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Kapitel 1: WalkAway (1) Vorbereitung

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Aufbruch in unbekanntes Land


Sommerferien im August. Fünf Mädchen und fünf Jungen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren, alle noch Schüler aus verschiedenen Schularten, besteigen den Zug zu einer Kleinstadt in Niederbayern. Mit dabei haben sie Rucksack, Schlafsack, Regenplane und Wanderstiefel. Die Stimmung ist gut, aber eine gewisse Aufregung und eine leichte Anspannung sind bei allen Teilnehmern wahrzunehmen. Denn sie brechen gerade zu einer Abenteuerreise ins Innere ihres Seins auf, also in unbekanntes Land.

Sie haben sich alle für ein Ritual entschieden, das sie - nicht mehr, aber eben auch nicht weniger – ein gutes Stück erwachsener machen soll. Und dieses Ritual hat nun mit dieser Zugfahrt unumkehrbar begonnen. Sie wollen erwachsen werden „im Spiegel der Natur“, d.h. mit Hilfe eines Naturrituals, das den Namen „WalkAway“ trägt und vielleicht so übersetzt werden könnte: „Gehe einen Weg, gehe Deinen Weg zu Dir selbst in das Innere Deines Herzens.“ Widersprüchliche Gefühle wie Vorfreude, Neugierde, gespannte Erwartung, aber auch Angst oder zumindest ein gelegentlich mulmiges Gefühl wechseln sich ab. Gut, dass die Jugendlichen nicht alleine sind: Sie reisen miteinander zum Ritualort.

Für die meisten der Jugendlichen begann diese Reise zu sich selbst im Grunde schon ein halbes Jahr zuvor. Da haben sie zum ersten Mal ausführlich von solchen Ritualen gehört: von der Jugend-Visionssuche, von Initiationsritualen bei indigenen Völkern und eben auch von dem für Jugendliche in unserem westlichen Kulturkreis eigens entwickelten Ritual des WalkAway. Dieses ist im Grunde genommen eine viertägige Kurzform der „Jugend-Visionssuche“, die mindestens zehn Tage dauern würde. Die Jungen und Mädchen haben sich dazu im Vorfeld bereits bewusst mit wichtigen Lebensfragen auseinander gesetzt, die im Stress ihres sonstigen (Schul)Alltags oftmals unterzugehen drohen:

 Was interessiert mich? Womit beschäftige ich mich?

 Was sind meine Stärken und Schwächen?

 Wie kann ich meine Fähigkeiten im kommenden Lebensabschnitt besser einsetzen?

 Woran habe ich Freude?

 Was sind meine innersten Herzenswünsche?

 Was macht mir im Leben Angst, was macht mir Mut?

 Was ist das Alte, von dem ich mich verabschieden will?

 Welche Freundschaften (und Feindschaften) pflege ich?

 Welche Verletzungen, Niederlagen, aber auch welche Erfolge und Siege habe ich erlebt?

 Welche Rollen spiele ich eigentlich in der Schule, in der Familie und im Freundeskreis?

 Was kommt auf mich zu?

 In welche Richtung möchte ich in meinem Leben weitergehen ?

 Welche Schulabschlüsse stehen an für mich?

 Welche Gedanken, welche Themen beschäftigen mich gerade?

 Und überhaupt: Was heißt es, erwachsen zu werden und erwachsen zu sein?

Die Jugendlichen haben sich schon zwei Monate vorher intensiv mit diesen und ähnliche Fragen auseinander gesetzt und schließlich eine verpflichtende „Absichtserklärung“ an die beiden Ritualleiter geschrieben und kurze Zeit später einen „Spiegel“ darauf erhalten. D.h. die Leiter haben eine ausführliche schriftliche individuelle Antwort auf die Absichtserklärung jedes einzelnen Teilnehmers gegeben. Dadurch bekamen die Jugendlichen eine Vorstellung davon, wo sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung eigentlich gerade stehen, welche wichtigen Schritte für sie zu machen sind und worauf es für jeden einzelnen bei dem Ritual ankommen wird. Dies hat ihren inneren Reifeprozess zusätzlich aktiviert und sogar erst richtig angeschoben, begonnen hat er aber bereits mit ihrem Entschluss, an diesem Ritual teilzunehmen.

Manche Jugendliche, die sich anfangs für die Sache interessiert hatten, sind aber genau an dieser Stelle wieder ausgestiegen, weil sie plötzlich gespürt haben, dass es nun ernst wird, dass es um sie selbst geht und dass sie sich nicht mehr hinter der Gruppe oder hinter vagen Abenteuerideen verstecken können. Der Vorbereitungsprozess und das nun anstehende Ritual selbst haben jedem Einzelnem gezielt die Frage gestellt, ob er nun diesen ganz persönlichen und im westlichen Kulturkreis in Vergessenheit geratenen rituellen Weg zu sich selbst gehen will oder nicht. Und dieser Weg bedeutet, dass man in der Kernzeit ganz alleine sein wird – sich selbst und seinen innersten Gefühlen ausgesetzt wie sonst nie. Diese Vorstellung kann Angst machen und hat wohl einige Jugendliche abgeschreckt: Etwa die Hälfte der ursprünglichen Interessenten sind wieder abgesprungen.

