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Vorbemerkung

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Ich war ein stilles Kind, auf das jedes freudige und traurige Ereignis in meiner Umgebung tief einwirkte. Viele Vorgänge prägten sich meinem Gedächtnis gleich einem Abdruck in Wachs ein, so daß ich mich ihrer noch jetzt ganz deutlich erinnere. Die Begebenheiten stehen frisch und lebendig vor mir, als wären sie von gestern. Mit jedem Jahr wuchs das Bedürfnis, meine Erlebnisse und Beobachtungen niederzuschreiben und nun gibt mir das reiche Material, das ich gesammelt habe, die schönsten und trostreichsten Stunden meines im Alter so einsam gewordenen Lebens. Es sind Feierstunden für mich, wenn ich die Aufzeichnungen zur Hand nehme und oft mit einer stillen Träne oder einem verhaltenen Lächeln darin blättere. Dann bin ich nicht mehr allein, sondern in guter und lieber Gesellschaft. Vor meinem geistigen Auge ziehen sieben Dezennien voll Sturm und Drang vorbei, wie in einem Kaleidoskop, und die Vergangenheit wird lebendige Gegenwart: die heitere, sorglose Kindheit im Elternhause, in späteren Jahren ernstere Bilder, Trübsal und Freude aus dem Leben der Juden von damals und so manche Szene aus meinem eigenen Hause. Diese Erinnerungen helfen mir über einsame, schwere Stunden, über die Bitterkeit der Enttäuschungen des Lebens hinweg, die wohl keinem Menschen erspart bleiben.

In solchen Stunden schleicht sich auch die Hoffnung in das alte Herz, daß es vielleicht auch für andere keine vergebene Arbeit ist, wenn ich vergilbte Blätter über die wichtigeren Ereignisse, die gewaltigen Veränderungen im kulturellen Leben der jüdischen Gesellschaft in Litauen der 40-50er Jahre des vorigen Jahrhunderts, von denen auch ich betroffen wurde, sorgfältig gesammelt habe. Vielleicht interessiert es die Jugend von heute, zu erfahren, wie es einmal war. Und wenn ich auch nur einem meiner Leser etwas gegeben habe, bin ich reichlich belohnt.

Ich bin im Anfang der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts in der litauischen Stadt Bobruisk geboren. Von streng religiösen Eltern, klugen, geistig vornehmen Menschen erzogen, könnte ich die Wandlung verfolgen, die das jüdische Familienleben durch die europäische Bildung erfahren hat, und mich überzeugen, wie leicht unsern Eltern die Erziehung der Kinder wurde, und wie schwer diese Aufgabe uns, der zweiten Generation, war. Wir machten uns mit der deutschen und polnischen Literatur bekannt, studierten mit großem Eifer die Bibel und Propheten, die uns mit Stolz auf unsere Religion und Tradition erfüllten und mit unserem Volk innig verbanden. Ihre Poesie prägte sich dem unberührten Kindergemüt tief ein und gab der Seele für die kommenden Tage Keuschheit und Reinheit, Schwung und Begeisterung.

Aber wie schwer erging es uns nun in der großen Übergangszeit der 60er und 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts! Wir hatten uns wohl einen gewissen Grad der europäischen Bildung angeeignet; aber wir fühlten überall die klaffenden Lücken. Wir ahnten, daß noch höhere Stufen zu ersteigen wären, und suchten mit Anspannung unserer Kräfte, das Fehlende und an uns Versäumte bei unsern Kindern nachzuholen. Aber wir verloren leider in dem übergroßen Eifer das letzte Ziel und vergaßen die Weisheit des Maßhaltens. So tragen wir selbst Schuld an der Kluft, die zwischen uns und unsren Kindern entstand, an ihrer Entfremdung vom Elternhause, die folgen mußte.

Während uns der Gehorsam, den wir nach den Geboten unseren Eltern schuldig sind, heilig und unverletzbar war, mußten wir jetzt unseren Kindern gehorchen, uns vollständig ihrem Willen unterordnen. Wie einst unseren Eltern gegenüber, hieß jetzt die Parole unsern Kindern gegenüber: schweigen, still sein, fein den Mund halten, und wenn es noch so schwer, vielleicht noch schwerer wurde, als einst! Wenn wir andächtig und voll Ehrfurcht zuhörten, da unsere Eltern von ihren Erlebnissen und Erfahrungen erzählten, schweigen und lauschen wir jetzt voll Freude und Stolz, wenn unsere Kinder von ihrem Leben und ihrem Ideale sprechen. Diese Unterwürfigkeit, die Bewunderung, die wir für unsere Kinder haben, macht sie zu Egoisten, zu unseren Tyrannen – das ist die Kehrseite der Medaille der europäischen Kultur bei uns Juden in Rußland, wo sonst kein anderer Stamm so rasch und unwiderruflich mit der Annahme der westeuropäischen Zivilisation alles aufgab und alle Erinnerungen an die Vergangenheit, seine Religion verließ, und alle Tradition von sich abschüttelte.

Unsere Kinder hatten es leichter als wir, eine hohe Bildungsstufe zu erreichen, und wir sahen das mit Freude und Genugtuung, denn wir haben ihnen oft mit schweren Opfern die Wege geebnet und Hindernisse beseitigt. Sie fanden alles bereit: Erzieherinnen, Kindergarten, Jugendbibliotheken, Kindertheater, Feste und angemessene Spiele, indes uns der Hof des Elternhauses alles ersetzen mußte, wo wir uns wahllos mit den armen Nachbarskindern herumtummelten und, die Röckchen über die Köpfe gezogen, hüpften und sangen:

»Gott, Gott, gib Regen —

Der kleinen Kinder wegen!«


Welcher Unterschied!

Alle diese Wandlungen habe ich hier zu schildern versucht.

Ich bitte die Leser um Nachsicht. Ich bin keine Schriftstellerin und mag auch nicht als solche erscheinen. Ich bitte nur, diese Aufzeichnungen als das Werk einer alten Frau anzusehen, die einsam in der Dämmerung ihres stillen Lebensabends schlicht erzählt, was sie in einer ereignisvollen Zeit erlebt und erfahren.

Ich weiß, daß meine Familienchronik ohne Zweifel der Jugend in unseren Tagen wie mit dichtem Schimmel oder mit einer dicken Staubschicht bedeckt erscheinen wird. Und doch hoffe ich, daß die Kenntnis des damaligen Lebens der Juden, das von dem der heutigen so himmelweit verschieden ist, für so manchen von einigem Interesse sein wird, der sich gern in vergangene Zeiten versenkt, um zu prüfen und zu vergleichen.

So fand ich den Mut zu meiner Publikation!

Ich kann dieses Werkchen – das geistige Kind einer Greisin, Bensekunim, wie die Hebräer sagen, – nicht in die Welt schicken, ohne meiner Freundin Louise Flachs-Fockschaneanu für ihre gütige Förderung zu danken. —

Memoiren einer Grossmutter, Band I

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