Spiegel saß, hörte sie, dass jemand mehrmals energisch an ihrer Haustür klingelte. Sie erschrak. Wer konnte das sein? Doch wohl hoffentlich nicht Mama? Es war ihre Mutter. Sie war gekommen, um ihre Tochter zur Rechenschaft zu ziehen. Sollte Diwata wirklich die Tür öffnen? Was würde ihre Mutter denken? Sie schämte sich. Nachdem sie eingetreten war, ertönte ein kurzer, aber heftiger Schrei, den nur Mütter ausstoßen können, wenn ihrem Kind etwas Schlimmes zugestoßen ist: „Wie siehst du denn aus? Was ist denn passiert?“


Mit leiser, brüchiger Stimme erzählte ihr Diwata alles, was seit Neujahr geschehen war, verschwieg jedoch ihren Kampf mit Imelda im Café Akiba. Sie bemühte sich, so ruhig und gefasst wie möglich zu sprechen, doch schließlich konnte sie sich nicht mehr beherrschen. „Mama“, schluchzte sie, „es wird keine Hochzeit mehr geben, keine Kutschen und kein Festessen, geschweige denn unvergessliche Flitterwochen oder ein rauschendes Fest auf einer deutschen Burg. Wir haben keine Zukunft mehr. Alles ist aus. Aus und vorbei!“ Sie warf sich in Mutters schützende Arme und heulte wie ein verwahrloster Schlosshund. Niemals zuvor hatte Maria Dinguinbayan ihre Tochter in einem Zustand derartiger Verzweiflung angetroffen.


Wider Erwarten reagierten die Eltern mit großer Anteilnahme auf Diwatas gescheiterte Liebesbeziehung. Sogar ihr strenger, konservativer Vater hielt zu ihr, hörte zu, wann immer sie Trost brauchte und war stets bemüht, sie zu ermutigen. Über Marian sprach er nicht. Nur einmal schlug er mit der Faust auf den Tisch und schrie erbost: „Dieser unverschämte Deutsche.“ Von da an nannten alle Familienangehörigen den Mann, der ihre geliebte Tochter verlassen und betrogen hatte, „den Schamlosen.“ Er hatte keinen Platz mehr in ihrem Herzen.


Mittlerweile war schon über ein Monat seit der traumhaften Nacht am Geheimen Strand von Palawan vergangen. Ihre Monatsblutung ließ noch immer auf sich warten. War sie schwanger? Zu ihren Eltern hatte sie zwar ein offenes Verhältnis, konnte aber unmöglich darüber sprechen. Schließlich hatte sie ihnen schon genug zugemutet. Jeden Tag sehnte sie sich mehr nach Imelda. Nur ihr hatte sie früher alles anvertrauen können. Was war nur im Café Akiba geschehen? Warum hatten sich beide so schlecht benommen? Alles musste wieder so werden wie einst. Sie spürte ein unbeschreibliches Verlangen, Imelda anzurufen und sich bei ihr zu entschuldigen. Sie allein könnte ihre Situation verstehen.


An einem Sonntagvormittag Anfang Februar saß Diwata mit zitternden Händen am Telefon und wählte Imeldas Nummer. Mit leiser und trockener Stimme sagte sie: „Hallo, hier ist Diwata. Ich wollte mich bei dir.....“ Imelda knallte den Hörer auf. Weshalb gab sie ihr nicht einmal die Gelegenheit, sich zu entschuldigen? Sehr deprimiert schlich Diwata zu ihrem Bett, in dem sie den Rest des Tages teils schlafend, teils grübelnd verbrachte. Manchmal starrte sie nur ihre schwarze Wand an. Litt sie vielleicht schon seit Tagen an Depressionen? Nein, davon konnte keine Rede sein. In den letzten Wochen war einfach zu viel Schlimmes passiert. Das musste sie erst einmal verarbeiten. Wenigstens gab es einen Hoffnungsschimmer: Ihre Familie hielt zu ihr.


Noch durfte sie nicht aufgeben. Sie musste immer wieder versuchen, Imelda zu erreichen, um sich mit ihr zu versöhnen. Am darauffolgenden Tag versuchte sie es noch einmal. Diesmal hatte sie Erfolg. Die Busenfreundin war bereit, mit Diwata zu sprechen, allerdings nur kurz und mit kalter, distanzierter Stimme. Sie einigten sich auf ein Treffen am darauffolgenden Samstag.


Imelda hatte Diwata nur selten besucht. Ihr prunkvolles, großes Haus hatte sie aber in guter Erinnerung. Deshalb war sie bestürzt über einige verwahrloste Zimmer der Villa. Ganz besonders fiel ihr jedoch das ungepflegte Aussehen der Freundin auf. Es war offensichtlich: Diwata war überhaupt nicht gut beieinander, möglicherweise sogar psychisch krank. Sie zählte zu jenen Leuten, die über eine Trennung nur schwer hinwegkommen und sich in ihren Schmerz so hineinsteigern, dass ihr Zustand als pathologisch bezeichnet werden muss. Imelda nahm wirklich Anteil, ihr Mitleid wirkte nicht verletzend und herablassend. Im Gegensatz zu ihrem Treffen im Café Akiba versuchte Imelda diesmal, ihre Freundin zu verstehen. Es war jedoch schwer, Diwata zu folgen, weil sie ihre wirren Worte immer wieder durch heftiges Schluchzen unterbrach.