Die „Jugend-Visionssuche“ und die Kurzform davon - der WalkAway – wurden vor ca. 40 Jahren von den beiden nordamerikanischen Ethnologen und Psychologen Steven Foster und Meredith Little entwickelt. In ihrer Beschäftigung mit Ritualen von Indianerstämmen fiel ihnen auf, welch hohen Wert dem Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen dort beigemessen wird. In „Initiationsritualen“ werden Jugendliche von erfahrenen Mentoren – den sogenannten „Ältesten“ – begleitet und angeleitet, diesen so wichtigen Übergang zu bewältigen, der immer mit einer Art von Lebens-Prüfung verbunden ist.

Die beiden Ethnologen übernahmen zwar den Grundgedanken dieser archaisch anmutenden Rituale von den Indianern, erprobten dann aber selbst neue, für die Jugendlichen unserer westlichen Zivilisation brauchbare, angemessene, angepasste und kompatiblen Rituale für diesen Zweck. Foster und Little ist damit eine entscheidende Transformation gelungen. Jugend-Visionssuche und WalkAway sind sehr praktische, handfeste und logische Übungen, die auch westliche Jugendliche überzeugen und für ihre Persönlichkeitsentwicklung sehr hilfreich sein können. Von Nordamerika kamen diese Naturrituale dann vor ca. 25 Jahren auch nach Europa, vor allem in den deutschsprachigen Raum. Davon soll in Band II (HR, Kapitel 7) ausführlicher erzählt werden. Nun aber zurück zu unserer Schülergruppe.

Mutige Entscheidung


Die zehn Jugendlichen, die nun gerade auf dem Weg nach Niederbayern unterwegs sind, weit weg von ihrer gewohnten und vertrauten Umgebung, sind sehr mutig: Sie haben sich entschlossen, sich einer Prüfung zu unterziehen, die sonst wohl von den meisten Jugendlichen ihres Alters vermieden werden würde. Sie wollen erwachsen oder zumindest erwachsener werden. Und dazu braucht es eine Mutprobe, in der es auf jeden Einzelnen ankommt. Sonst sind es die Schülerinnen und Schüler zwar auch gewohnt, in der gesicherten Umgebung der Schule regelmäßig Prüfungen in den verschiedenen Lehrfächern zu absolvieren. Meist geht es dabei aber nur um rein rationales Wissen, das abgefragt wird.

Nun aber kommt eine Prüfung ganz anderer Art auf sie zu, von der sie bis vor kurzem nur eine vage Ahnung hatten. Sie müssen dazu fast alle Sicherheiten zurücklassen, die sie sonst in ihrem Alltag tragen und beschützen. Sie müssen bereit sein, sich – zumindest teilweise – dem Unbekannten und dem Alleinsein auszusetzen. Was wird auf sie zukommen? Im Moment sind sie noch gemeinsam auf einer Bahnreise in die niederbayerische „Pampa“ unterwegs - in eine gewellte, abwechslungsreiche, bäuerlich geprägte Landschaft mit Feldern, Wiesen und größeren Wäldern; sie ist für das bevorstehende Ritual sehr geeignet, da sie es den Jugendlichen ermöglicht, mit der Natur und mit all den Lebewesen darin wirklich in Kontakt zu kommen.

Das Leiter-Ehepaar sowie zwei Assistenten stehen bereit mit Wagen und Anhänger, um die Jugendlichen vom Bahnhof abzuholen und sie zu dem ca.15 Kilometer entfernten, ziemlich abgelegenen Tagungsort zu bringen. Dieser ist wunderschön gelegen auf einem Hügel, von dem aus man die Landschaft der Umgebung mit all ihrer fruchtbaren Kraft und Pracht überschauen kann. Auf dem höchsten Punkt liegt das Haus, in dem sich auch der große Tagungsraum befindet.

Damit die Jugendlichen bereits im Vorfeld auf ihre Aufgabe vorbereitet werden können, werden die Mädchen die beiden kommenden Nächte in einem nahe gelegenen Schuppen auf Matten in ihren Schlafsäcken verbringen. Die Jungen werden unter einem Vordach bereits im Freien übernachten. Eine heiße Suppe ist vorbereitet, denn nun sollen die jungen Leute in dieser für sie noch fremden Umgebung erst einmal ankommen, sich akklimatisieren und einen ersten Kontakt mit dem Seminar-Zentrum, aber auch schon mit der Landschaft aufnehmen. Sie sollen sich wohl fühlen, um sich dann um so mehr auf das Kommende einzulassen zu können.