Diwatas vermutliche Gravidität verwunderte Imelda nicht. Ihre Freundin würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Mutter werden, es sei denn, sie triebe ab. Als Katholikin würde sie aber alles tun, Diwata solch ein Vorhaben auszureden. Vieles konnte sie tolerieren, aber keine Abtreibung, aus welchem Grund auch immer. Außerdem war ein Schwangerschaftsabbruch auf den Philippinen illegal und deshalb mit großen Risiken verbunden. Kein seriöser Arzt wollte sich der gesetzeswidrigen Tötung eines ungeborenen Kindes schuldig machen. Nur Scharlatane taten dies zu Wucherpreisen. Mit klopfendem Herzen starrten beide Frauen auf den Schwangerschaftstest. Die zwei Minuten bis zum Klarheit schaffenden Wort schienen unendlich zu sein. Als sie endlich das Wort „schwanger“ lasen, reagierten beide mit einem Aufschrei. Diwatas Gemüt schwankte zwischen Freude und Verzweiflung. Sie hatte sich so sehnlich ein Kind gewünscht, jedoch in ihrer naiven Loyalität zu Marian niemals für möglich gehalten, dass sie einmal als alleinerziehende Mutter ihr Kind erziehen würde, noch dazu in einem Land, in dem die Religion eine solch große Rolle spielte. Wieder einmal konnte sie ihre Gefühle nicht beherrschen und weinte hemmungslos und heftig. Warum weinte sie? Aus Freude über das Kind, Verzweiflung über die zu befürchtende Diskriminierung ihrer Gesellschaft, Hoffnung, Schuldgefühlen gegenüber ihren Eltern und Verwandten, Angst vor der Verantwortung? Sie wusste es selbst nicht. Imelda hingegen fasste sich schnell wieder und tat das einzige, was eine gute Freundin in dieser Situation tun muss. Sie umarmte Diwata und sprach ihr Mut zu: „Diwata, wir haben uns beide sehr dumm benommen, aber wir gehören zusammen. Die Umstände deiner Schwangerschaft sind zweifelsohne schwierig, aber vergiss nie, dass ein Kind ein Segen ist. Wisse: Ich werde dir immer beistehen, egal, wie es dir geht, was du tust und wo du bist. Sei dir dessen gewiss.“


Imeldas ermunternde, tröstende Worte hatten Diwata gut getan, doch sie konnten nichts daran ändern, dass sie sich fühlte, als ob jemand mit einer Bratpfanne auf ihren Kopf geschlagen hätte. Wie froh wäre sie jetzt, wenn Marian noch bei ihr wohnte, denn schließlich hatte sie sich ja insgeheim ihre Schwangerschaft gewünscht. Zumindest war sie ohne Wissen ihres Geliebten das Risiko eingegangen, Mutter zu werden. Als unverheiratete, junge Frau ein Kind ohne Partner großzuziehen, war jedoch in ihrer engstirnigen und bigotten Gesellschaft ein Frevel. Warum wollten so viele nicht einsehen, dass auch in katholischen Ländern Kinder ohne Vater aufwachsen? Weshalb verschlossen sie ihre Augen vor neuen Lebensformen jenseits der traditionellen Familie? Jetzt war auch sie eine jener Frauen, die von Liebhabern geschwängert und dann verlassen worden waren. Diwata kochte innerlich vor Wut. Was sollte sie nur ihrer Familie sagen? Würde sie jetzt wirklich ihr Gesicht verlieren? Auch bittere Tränen der Verzweiflung verschafften keine Erleichterung: Sie musste es sagen. Sie konnte nicht jene Wahrheit verheimlichen, die bald alle mit eigenen Augen sehen würden.


An diesem schönen Februarmorgen im Jahre 1992 wollte sie jedoch alles kurzfristig vergessen. Sie musste unbedingt einen Stadtbummel machen. Sie war froh, der dunklen Enge ihrer Wohnung zu entkommen.


Es war am frühen Vormittag. Sie saß zusammen mit vielen anderen Fahrgästen im Regionalzug Richtung Quezon City. Die feuchtheiße Regenzeit ließ noch lange auf sich warten. Noch war es mäßig warm und trocken, aber im Zug war die Luft so schwül und stickig, dass den meisten Passagieren der Schweiß aus den Poren lief. Sie hatte es vermieden, während der frühen Morgenstunden dieses öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, wenn Tausende von Pendlern gewöhnlich die Bahnsteige überschwemmen und sich in die Züge quetschen. Doch es war immer noch voll. Ihr gegenüber saß ein etwas älterer, dickbäuchiger Mann mit feistem Gesicht, der sie wenig dezent anstarrte. Schließlich fiel sie mit ihren kurzen Haaren auf. Das lange schwarze Kleid erregte die Aufmerksamkeit des Mannes nicht minder. Weder ihre Figur noch die sinnlichen Lippen und dunklen, verführerischen Augen hatten ihre ursprüngliche Schönheit verloren. Wahrscheinlich war es diese Widersprüchlichkeit, die den Mann in seinen Bann zog. Ansonsten nahm niemand Notiz von ihr, weder die kichernden Jugendlichen auf den anderen Sitzen noch der neben ihr sitzende Banker im Designeranzug, der sein Gesicht unter seine Zeitung vergrub. Was sollte sie heute machen?


Ziellos pendelte sie zwischen Makati und Quezon. Irgendwann stieg sie an der nicht weit von ihrer Wohnung entfernt liegenden Ayala Station aus. Nun war sie Teil einer Menschenmasse, wie Lemminge in eine Richtung drängend. Bis vor kurzem hatten ihre Anmut, Schönheit und Klugheit viele Menschen magnetisch angezogen, aber jetzt genoss sie es, von niemandem beachtet zu werden. Wie unzählige andere Fahrgäste ging sie durch den Ausgang und redete sich ein: Ich bin frei. War sie das aber tatsächlich? Marian hatte ihr eine Freiheit zurückgegeben, die sie nicht mehr wollte. Sie fühlte sich nichtig und hilflos, gleich einer Feder im Wind, die orientierungslos dorthin weht, wohin der Lufthauch sie tragen wollte. Sie hatte kein Ziel, aber wenigstens im Kreise von Freunden und Verwandten fand sie Halt. Und sie war nicht mehr allein. In ihrem Unterleib war ein kleines, winziges Wesen, noch nicht als Mensch erkennbar, doch es würde heranwachsen und von Monat zu Monat immer deutlicher die Form eines Winzlings annehmen.


Während ihres Bummels auf einer von Manilas beliebtesten Einkaufsstraßen, der Ayala Avenue, setzte sie sich auf eine Bank und beobachtete die an ihr vorbeilaufenden Leute. Sie sah Geschäftsmänner, Paare und Familien mit Kindern. Alle schienen ein Ziel zu haben, dem sie hinterher hetzten. Und sie? Plötzlich war ihr klar: Nur langsam würde sie über ihre Trennung hinwegkommen, aber das winzige Menschlein in ihr würde ihr helfen, im Leben zu zielen. Es würde sie zwingen, neue Hoffnung zu schöpfen. War sie nicht jung genug für einen Neuanfang? Ihr war bewusst, dass sie nur im Schneckentempo vorankommen würde. Mit Rückschlägen und Kehrtwendungen ins Reich der Lethargie musste sie rechnen. War es dennoch nicht besser, sich nur sehr langsam vorwärts zu bewegen als dauerhaft in Trauer und Depressionen zu erstarren? Sie nahm sich vor, Eltern, Verwandten und Freunden die Wahrheit zu sagen, koste es, was es wolle. Außerdem konnte sie nicht für immer wie eine schwarzgekleidete Nonne durchs Leben gehen. Also kaufte sie Markenkleider von Louis Vuittons und Donna Karan.