Erste Naturaufgaben vor Ort


Nachdem die wichtigsten Regeln erklärt sind, startet die erste Runde. Und hierbei sind schon viele eher angenehm überrascht: Die Leiter, Assistenten und die zehn jungen Teilnehmer sitzen im Kreis auf dem Boden – auf Fellen und Decken. Erinnerungen an einen Indianerstamm werden wach. Zuerst heißt es Räuchern mit Salbei, um Gedanken an den Alltag zu vergessen, die Sinne zu stärken, die Aura zu reinigen und die Aufmerksamkeit auf das Geschehen im Kreis zu lenken. Es geht um das bewusste Wahrnehmen der Gemeinschaft, aber auch um das Erspüren des Raumes mit dem „Medizinrad“ in der Mitte und um eine bewusstere Selbstwahrnehmung. Denn das Ritual wird jeden intensiv zu sich selbst führen, das zumindest ist das Ziel. Da die Teilnehmer zu Hause bereits wochenlang auf den WalkAway vorbereitet wurden, müssen die beiden Leiter mit ihren Erklärungen nun nicht mehr bei Null beginnen.

Die Jugendlichen sind sehr bereit, sich auf all das, was nun kommt, einzulassen. Und das liegt nun auch an der etwas anderen Art von Kommunikation. Während es in der Schule eher selten die Möglichkeit und auch die Bereitschaft gibt, sich ganz individuell zu äußern, werden hier die eigene Meinung und das Zuhören ganz groß geschrieben. Der Einzelne ist wichtig, er soll ja auf einen ganz persönlichen Weg zu sich selbst gebracht werden. Und dazu wird das Medium des „Sprechstabs“ oder der „Sprechkugel“ eingesetzt, die in der Mitte des Kreises neben einer brennenden Kerze und neben dem „Medizinrad“ liegen.

Einige der Jugendlichen empfinden es zwar am Anfang noch etwas ungewohnt, dass ihre Gedanken und Meinungen gehört und wichtig genommen werden. Im Grunde ist es aber eher erleichternd und beruhigend für sie, dass sie hier nicht um das Wort kämpfen müssen, sondern immer ausreden können. Sie werden nicht etwa durch Zwischenrufe unterbrochen, sondern in ihrer Ansicht gewürdigt und ernst genommen; und sie können sich die Zeit für ihre Meinungsäußerungen nehmen, die sie eben dazu brauchen.

Jeder kommt dran, der Sprechstab macht die Runde. Sofort entsteht bei den Jugendlichen und beim Leitungsteam eine Atmosphäre gespannter Aufmerksamkeit. Ruhe kommt in den Raum, wie sie im Schulalltag oder in der Clique wohl nur sehr selten herrscht. Die Zeit erhält eine neue Qualität. Es kommt nun eben nicht auf Schnelligkeit an, sondern auf Tiefe, auf bewusstes Hören und Zuhören, sowie auf das „Schauen“ nach innen. Und dies braucht Zeit. Der Leiter fragt die Jugendlichen in dieser ersten „Runde“ nach ihrem Befinden und danach, welche Hoffnungen und Ängste sie in diesem Moment bewegen. Die Antworten sind noch fast durchgehend kurz gehalten, aber sie sind ehrlich.

Anschließend werden die jungen Teilnehmer bereits mit der ersten Naturaufgabe betraut: Sie sollen sich vor dem Haus eine Schwelle machen, z.B. mit kleinen Ästen oder mit einigen Steinen, und dann ganz bewusst in die „Anderswelt“ der Naturkräfte hinüberschreiten - allein und ohne Kontakt mit den anderen (vgl. Band II (HR), Kapitel 5). Es geht dabei für die Jugendlichen darum, das eher rationale, „linkshirnig“ orientierte Denken in der Alltagswelt, sowie die Fülle der Gedanken, die ihnen im Kopf kreisen, los zu lassen.

Die Jugendlichen sollen die Gelegenheit haben, mehr ins Empfinden, Fühlen, Wahrnehmen und Beobachten der Natur zu kommen und sie mit all ihren Eindrücken unmittelbar und ohne Wertung durch den Kopf auf sich wirken zu lassen. Vielleicht kann der eine oder andere dabei bereits spüren, dass in der Natur in Wirklichkeit alles mit allem verbunden ist und wir Menschen in Wahrheit nicht getrennt davon, sondern vielmehr Teil der Natur mit all ihren Wesen sind. Zusätzlich bekommen die jungen Leute auch noch eine konkrete Aufgabe mit:

„Suche Dir einen Platz in der Natur, der Dir gefällt. Sitze still und lausche auf alle Geräusche, erst auf die nahen, dann auf die ferneren. Rieche und fühle. Stelle Dir dann die Fragen: Warum bin ich hier an diesem Ort? Was ist meine Absicht? Hat sich diese seit meiner 'Absichtserklärung' vor sechs Wochen verändert?“