Nach ihrem Bummel im Einkaufszentrum La Glorietta führte sie der Weg zum thailändischen Restaurant Oody‘s, wo sie einen leckeren großen Salat mit Garnelen, Sojasprossen, Erdnüssen und süßsaurer Chilisoße bestellte. Zum ersten Mal seit Wochen schmeckte ihr das Essen wieder gut. Sie genoss jeden Biss in vollen Zügen und ließ den Mangosaft auf der Zunge zergehen.


Am Nachmittag verspürte sie das große Verlangen, ihr Lieblingscafé Akiba zu besuchen. Das war ein Wagnis, denn sie hatte immer noch Hausverbot. Durch den kurzen Haarschnitt und das lange schwarze Kleid wurde sie aber nicht erkannt. Schnell verfolgten sie die Schatten der Vergangenheit. Während sie ohne Appetit in ihrem grünen Teekuchen herumstocherte, hatte sie plötzlich wieder ihre Schlägerei mit Imelda vor Augen. Es folgten weitere schreckliche Erinnerungen an Flüche und Verleumdungen, Jähzorn und Alkoholexzesse. Nackte Panik bemächtigte sich ihrer, als sie plötzlich daran dachte, dass schon geringe Mengen an Alkohol dem Kind im Mutterleib dauerhaften Schaden zufügen können. Eine Fehlgeburt war keineswegs ausgeschlossen. Und was wäre, wenn sie ein behindertes Kind zur Welt brächte? Alles, was sie fühlte, war Bitterkeit und Wut über sich selbst. Sie stand auf und zahlte, obwohl sie weder ihren Mokka ausgetrunken noch ihren Teekuchen aufgegessen hatte. Zum ersten Mal empfand sie ihr geliebtes japanisches Café als Ort oberflächlicher Zerstreuung, den sie in ihrem Gemütszustand keine Sekunde länger ertragen konnte.


Ihr Weg führte unmittelbar zur Kathedrale von Manila. Im Lichte der barocken Kirchenfenster kniete sie nieder und versank in ein inbrünstiges Gebet. Niemals zuvor hatte sie solch eine Verzweiflung empfunden. Sie war noch schlimmer als Trennungsschmerz und Wut auf Marian, denn an ihrem unverantwortlichen Verhalten hatte sie allein die Schuld. Jetzt stand es im Ermessen Gottes, ob sie ihr Kind zur Welt bringen würde. ER allein würde auch über Gesundheit oder Krankheit des Kindes entscheiden. Sie hoffte, dass der Heilige Vater kein zürnender Gott wäre, sondern auch Sünder lieben würde. So bat sie um Vergebung für alle ihre Sünden. Während sie ihr mit Tränen überflutetes Gesicht unter ihren Armen verbarg, schrien ihre Gedanken zu Gott: „Geliebter Vater: Wisse, dass ich mir meiner großen Schuld bewusst bin, doch ich flehe dich an: Verschone mein Kind. Es ist alles, was ich habe. Und es ist unschuldig.“


Offensichtlich hatte sie bei Gott mit ihrem verzweifelten Gebet Gehör gefunden. Der Ultraschall offenbarte deutlich die winzige Gestalt eines Mädchens. Der Embryo zeigte keinerlei Auffälligkeiten. Sie würde eine kerngesunde Tochter zur Welt bringen. Mit unbeschreiblicher Erleichterung und Freude nahm sie diese gute Nachricht auf. Mittlerweile war Diwata im fünften Monat schwanger, was nicht mehr zu übersehen war. Sie hatte es einfach nicht fertig gebracht, anderen von ihrer Schwangerschaft zu erzählen, abgesehen von Imelda. Stattdessen hatte sie ihre Mitmenschen immer erfolgreich davon überzeugt, dass ihr deutlich sichtbarer Bauch eine Folge von übermäßigem Genuss von Kuchen und Schokolade sei. Wer spürt nicht das Verlangen, in einer großen Krise sein Leben zu versüßen? Jetzt gab es jedoch keinen Grund mehr, irgendjemandem ihre Schwangerschaft zu verheimlichen. Was auch immer geschehen war: Sie würde ein gesundes Kind gebären, denn eine Fehlgeburt war bei gesunder Lebensführung so gut wie ausgeschlossen. Und sie lebte gesund. Obst und Gemüse aß sie jeden Tag, schlief gut und trank keinen Tropfen Alkohol.


Als sie an jenem heißen Abend im Mai 1992 ihren Eltern gestand, dass sie schwanger war, saßen diese wie versteinert auf der Terrasse. Nach unendlich scheinenden Minuten des Schweigens sagte schließlich ihr Vater mit besorgter Miene: „Komm, lass uns reingehen. Die Nachbarn müssen nicht unbedingt hören, was wir hier besprechen.“ Als sie am Glastisch saßen, sagte ihr Vater:

„Da hast du dir selbst und uns etwas eingebrockt.“ Diwata wusste sofort, dass er meinte: „Jetzt haben wir unser Gesicht verloren.“ Die Moralpredigt ihrer Mutter ließ nicht lange auf sich warten.

„Diwata, ich habe immer gewusst, wie wild ihr es getrieben habt. Klar war mir auch, dass ihr nicht damit warten konntet, bis ihr verheiratet wart, wie es sich geziemt. Ich hatte aber zumindest erwartet, dass ihr als verantwortungsvolle Erwachsene eine Schwangerschaft mit allen legalen Verhütungsmitteln verhindern würdet. Ihr hingegen wart naiver und dümmer als Teenager. Oder wolltest du etwa schwanger werden?“


Diwata lief ein Schauder den Rücken herunter. Sie brachte es nicht fertig, zu gestehen, dass sie die volle Verantwortung für ihre Schwangerschaft trug. Während sie überlegte, was sie auf die intime Frage ihrer Mutter antworten sollte, kamen die erlösenden Worte ihres Vaters: „Nun denn, wir können das Rad der Zeit nicht mehr zurückdrehen. Blicken wir stattdessen in die Zukunft. Ist ein Kind kein Geschenk des Himmels? Was auch immer geschehen wird: Wir werden bei dir sein und dir helfen.“ Ihre Mutter nickte zustimmend. Sie fiel ihrem Vater weinend in die Arme. Sie hatte das Schlimmste befürchtet, niemals hingegen mit so viel Verständnis gerechnet. In diesem Augenblick glaubte sie, die besten Eltern der Welt zu haben.