Es ist schon dämmerig, als die Teilnehmer zurückkehren. Sie hatten eine gute Stunde Zeit für ihre erste Aufgabe und haben dabei die unmittelbare Umgebung bereits etwas näher kennen gelernt. Alle konnten sich auf die Übung mit der Schwelle und dem Alleinsein einlassen. Und ebenso macht es ihnen jetzt grundsätzlich keine Schwierigkeit, ihre Eindrücke von dieser ersten Naturübung in einer kurzen Gesprächsrunde im Tagungsraum wieder zu geben, sowie ihre Absicht zu beschreiben, warum sie das bevorstehende Ritual des WalkAway überhaupt machen wollen. Dieser besteht aus drei Teilen:

 der Vorbereitung in der Gruppe von eineinhalb Tagen (Teil 1); diese Phase hat spätestens mit der Ankunft am Tagungsort begonnen;

 dem eigentlichen Kernritual – der 24-stündigen sogenannten „Solozeit“ (Teil 2);

 dem Abschluss am vierten Tag - die Rückkehr und die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft (Teil 3).

Für diesen ersten Tag ist es aber erst einmal genug. Es ist schon spät geworden. Nun wird im Dunklen noch ein Feuer geschürt, aber die meisten der Teilnehmer wollen sowieso gleich schlafen. Viel Neues ist heute bereits passiert, das Eigentliche steht aber noch bevor. Was werden wohl die nächsten Tage für sie bringen?

Der zweite Tag beginnt...


Am anderen Morgen, dem zweiten Tag, sind alle Teilnehmer bereits um 7.30 Uhr wach. Nach dem gemeinsamen Frühstück sitzen sie um halb neun wieder im Kreis. Damit das Kernritual, die sogenannte „Solozeit“ am nächsten Tag gelingen kann, ist eine intensive Gemeinschaftserfahrung davor sehr entscheidend. Eine Menge Aufgaben, die die jungen Leute Schritt für Schritt auf ihre eigentliche Prüfung vorbereiten und hinführen sollen, stehen für den heutigen Tag an. Die Leiter müssen am späten Abend bei jedem einzelnen entscheiden, ob sie ihn allein in die wilde Natur hinaus gehen lassen können oder nicht. Einige Lieder werden gemeinsam gesungen, während der glimmende Salbei zum Räuchern die Runde macht. Auch dies stärkt die Gemeinschaft zwischen Leitern und Teilnehmern, aber auch zwischen den Teilnehmern untereinander. Ein Lied, das immer wieder wie ein Mantra gesungen wird, lautet:

„Der Fluss geht auf die Reise, ganz stetig und leise.

Der Fluss geht auf die Reise, Reise ans Meer.

Mutter Erde trage mich, dein Kind bin und bleibe ich.

Mutter Erde trage mich, trag' mich ans Meer.“

Das System des Medizinrads als geistiger Rahmen

Nach einer kurzen Befindlichkeitsrunde erklären die Leiter den Teilnehmern das Wesen des „Medizinrads“. Es ist Grundlage und Ausdruck des schamanischen Weltbildes, kommt bei allen Naturvölkern in unterschiedlichen Ausprägungen vor und ist noch heute vor allem bei den Indianern Nordamerikas in Gebrauch. Es dient zur Deutung von Gott, Mensch und Welt und ist aus der unmittelbaren Naturerfahrung indigener Völker hervorgegangen. Auch im Jahreskreis der christlichen Kirchen, sowie im Symbol des Adventskranzes hat das Medizinrad seinen Eingang gefunden. Die vier Himmelsrichtungen im Rad (vergleiche Kompass) dienen dabei der elementaren Orientierung, sie stehen aber gleichzeitig für viel mehr:

 für die vier Tageszeiten;

 für die vier Jahreszeiten und damit für den Zyklus eines Jahres;

 für ein Menschenleben mit den vier wichtigen Lebensphasen der Kindheit, der Jugend, des Erwachsenenalters und des „hohen Alters“;

 für die vier Elemente, die jeweils einer Richtung zugeordnet werden können;

 für die vier Übergänge zwischen den einzelnen Lebensphasen;

 und vor allem für vier archetypische Anlagen oder „Seelenfiguren“ im Menschen, die jeder seit Geburt in sich trägt und die im Laufe des Lebens nach und nach erschlossen werden müssen, wenn ein Mensch in sein wirkliches Menschsein kommen will.

Diese vier Seelenschichten sind das „innere Kind“, „der Krieger/die Kriegerin“, „der König/die Königin“ und „der Magier/die Magierin“. In den Märchen unseres westlichen Kulturkreises tauchen all diese Figuren beständig auf, wenn auch in unterschiedlichen Schattierungen und Variationen. (Darauf wird in Band II (HR), Kapitel 6 näher eingegangen). Ziel ist es, alle vier Archetypen in sich zum Leben zu bringen und in einer guten Balance zu halten.