Je rundlicher Diwatas Bauch wurde, desto mehr verbesserte sich ihr Gemüt. Sie sah wieder eine Zukunft. In ihr wohnte eine kleine Erdbewohnerin, die im Laufe ihres Wachstums immer stärker durch Tritte auf sich aufmerksam machte. Diwata sprach mit ihr und sang Wiegenlieder. Häufig hörte sie klassische Musik. Mozarts Klaviersonaten prägten den Alltag.


Schon jetzt wusste Diwata, dass sie ihre Tochter Dalisay Salvadora nennen würde. Salvadora, die Retterin. Hatte ihre Tochter sie nicht von der Verzweiflung befreit und aus der Antriebslosigkeit gerissen? Natürlich dachte Diwata auch noch oft an Marian. Sie wurde immer wieder melancholisch, wenn sie sich vorstellte, wie schön ihre Schwangerschaft jetzt wäre, wenn ihr zum zukünftigen Ehemann auserkorener Ex-Freund sie begleiten und unterstützen könnte. Wie sehr brauchte sie gerade jetzt seinen Halt. Doch sie freute sich auch über den seelischen Beistand und die Hilfe ihrer Eltern, Verwandten und Freunde. Wider Erwarten wurde sie nicht getadelt und erst recht nicht verstoßen. Dadurch gewann sie ihr Selbstbewusstsein zurück und fasste neuen Mut.


Wenn sie keine Klausuren schrieb, stürzte sie sich auf das Schreiben. Sofern es ihre gesundheitliche Verfassung zuließ, schrieb sie bis zu acht Stunden am Tag. Ihre Hände tanzten dann regelrecht über die Tastatur ihres Laptops. Sie identifizierte sich mit der Heldin Rosario. Hatte sie nicht mit ihrer Protagonistin viel gemein? Andererseits konnte sie sich von Traditionen nicht lösen. Rosario wäre es nie in den Sinn gekommen, zu heiraten. Je mehr sie schrieb, desto mehr zweifelte sie an sich selbst. Hatte sie wirklich heiraten wollen oder nur ihren Eltern zuliebe? Hatte sie wirklich ausschließlich den Traum anderer erfüllen wollen? War ihre Romanheldin so, wie sie sich nicht zu sein traute? Musste sie über 300 Seiten schreiben, weil sie in zwei einfachen Sätzen nicht ausdrücken konnte, was sie wünschte, wollte und fühlte? Hatte sie beim Liebesakt am Geheimen Strandüberhaupt an ein Kind gedacht?


Diwatas Grübelei war müßig. Ihr Entschluss, nicht mehr die Pille zu nehmen, mag unverantwortlich gewesen sein. Jetzt war ihr das aber alles völlig gleichgültig. Sie wollte das Kind, auch wenn die Geburt nicht den Moralvorstellungen ihrer Umgebung entsprach. Sie wollte es um jeden Preis.


Obwohl die Morgensonne schon das Schlafzimmer durchflutete und die Vögel zwitscherten, lagen Marian mit Frau und Tochter noch im Bett. Ein verfrühter trockener Sommertag hatte begonnen, selten in dieser Stadt mit ihrem gemäßigten und feuchten Klima. Und das Ende Mai! Marian nahm seine Tochter liebevoll in den Arm. „Ich liebe dich, Papa“, sagte sie. Marian und Lesley sahen sich an und lächelten. Beide wurden Teil eines der Momente jenes vollkommenen Glücks, das nur von kurzer Dauer ist. Diese Augenblicke sind es, derentwegen es sich lohnt zu leben, so beschwerlich und steinig auch der für uns bestimmte Weg sein mag. Endlich schien er das Familienglück wiedergefunden zu haben, während seine Vergangenheit über 11.000 Kilometer lange Schatten nach Manila warf. Marian hingegen versuchte, die Gedanken an die verstoßene Geliebte zu verdrängen, was ihm von Tag zu Tag besser gelang. Genauso erfolgreich hatte er seine nun neben ihm liegende und innig liebkosende Ehefrau verdrängt, als er vollkommen unter Diwatas Bann gestanden hatte.


Kein Wässerchen schien die Schönheit des heutigen Tages zunächst zu trüben, als Marian mit seiner Familie auf der mit Rhododendren überwucherten Terrasse seiner Nobelvilla in Belgravia ausgiebig brunchte. Ausgelassen ging er später mit Frau und Töchterlein im Hydepark spazieren, in dem sich schon viele Menschen tummelten: picknickende Familien, Jogger und innig liebende Paare. Gedanken an Diwata durfte solche Augenblicke des Glücks nicht mehr stören. Diese Vereinbarung hatte er mit seinem Gewissen getroffen.


Dumm war nur, dass sich sein Gewissen nicht immer an jene Vereinbarung hielt. Bereits in Chinatowns Restaurant Golden Dragon hatte sich das Familienglück verflüchtigt. Allzu sehr weckte das köstliche Menü Erinnerungen an jenes vorzügliche Mahl, das er vor über einem Jahr in Binondo mit Diwata genossen hatte. Marian wollte sich nichts anmerken lassen und kompensierte den Frust der noch nicht verarbeiteten Trennung mit Jiaozi, Frühlingsrollen, gebratener Ente, allerlei Fischgerichten, süßsaurem Schweinefleisch, japanischer Misosuppe, einer großen Menge an Sushi in allen Varianten, chinesischem Tee und Pflaumenwein. Da er wie ein Leistungssportler unzählige Male zwischen Buffet und seinem Platz hin und herpendelte und sich den Teller füllte, fiel zunächst auch nicht auf, dass er ziemlich wortkarg war. Schließlich war der Arme ja völlig außer Atem. Schweißperlen auf der Stirn waren ein weiterer Beweis für die große Anstrengung zwischen Buffet und Tisch. Nachdem er beim Dessert zwar zur Ruhe gekommen war, aber immer noch kaum ein Wort sprach, wunderte sich Lesley: „Sehr gesprächig bist du heute ja nicht gerade. Was ist denn los mit dir? Woran oder an wen denkst du? Doch etwa nicht an diese....“

„Nein, nein. Natürlich nicht“, versuchte er seine Frau zu beruhigen. „Über die bin ich längst hinweg“, log er weiter.