Damit kann das Medizinrad den Rahmen für eine Art von „Ur-Psychologie“ geben, mit der man auf die eigene Persönlichkeit, auf ihren momentanen Stand und auf ihre Entwicklungsmöglichkeiten blicken kann. Insofern bietet das Medizinrad also eine uralte und zugleich eine sehr moderne und innovative Deutungsmöglichkeit für den Menschen, für seine Sinnfindung und für sein Sein in der Natur und in der Welt.

Für Jugendliche von heute jedoch, die ja gerade in einem permanenten Prozess der Selbsterfahrung, Selbstfindung und Selbsterkenntnis, der beständigen Persönlichkeitsentwicklung und des fundamentalen Übergangs zum Erwachsensein stehen, kann das Medizinrad eine enorme innere Kraft für den eigenen Persönlichkeitsprozess freisetzen, sofern sich die Heranwachsenden darauf einlassen können.

Um dies zu unterstützen, sitzen die Leiter und Jugendlichen bei jeder Gesprächsrunde im Seminarraum wie ganz selbstverständlich um ein zuvor ausgelegtes Medizinrad mit den vier Himmelsrichtungen und den vier Elementen. Und tatsächlich können unsere jungen Teilnehmer mit diesen uralten und gleichzeitig höchst aktuellen Vorstellungen durchaus etwas anfangen. Aber bevor die Jugendlichen an diesem Morgen zur ersten Übung wieder hinaus in die Natur gehen werden, setzt das Leitungspaar noch einen weiteren Impuls.

Das mythologische Motiv der Heldenreise


Wenn die Jugendlichen am nächsten Morgen für 24 Stunden alleine in der Natur sein werden, dann tun sie dies im Grunde in der Tradition der „Heldenreise“. Unsere Märchen und Mythen sind voll von „Initiations-Geschichten“, in denen der Held oder die Heldin sich alleine aufmacht, um den Schatz oder den Gral zu suchen, um sich mit gefährlichen Hexen und Zauberern auseinander zu setzen oder um mit dem Drachen zu kämpfen, der den Schatz, den „Gralskelch“ mit „dem heiligen Trunk der Erkenntnis“ oder eine schöne Prinzessin bewacht. Der Held wird die böse Macht oder das Untier schließlich in einem Kampf auf Leben und Tod besiegen oder ihm zumindest mit großer List das Begehrte entreißen, um damit wieder in die Gemeinschaft zurück zu kehren.

Der innere Drache – Symbol für unsere eigenen Schattenseiten – ist es nämlich, der uns oft den Weg zur Selbstfindung verstellt. Bei solch einer Heldenreise geht es auch darum, raus aus dem Reich der Eltern zu gehen, sich in der Einsamkeit mit der Vergänglichkeit des Lebens, ja selbst mit dem Tod, auseinander zu setzten, die Kindheit in sich selbst sterben zu lassen und sich innerlich ins eigene Leben auf zu machen; und dabei der Geburt des Erwachsenen in sich selbst zuzusehen. Denn dies alles ist Ausdruck für das persönliche Erwachen und Erwachsenwerden und dieser Gedanke steckt im Grunde auf einer psychologischen Ebene hinter den aufregenden und spannenden Geschichten jedes Helden. (Diese Thematik wird in Band II (HR), Kapitel 2 sehr ausführlich behandelt).

Nach diesem kurzen Hinweis auf die Grundlagen mythologischen Denkens, bekommen die Jugendlichen ihre erste Naturaufgabe an diesem heutigen zweiten Tag des WalkAway:

„Trete über die Schwelle. Lasse Dich zunächst ziellos in der Landschaft der Umgebung treiben. Suche dann einen Platz in der Natur, an dem es eine Verwundung oder Verletzung gibt, z.B. einen umgeknickten Baum, einen abgeschlagenen Ast, eine Stelle im Wald mit Kahlschlag usw... Stelle Dich vor diesen Platz, schau Dir diese Verletzung genau an und frage Dich dann: 'Was hat diese Verwundung mit mir zu tun?' Wenn Du Dir darüber im Klaren bist, drehe Dich um, so dass die Stelle hinter Dir liegt. Dann frage Dich erneut: 'Welche Kraft ist mir aus dieser meiner Wunde erwachsen?' Mit dieser Erkenntnis kehre dann zur Gemeinschaft zurück.“

Übertragen auf die Gedanken zur „Heldenreise“ könnte die Frage auch lauten: „Was ist das Geschenk, was ist der Schatz, auf dem der Drache sitzt und letztlich für mich bereit hält?“ Denn dieser Schatz könnte z.B. eine ganz wichtige persönliche (Lebens)Erkenntnis oder die Antwort auf eine existentielle Frage sein.