Am Abend des schönen Maitages hatten Lesley und Marian endlich einmal Zeit für sich selbst, während ihr Babysitter sich um die kleine Eliza kümmerte. In der Woche passte gewöhnlich eine Tagesmutter auf die Kleine auf. Lesley, die eine Stelle als Buchhalterin im Belgravia College gefunden hatte, kam wie Marian oft erst am späten Nachmittag nach Hause, manchmal sogar erst abends. Jetzt genoss das gestresste Paar das bunte Treiben umso mehr. Arm in Arm schlenderte es durch Soho, durch dessen Straßen Künstler, Geschäftsleute, Liebespaare und Huren flanierten. Marian und Lesley lauschten den Straßenmusikern. Eine Jazzband spielte beschwingt Ragtime, Dixie, Bebop und Latin Jazz. Einige Meter weiterertönten Gesang und Gitarrenriffs eines virtuosen Rockgitarristen. Nicht weit davon entfernt sang eine sehr talentierte schwarze Soulsängerin eigene Songs, begleitet von Gitarristen, Keyboardern, Schlagzeugern und dem stimmgewaltigen Chor dreier Sängerinnen. Die ganze Welt schien hier in Soho an jenem Abend vereint zu seines war ein Bild der Extreme: Lasziv und modisch gekleidete Ostasiatinnen, Pakistani und Inderinnen stolzierten auf Stöckelschuhen neben Frauen in Kopftüchern und Burkas. Konservative Banker in Schlips und Kragen schien die Anwesenheit von Touristen in ausgewaschenen Jeans und T-Shirts nicht zu stören, obwohl etliche schon deutlich über ihren Durst getrunken hatten und grölend von Pub zu Pub torkelten. In diesem kosmopolitischen Menschengewühl fielen die Händchen haltenden schwulen und lesbischen Paare aus der Gay Community Londons nicht weiter auf. Lesley und Marian setzten sich in ein Straßenrestaurant und sahen, Cocktail schlürfend, der fröhlichen Menschenmenge zu.


Gerne wäre das Paar noch durch die nächtlichen Straßen Sohos geschlendert, doch um zehn Uhr abends begann schon die Spätvorstellung des Musicals Miss Saigon im Royal Drury Lane Theatre. Marian war der Inhalt des Musicals bestens bekannt, zumal er das Stück schon zweimal gesehen hatte und sich noch gut an die beeindruckende Uraufführung am zwanzigsten September 1989 erinnerte. Doch heute sah er Miss Saigon mit anderen Augen. Die Vergangenheit holte ihn wieder ein, sein schlechtes Gewissen verfolgte ihn abermals. Zunächst hatte das Musical nichts mit seinem Leben zu tun. Schließlich verkörperte er nicht den US-Soldat Chris, der sich am Ende des Vietnamkrieges in das siebzehnjährige Barmädchen Kim verliebt hatte. Marian hatte jedoch auch seine Geliebte verlassen und führte weit entfernt von deren Heimat ein bürgerliches Eheleben. Was wäre, wenn Diwata ebenso wie Kim ein uneheliches Kind zur Welt bringen würde, das er mit seinem Samen am Geheimen Strand gezeugt hatte? Wäre sein Gelübde dann ein Fluch?


Fiktion und Wirklichkeit verwirrten ihn. Im Laufe des Musicals wurde ihm schwarz vor den Augen. Er zitterte und stand, in kaltem Schweiß gebadet, mehrmals auf, um nach Luft zu schnappen. „Was ist los mit dir?“, flüsterte Lesley besorgt, „ist dir schlecht? Sollen wir gehen?“ Doch Marian winkte ab. Er hielt die gesamte Aufführung durch, bis sich Kim, die Miss Saigon, am Schluss des Musicals das Leben nahm und in Chris' Armen starb. Das konnte Marian nicht mehr ertragen, vorausahnend, dass Diwata als verzweifelte alleinerziehende Mutter vielleicht ebenfalls Selbstmord begehen könnte. Am Ende der Aufführung von Miss Saigon brach er bewusstlos zusammen. Sanitäter trugen ihn aus dem Theater, während das Publikum stürmisch applaudierte, begeistert mit den Füßen trampelte und keinerlei Notiz von ihm nahm.


Marian erwachte im Belgravia District Nurses Hospital aus seiner Ohnmacht. In der Sterilität seines Einzelzimmers wunderte er sich, wo er war. Als ihm Lesley erzählte, dass er unmittelbar nach dem Selbstmord von Miss Saigon in Ohnmacht gefallen war, konnte er es kaum glauben. Er brach in ein schallendes Gelächter aus, doch seine Frau fand die ganze Situation überhaupt nicht komisch.

„Das ist nicht lustig“, sagte sie streng. „Ich mache mir Sorgen um deine Gesundheit.“

„Ach, ich habe gar nichts“, entgegnete Marian, der wie immer den Ernst der Lage nicht wahrhaben wollte. „Ich habe einfach zu viel gearbeitet und zu wenig getrunken. Wahrscheinlich bin ich ausgetrocknet.“


Marian musste eine Woche im Krankenhaus bleiben. Alle nur erdenklichen Organe wurden untersucht, darunter auch sein Herz. Keine einzige Untersuchung zeigte auch nur die geringste Auffälligkeit. Er war bei bester Gesundheit. Auch Blutwerte und Blutdruck waren hervorragend. „Wir sehen uns an Ihrem tausendsten Geburtstag wieder“, scherzte der Chefarzt am Tag seiner Entlassung. Marian war jedoch überhaupt nicht zum Scherzen zumute. Was nützte ihm seine körperliche Kraft, wo dunkle Schatten auf seiner Seele lagen? Könnte es sein, dass ihn Diwatas Geist verfolgte? Lastete tatsächlich ein Fluch auf ihm? Ich bin bei dir, und seist du noch so fern: Du bist mir nah! Bedeutete dieses Bekenntnis, dass er nicht eine Sekunde mehr von Diwata loskommen würde? Marian spürte ein unbändiges Verlangen, Diwata wiederzusehen. Zugleich konnte er auf keinen Fall seine Londoner Familie im Stich lassen. Im Spannungsfeld zweier Frauen, denen er gedankenlos seine ewige Treue geschworen hatte, fühlte er sich, als wäre er zwei Magneten ausgeliefert. Ihre ungeheure Anziehungskraft schien ihn zu zerreißen.


Es war nicht verwunderlich, dass ihn Lesley unmittelbar nach seiner Rückkehr in die Londoner Wohnung zur Rede stellte. „Es ist schon merkwürdig, dass du als kerngesunder Mann am Ende des Musicals Miss Saigon zusammengebrochen bist. Du hättest mal dein Gesicht sehen sollen. Es war bleich wie der Tod. Könnte es sein, dass du die Handlung des Musicals nicht verkraftet hast, weil sie deinem eigenen Leben ähnelt? Doch sag mir“, sprach sie mit bohrendem Blick, „ist es etwa möglich, dass ihr beide ein......“

„Nein, nein“, versuchte Marian seine Frau zu beruhigen, obwohl er innerlich vor Angst zitterte, „da musst du dir keine Sorgen machen. Wir haben uns immer geschützt.“

„Das glaube ich dir nicht“, sagte Lesley, „ich kenne dich zu gut. Wenn es um Sex geht, bist du geiler als ein Hund.“ Plötzlich gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. „Die hast du verdient.“ Dann änderte sie plötzlich das Thema.

„So, jetzt gehen wir erst einmal schön essen. Du hast sicher einen genauso großen Hunger wie ich.“


Der Sommer war perfekt: Sonnendurchflutete Stunden am Strand von Brighton, Grillpartys, unvergessliche Stunden mit Tochter Eliza, eine wunderschöne Wanderwoche durch die atemberaubende Natur von Schottlands Highlands. Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer mit vielen sonnigen Tagen.


Doch Marian kam über Diwata nicht hinweg. Immer größer wurde seine Angst, dass sie ein Kind von ihm zur Welt bringen könnte. Würde er es jemals leibhaftig sehen? Diese Befürchtung war wie ein Magnet, der all seine Gedanken anzog, so sehr er auch noch versuchte, sich zu zerstreuen. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken, wollte sich selbst einreden, dass es ihm wunderbar ginge. Seine unterschwelligen Schuldgefühle ließen ihn jedoch innerlich niemals zur Ruhe kommen. Er schrieb Diwata mehrere Briefe, in denen er immer wieder betonte, wie sehr er sie noch liebe. Seine Liebe müsse jedoch geheim bleiben, da seine Frau nichts von ihr wissen dürfe. Einige Briefe schickte er tatsächlich nach Manila, erhielt jedoch niemals eine Antwort. Traurig fragte er sich, ob er sie so verletzt habe, dass sie ihn vergessen wolle. An geheimen Orten, weit entfernt von Lesley und seiner Tochter, weinte er, doch es waren verbotene Tränen, die niemand sehen durfte. Warum ist das Leben so kompliziert?“, fragte er sich. Weshalb war es ihm nicht vergönnt, zwei Frauen gleichzeitig zu lieben? Wieso waren seine Gefühle in seiner Gesellschaft ein Frevel? Sie waren doch aufrichtig und wahrhaftig.


Manchmal träumte er, mit Diwata, Lesley, Eliza sowie seiner „verbotenen“ Tochter zu fünft ein harmonisches Leben zu führen, fern jeglicher Normen und verlogener bürgerlicher Moralvorstellungen. Immer wenn er aufwachte, wusste er, dass diese Träume niemals in Erfüllung gehen würden. So musste er sich eben mit dem Leben abfinden, was er hatte und das Beste daraus machen. Lesley war eine wunderbare, intelligente und attraktive Frau. Sie führten aber nach wie nur eine sogenannte funktionierende Ehe. Der Tagesablauf wurde perfekt abgesprochen, jegliche Reibungsflächen hingegen vermieden. Tief im Innern schlummerte noch immer die Liebe, verschüttet von mannigfachen Verpflichtungen. Wo jedoch blieb die Leidenschaft der frühen Jahre? Nur selten bemächtigte sich ihrer noch die Wollust, dann aber mit einer solch verzweifelten Heftigkeit, als hätten sie Angst, sich endgültig zu verlieren.


Hatte ihre Beziehung ein solides Fundament? Wenigstens meisterten sie gemeinsam den Alltag. Dennoch konnte er jene andere, bezaubernde Frau jenseits der Gebirge und Ozeane nicht verleugnen. Auch sie hatte ihn geprägt. Seine Erinnerung an sie war unauslöschlich, würde gar seinen Tod überdauern. Er redete sich ein, dass Lesley Diwatas verborgene Seite war, und immer wieder kam ihm Goethes Bilobablatt in den Sinn: Fühlst du nicht in meinen Liedern, dass ich eins und doppelt bin?


Zum Bersten voll war die Santa Isabel-Kirche von Manila-Ermita an jenem schwül warmen Sonntagmorgen des achten Septembers 1992. Familien mit Kindern, Paare und alte Leute saßen zusammengepfercht auf ihren Holzbänken. Nicht einmal eine Kirchenmaus schien in diese überfüllte Kirche noch zu passen. Wie jeden Sonntag waren die meisten dezent und festlich gekleidet, aber manch junge Frau erschien absichtlich im auffällig kurzen Sommerkleid mit tiefem Ausschnitt. Wollte sie jungen, unverheirateten Männern imponieren? Öfters lächelten sich Jungen und Mädchen an. Manchmal verabredeten sich beide Geschlechter sogar auf kleinen Papierzetteln, die knisternd herumgereicht wurden. Ältere Kirchgänger beobachteten dieses unangemessene und anstößige Verhalten junger Leute mit Argwohn. Was würde noch passieren? Würden sie sich eines Tages während des Gottesdienstes auf der Kirchenbank Zungenküsse geben? Sie blickten die jungen „Übeltäter“ an, als wollten sie sagen: O tempora, o mores!