Somit bildet selbst diese kurze, knapp zweistündige Naturaufgabe bereits einen wichtigen Mosaikstein für die größere Heldenreise der Solozeit des WalkAway, die am Morgen des dritten Tages beginnen wird. Bei dieser soeben beschriebenen Übung könnte auch hochkommen, welche alte Trauer oder welcher Kummer in den Teilnehmern steckt. Möglicherweise können sich diese den jungen Initianden bereits jetzt ein Stück weit offenbaren, ja sich vielleicht sogar richtig entladen. Die Leiter bereiten die Jugendlichen darauf vor und ermutigen sie, im Vertrauen alles hochkommen zu lassen und wichtig zu nehmen, was sich eben jetzt bei dieser Übung zeigen will.

Zwei Stunden später sitzen sie wieder im Kreis. Alle Teilnehmer sind richtig eingestiegen, d.h. sie haben sich auf die mögliche Tiefe der Übung eingelassen. Die Leiter vermitteln die Überzeugung, dass es für jeden der Initianden um so leichter wird, je mehr auch von den abgelehnten, abgespaltenen und bisher unbewussten Gefühlen, von den „Schattengefühlen“ eben, ans Licht kommen kann. Und tatsächlich ist „alles“ in den Erzählungen mit dabei. Von schwierigen Kindheitserfahrungen bis zum Tod in der Familie oder im nahen Freundeskreis; von leidvollen Erfahrungen mit Eltern, Lehrern oder Freunden, von zerbrochenen Beziehungen und schmerzlichen Trennungsprozessen usw... Erste Tränen fließen.

Die Teilnehmer machen zunehmend die Erfahrung, dass es in dieser bergenden und schützenden Gemeinschaft erlaubt ist, wirklich alles zu erzählen, was hochkommen will. Denn die Leiter sind für diese Arbeit ausgebildet und geschult: Therapeutische, systemische und supervisorische Fähigkeiten sind in den Leiterpersönlichkeiten vertreten. Das spüren die Jugendlichen und darum sind sie zunehmend bereit, sich auch für sehr persönliche Gefühle zu öffnen und sich dafür nicht zu schämen. Es kommt den Teilnehmern dabei zugute, dass sich zwar einzelne von ihnen schon länger kennen, es sich aber bei ihnen nicht um eine festgefügte Gruppe oder gar Clique handelt, deren Mitglieder sich aufgrund ihrer Hackordnung vielleicht gegen den nun aufbrechenden Entwicklungsprozess stellen würden. Die Jugendlichen beschränken sich daher nicht auf nur „coole“ Äußerungen, sondern lassen sich offen auf den dynamischen Prozess mit sich selbst ein.

Die Intensität der Erfahrungen nimmt mit jeder weiteren Übung zu


Da die Leiter vor der schwierigen Aufgabe stehen, die Initianden in nur eineinhalb Tagen auf das Kernritual der Solozeit vorbereiten zu müssen, geht es nun Schlag auf Schlag, so dass der nun bereits richtig eingesetzte innere Entwicklungsprozess für die Teilnehmer weiter angeschoben wird. Vor dem Mittagessen, das in der Zwischenzeit vom Leitungsteam für alle vorbereitet wird, gehen die Jugendlichen mit einer weiterführenden Aufgabe nochmals hinaus:

„Gehe hinaus in die Natur und beobachte ein Tier, ein Insekt, einen Vogel usw. und frage Dich, wie sich darin das menschliche Leben überhaupt spiegelt? Suche Dir dann einen anderen Platz und finde heraus: 'Wie spiegelt sich darin mein eigenes Leben?'“

Nach einer kurzen „Blitzlichtrunde“ über das Erlebte, einem ausgiebigen Mittagessen und einer kurzen Pause bekommen die Teilnehmer am frühen Nachmittag bereits die nächste Übung für draußen in der Natur. Dafür haben sie wiederum fast zwei Stunden Zeit: In einem Ritual sollen sie sich und ihrem Unterbewusstsein mitteilen, wovon sie sich verabschieden wollen. Dazu sollen sie einen schönen Platz in der Natur suchen, dort verweilen und probieren, die Sache, die sie loslassen wollen, in einem einzigen Satz zu fokussieren.

Hierbei ist es von Vorteil, vorher mit Steinen oder Ästen einen Kreis zu bilden und sich dann hinein zu setzen. Dies kann den Konzentrationsprozess enorm verstärken und gibt dem ganzen Vorgang einen würdevollen und damit wirksameren Charakter. Jedes Ritual, das mit Bewusstsein und Liebe ausgeführt wird, kann als etwas „Heiliges“ betrachtet werden. Sich von einem Ballast zu verabschieden, kann etwas sehr Heilsames sein. Beide Wortbedeutungen – „heilig“ und „heilsam“ – gehören somit nicht nur etymologisch, sondern auch in ihrem tieferen Sinn zusammen. Die Teilnehmer bekommen für diese Naturübung folgenden Auftrag mit:

„Schreibe auf einen Zettel, wovon Du Dich verabschieden, bzw. was Du loslassen willst. Zerkleinere sodann das Blatt und vergrabe die Papierschnipsel in der Erde. Setze Dich darauf und gib Dich dem Zerfallsprozess hin. Beobachte, welche Gedanken und Gefühle in Dir dabei hoch kommen!“

Um ca. 16.00 Uhr sitzen wieder alle im Kreis, um die einzelnen Geschichten der Teilnehmer zu hören. Die Leiter „spiegeln“ jede Erzählung, d.h. sie geben jedem einzelnen Initianden eine kurze, prägnante Art von Rückmeldung zu seiner Geschichte. Dabei wird besonders die Essenz des Gehörten betont und herausstellt. Die jungen Leute sind erstaunlich intensiv eingestiegen, sie „wussten“ aus einer inneren Tiefe heraus anscheinend sehr genau, worum es bei der Fragestellung für sie ganz persönlich ging.