„Oh Herr, sei mein Hirte, barmherziger Gott“, sangen Kirchenchor und Gemeinde mit kräftiger Stimme. Kaum hatten sie jedoch begonnen, das Lied zu singen, ertönte ein schriller Schrei durch die gesamte Kirche. Es war Diwata, die mit ihren Eltern und ihrer besten Freundin Imelda am Gottesdienst teilnahm und plötzlich starke Schmerzen im Unterleib verspürte. Sie stand auf, konnte aber kaum laufen. Plötzlich quoll eine beträchtliche Menge an Fruchtwasser aus ihrem Unterleib und bildete eine große Lache auf dem Kirchenboden. Wie vom Donner gerührt starrten Besucher des Gottesdienstes die leidende Frau an. Jugendliche hörten auf, zu kokettieren. Auch die älteren Kirchgänger schauten nur noch zu Diwata.


Warum starrte die Gemeinde sie an? Konnte niemand sehen, wie glücklich sie war? Endlich war es soweit. Die letzten Wochen ihrer Schwangerschaft hatte sie sich wie ein wandelnder Kartoffelsack gefühlt. Bei der geringsten Anstrengung war sie ins Schwitzen gekommen und völlig abhängig von Eltern und Freunden gewesen. In einem Stoßgebet bat sie Gott dennoch inbrünstig darum, nicht hier in der Kirche vor allen Leuten ihre Tochter auf die Welt zu bringen. Sie stand zwar gerne im Mittelpunkt, wollte aber nicht ihr Intimleben den Titelseiten lokaler Boulevardblätter preisgeben.

Ihre Eltern halfen ihr, die Kirche zu verlassen. Sie stützten sie beim Laufen. Wutentbrannt wandte sich Diwatas Vater zu den verdutzt dreinschauenden Kirchgängern und rief: „Ihr verdammten Heuchler. Was nützen eure Gebete, wenn ihr eurer Hilfe Bedürftigen nicht helft?“ Offenbar hatte er sich geirrt, denn vor der Kirche stand ein Krankenwagen. Ein vermeintlich „heuchlerischer“ Kirchgänger muss die Ambulanz angerufen haben.


Mit Blaulicht versuchte der Fahrer des Krankenwagens, sich seinen Weg durch den zähfließenden Verkehr zwischen Ermita und Makati zu bahnen. Auch jetzt am späten Sonntagvormittag herrsche Stoßzeit. Schwarze Wolken verkündeten einen gewaltigen Wolkenbruch. Am helllichten Tag war es dunkel wie in der Nacht. Noch fiel aber kein Tropfen vom Himmel und die Straßen waren trocken. Ein Sonntagsfahrer versperrte dem Krankenwagen an einer Kreuzung den Weg. Der Fahrer stieg aus und schrie ihn an:

„Idiot! Haben Sie keine Augen im Kopf? Sehen Sie nicht das Blaulicht?“

„Passen Sie bloß auf, was Sie zu mir sagen“, brüllte der Fahrer des PKWs, eines schwarzen Toyotas. Sehen Sie nicht, dass hier kein Platz ist und ich gar nicht ausweichen konnte?“


Fast wäre es zu einer Schlägerei gekommen, hätte der Fahrer des Krankenwagens nicht nachgegeben. Maria Dinguinbayan streichelte während der Weiterfahrt den Bauch ihrer Tochter und deren schöne Haare, die wieder halblang gewachsen waren. Sie war ein Ruhepol in all dem Chaos. Die Mutter lächelte ihre Tochter an und dachte: „Wie schön sie ist! Zu neuer Blüte erwacht ist mein Kind“.


Nackt lag Diwata auf dem Bett des Geburtssaales im Santa Clara Krankenhaus, doch sie war nicht allein. Ihre Eltern, Imelda und die Hebamme standen um sie herum. Ohne Scham streckte sie der Geburtshelferin ihre gespreizten Beine entgegen. Grollend und rauschend begleiteten Donner und Regen den Schmerz der Geburt. Diwata bewegte ihre Beine mit einer Heftigkeit, als wollte sie sich dem schon behaarten Köpfchen widersetzen, das aus dem Muttermund drang. Glaubte sie im Ernst, sie könnte ihre Tochter durch Schreie von der Erbsünde befreien? Schon war das winzig kleine Wesen dem nun weit geöffneten Tor des Lebens entronnen. Hebamme Maria hielt das blutbeschmierte Töchterlein mit abgeschnittener Nabelschnur in den Armen. Dieses Blut erregte keinerlei Ekel. Es war purpurner Lebenssaft eines kleinen Engelchens namens Dalisay Salvadora.


Dalisay schien sich jedoch auf dieser Erde gar nicht wohl zu fühlen. Sie begrüßte ihrerseits das Tageslicht mit hilflosem Geschrei. Wusste sie, dass ihr Leben kein duftender Rosenteppich sein würde? Sah sie voraus, dass es einem Rosenbeet mit wenigen Blüten und vielen Dornen gleichen würde? Erahnte sie, welch steinigen und schweren Weg sie beschreiten müsste, oder war es einfach nur das kalte Neonlicht, was sie störte? Alle begrüßten Dalisay mit aufrichtiger Freude. Ein Hoffnungsschimmer leuchtete in der Nacht.

Um zwölf Uhr mittags hatte sich Diwatas Leben vollkommen verändert. Der kalte Geburtssaal war zwar derselbe und das Neonlicht leuchtete noch genauso grell wie vorher. Diwatas Eltern und Freundin Imelda lächelten jedoch, als hätte sie ein warmes Licht durchdrungen, das sich von der Kälte und Sterilität des Krankenhauses wohltuend abhob. Schließlich zog auch das Gewitter weg und abermals durchflutete die Sonne den Raum mit einem angenehm warmen Licht, als wollte auch sie die neue Erdbewohnerin begrüßen. Und Diwata strahlte daraufhin, als ob sie von innen erleuchtet wäre. Die wieder erlangte Leichtigkeit des Seins durchdrang jeden Winkel ihrer Seele. Eine seit langem vermisste innere Ruhe und Ausgeglichenheit erfüllte ihr Sein.