Die Kraft von Naturritualen wird deutlich

Die Leiter fühlen sich darin bestätigt, welch große Kraft von der Natur und von Ritualen in und mit der Natur ausgehen kann: Jedem der Initianden ist etwas bewusst geworden und jeder und jede hat sich von jemandem oder von etwas verabschiedet. Für die eine war es eine zerbrochene Freundschaft, von der sie sich nun endgültig lösen möchte. Für einen anderen war es ein furchtbarer und unbewältigter Todesfall in der Familie, der zu großer Trauer geführte hatte. In der Folgezeit wurde dieser Teilnehmer von den Leitern dazu ermutigt, sich diesbezüglich einem wirklichen Verarbeitungsprozess zu stellen. Für einen anderen standen Versagensängste und Selbstzweifel im Mittelpunkt des Rituals, aber auch die Erkenntnis, sein eigener Herr und König zu sein. Für eine vierte Teilnehmerin ging es um die Angst vor dem bevorstehenden Alleinsein in der Solozeit, aber auch um das Gefühl des Verbundenseins mit der Natur und um eine tiefe Geborgenheit darin.

Diese Runde hat alle sehr berührt – die Teilnehmer haben innerlich wirklich aufgemacht. Dadurch ist der gesamte WalkAway-Prozess sehr gut ins Laufen gekommen. Anscheinend hatten die bisherigen Übungen in der Natur und die konkret gestellten Aufgaben dazu geführt, dass bei jedem der Teilnehmer etwas in seinem „persönlichen und kollektiven Unbewussten“ angestoßen worden und er damit besser in Kontakt mit sich selbst gekommen ist. Im „kollektiven Unbewussten“ gibt es nach C.G. Jung die Archetypen – ein Ur-Wissen über das Sein, die Einstellung und das Verhalten gegenüber Gott, der Welt, der Natur und den Menschen, sowie über die Vorstellungen von sich selbst. Dieses alte Wissen wird seit tausenden von Jahren immer weiter gegeben und jeder trägt es in sich. Davon haben unsere Teilnehmer nun eine erste Ahnung und mehr Bewusstsein dafür bekommen.

Im Kreis ist – wie von selbst und mit jeder der zehn Geschichten mehr – eine sehr dichte und würdevolle Atmosphäre gespannter Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und tiefer Verbundenheit entstanden. Die Offenheit der Teilnehmer, die sensible, einfühlsame, bestärkende und anerkennende Rückmeldung der Leiter im Geiste indianischer Tradition, sowie die Kraft der Naturrituale selbst haben nun den inneren Prozess der Teilnehmer an den Punkt geführt, der für das eigentliche Kernritual des nächsten Tages unverzichtbar ist.

Geholfen hat dabei die Art der Kommunikation im „Council“, die ausschließlich mit dem Sprechstab oder der Sprechkugel geführt wird. Die Leiter müssen die Initianden am nächsten Morgen alleine in die Natur hinaus schicken, und dies ist nur dann zu verantworten, wenn die Jugendlichen dazu auch physisch und vor allem psychisch in der Lage sind. Dies wiederum ist aber nur möglich, wenn in dieser kurzen Zeit von eineinhalb Tagen ein wirkliches Vertrauensverhältnis zwischen Leitungsteam und den Jugendlichen entstanden ist. Die jetzige Runde war diesbezüglich der Knackpunkt. Alle haben sich auf ihren persönlichen Prozess eingelassen und dazu gehört es auch, sich mitzuteilen und sich zu öffnen. Nur so können die Leiter den jeweiligen Stand des Einzelnen erkennen, darauf eingehen und zu dem bevorstehenden Schritt – der Solozeit – ermutigen.

Sicherheits-System


Nach der Intensität dieser Runde im Seminarraum geht es nun zur Abwechslung hinaus in das weiträumige Gartengelände. Sicherheitsfragen und praktische Verhaltensregeln für das bevorstehende Ritual sind nun an der Reihe:

 Wie ist der Platz zu behandeln, an dem das Ritual vollzogen wird? (Kein Feuer, kein Müll!).

 Wie muss die Plane befestigt werden, damit sie Wind und Regen standhält und überhaupt einen Schutz vor Feuchtigkeit bieten kann?