Dieser Seelenfrieden prägte auch noch die folgenden Wochen, obwohl es Dalisay ihrer frisch gebackenen Mutter keineswegs leicht machte. Diwatas neues Leben unterwarf sich dem Stillen und Trösten. Das sich ständig wiederholende Babygeschrei sowie die starken Schmerzen nach der Geburt ließen Diwata auch nachts kaum zur Ruhe kommen, aber Dalisays bezauberndes Lächeln entschädigte sie.


Eine Woche musste Diwata im Santa Clara-Krankenhaus verweilen, bevor sie entlassen wurde. Statt wieder in ihre Wohnung in Makati zu ziehen, hütete sie im Elternhaus zu Ermita für drei weitere Wochen das Krankenbett. Der familiären Tradition zufolge wurde Diwata von ihrer Mutter dazu gezwungen, abscheulich schmeckendes Gebräu zu trinken. Am schlimmsten war die Schweinebauchsuppe, von der es der genesenden Mutter fast schlecht wurde. Auch die seltsam schmeckenden Tees waren keine Wohltat. Diwata ging es längst wieder ganz gut, schneller als gedacht kam sie wieder zu Kräften. Trotzdem zwang ihre Mutter sie, im Bett zu bleiben, obwohl es schwül und heiß war. Kein Wunder, dass es irgendwann zu Spannungen kam.

„Jetzt reicht es mir“, schrie Diwata sie eines Morgens an. „Ich bin hier nicht im Gefängnis. Mir geht es wieder gut.“

„Wie du willst“, entgegnete ihre Mutter wider Erwarten, „aber denk bitte an das Risiko. Du musst dich noch schonen.“


Diwata konnte nun wenigstens zu Hause herumlaufen und durfte gelegentlich Einkaufsbummel machen. Nur ihre strenge Diät musste sie einhalten, aß aber heimlich leckere Fleisch- und Fischgerichte in nahegelegenen Restaurants. Endlich kam der Tag, an dem sie wieder in ihre Wohnung zurück durfte.


Sie traute ihren Augen nicht. Ihre Eltern hatten alle Wände in stilvollem Weiß tapeziert. Aus dem schwarz gestrichenen, finsteren Loch war eine wunderschöne, geschmackvolle und helle Wohnung geworden. Auch Dalisay hatte schon ihr eigenes Zimmer in zartem Rosa. Eine ganze Kolonie von Teddys und Puppen begrüßte sie. In den Schränken lag geschmackvolles Spielzeug, meistens aus Holz. Sie besaß sogar ihre erste kleine Bibliothek mit Kinderbüchern. Dalisays Kleiderschrank war vollgestopft mit Bodys, Stramplern und Windeln, sodass Diwata nichts mehr kaufen musste. Die verblüffte Tochter weinte vor Rührung. Sie wusste nicht, wie sie ihren Eltern danken sollte, denen sie so viel Kummer bereitet hatte. Wie konnte es sein, dass sie sie dennoch so liebevoll behandelten?


Dalisay begleitete ihre Mutter im Schatten des Geliebten, der sie verlassen hatte und sich im fast 12.000 Kilometer entfernten London um seine eigene Tochter kümmerte. Von der Existenz seiner zweiten wusste er nichts. Wie sollte sie es ihm mitteilen? Marian war immer noch da, wieder da. Sie konnte die Erinnerung nicht löschen. Dalisay sah der Mutter zwar verblüffend ähnlich, hatte aber auch Züge ihres Vaters. Selbst die mandelförmigen Augen konnten nicht darüber hinwegtäuschen. Manchmal hatte Diwata das Gefühl, Marian lächele sie an. Es war, als wollte der verschollene Geliebte in Dalisays Gestalt das Gelübde vom Geheimen Strand wiederholen: Ich bin bei dir, und seist du noch so ferne. Du bist mir nah.


Eines Abends Anfang Oktober saß sie auf der Terrasse ihrer Villa in Makati Bel Air Village. Nach einem für die Jahreszeit typischen Wolkenbruch war die Luft wieder klar. Funkelnde Sterne schmückten das Himmelszelt. Der Vollmond badete den duftenden Garten in silbrigem Licht. Es war noch angenehm warm, aber nicht mehr drückend und schwül. Dalisay schlief friedlich neben ihr im Kinderwagen. Auf dem großen Tisch stand eine Flasche Wein, den sie auf der Zunge zergehen ließ. Erst anderthalb Jahre war es her, dass sie an genau diesem Tisch mit Marian unübertreffliche Speisen verzehrt und köstliche Weine in vollen Zügen genossen hatte. Sie hatte das Gefühl, heute Abend würde sich die unbeschreibliche Schönheit jener Nacht wiederholen, wenn die Wonne auch keineswegs ungetrübt war. Sie gab sich der bitteren Süße hin und ließ den Tränen freien Lauf.


Sie holte Briefpapier und Füller und klagte ihren Liebhaber mit kunstvoll geformten Buchstaben in altmodischer Tinte an. Schon kurz nach ihrer Trennung hatte sie Marian Briefe geschrieben: Briefe des Hasses, der Liebe, der Hassliebe. Einige hatte sie wieder zerrissen, die meisten hatte sie aufbewahrt und nicht weggeschickt, manche hatte sie nach London gesendet, jedoch niemals eine Antwort erhalten. Lesley hatte sie wohl alle gelesen und wutentbrannt zerrissen. An diesem warmen Oktoberabend, schon etwas berauscht vom Wein, schrieb sie Marian abermals einen bewegenden Brief. Sollten seine Gefühle nicht völlig erkaltet sein, so musste diese Epistel sein Herz berühren. Sie beklagte, dass er ihre Liebe verschmähte, wies auf ihr Gelübde hin und versuchte Marian davon zu überzeugen, dass keine noch so starke Naturgewalt, ja nicht einmal der Tod Seelenverwandte trennen könne. Sie steckte den Brief in einen Umschlag, besiegelte ihn, stach sich mit einem scharfen Messer in die Fingerspitze und ließ einen Bluttropfen neben das Siegel auf die Rückseite des Umschlags fallen, der sich deutlich sichtbar auf dem Papier ausbreitete. Das Blut verstand sie als Zeichen ewiger Treue, Verbundenheit und Liebe. Früh am darauffolgenden Morgen brachte sie den Brief zur Post von Makati. Auf Marians Antwort wartete sie umsonst.

WAS BLEIBT, IST DAS LEBEN

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