 Wie funktioniert das sogeannte „Buddy-System“, d.h. wie soll die wortlose Kommunikation mit dem Nachbar-Teilnehmer ablaufen, der während der Solozeit zum Sicherheitssystem gehört?

 Wie und wann muss das Ritual abgebrochen werden?

 Welche Möglichkeiten gibt es, zum Basislager zurück zu kehren, ohne aber das Ritual selbst zu beenden? (Dazu gibt es die Methode des „Ghost-Talk“: Der Teilnehmer kann ins Basislager kommen und mit einem der Betreuer Rücken an Rücken reden, ohne ihn dabei aber anzusehen, um dann anschließend wieder hinaus in die Einsamkeit zu gehen).

 Was ist in einem körperlichen oder psychischen Notfall zu tun, d.h. wie kann die Nachricht

umgehend ins Basislager gemeldet werden? Usw...

Die Leiter betonen in dieser Runde, dass bei dem Ritual des WalkAway die Sicherheit das oberste Gebot ist. Alle sollen einen Tag und eine Nacht später wieder gesund und wohlbehalten aus der „wilden Natur“ zurückkehren. Es geht nicht darum, das Ritual auf Kosten von Gesundheit oder Vernachlässigung der Sicherheit vordergründig zu bestehen. Die Leiter fordern daher nun öffentlich von jedem Teilnehmer das Versprechen ein, weder sich selbst noch andere zu gefährden, weil sonst das Ritual für alle vorzeitig zu Ende wäre.

Mittlerweile ist es Abend geworden. Nach dem Abendessen trifft sich die Runde erneut für die nächste Aufgabe. Nun geht es darum, die jungen Teilnehmer an diesem langen Tag ein letztes Mal mit folgendem Auftrag hinaus zu schicken:

„Such Dir einen Platz in der Natur, an dem Du morgen Deine Solo-Zeit durchführen kannst. Finde sodann heraus, wozu Du morgen in die Wildnis hinaus gehen und die Entbehrungen ertragen willst. Fokussiere Dein Anliegen und versuche, dieses in einem einzigen griffigen Satz zusammen zu fassen!“

Nach der Rückkehr der Teilnehmer ist es nun die gemeinsame Aufgabe in der Runde, für jeden der Initianden einen kurzen, passenden Satz zu finden, der sein Anliegen klar und kraftvoll ausdrückt. Jeder Satz beginnt mit: „Ich bin die junge Frau, die.....“ oder „Ich bin der junge Mann, der.....“ Dieser Satz soll den ganz persönlichen Übergang von der Pubertät in das junge Erwachsensein jedes Teilnehmers markieren und ausdrücken. Solche Sätze können z.B. sein:

 „Ich bin der junge Mann, der seine Stärken zeigt!“

 „Ich bin die junge Frau, die mutig ihre Ziele anstrebt!“

 „Ich bin der junge Mann, der weiß, was er will!“

 „Ich bin die junge Frau, die ihren eigenen Weg geht!“

Die Gruppe spürt jedes Mal genau, wenn ein Satz so griffig und klar genug geworden ist, dass er für den Betreffenden stimmig ist und Kraft besitzt. Mit einem zustimmenden, wohl von nordamerikanischen Indianern stammenden „Wou“- oder „Hou“-Laut wird jeder einzelne Satz von der Gruppe bestätigt.

Weg in die Tiefe


Die Teilnehmer haben heute Unwahrscheinliches geleistet. Der Erfahrungs-, Erkenntnis- und Bewusstseinsprozess im Spiegel der Natur und unter der Mitwirkung und Anleitung des Führungsteams hat jeden auf seine ganz persönliche Spur gebracht. Jeder und jede hat nun eine konkrete Vorstellung davon bekommen, wozu er oder sie am nächsten Tag in die Natur hinaus gehen will. Und dieser eigentliche Prozess hat nur einen guten Tag lang gedauert.

Im Normalfall des Alltagslebens mit all seinen Ablenkungsmöglichkeiten würde der gleiche Prozess mit Sicherheit Wochen oder Monate, vielleicht sogar Jahre in Anspruch nehmen. Ja, viele Jugendliche, die es gewohnt sind, sich mit Alkohol, ständiger Musikberieselung oder übermäßigem Computer- und Fernseh-Konsum zuzudröhnen, kommen gar nicht in die Nähe dieser existentiellen Erfahrungsebene, auf die sich unsere Teilnehmer heute alle wie ganz selbstverständlich eingelassen haben. An diesem Tage wurden für sie die richtigen Fragen aufgeworfen und zum Teil ansatzweise bereits beantwortet:

 Worum geht es denn wirklich in meinem Leben, wenn ich alle Ablenkungsmöglichkeiten einmal ausschalte?

 Was hindert mich daran, zu mir selbst und in mein Inneres zu gehen?

 Worauf kommt es beim Erwachsenwerden eigentlich an?

 Was bedeutet es für mich überhaupt, erwachsen zu werden?

 Wo ist mein Platz in meiner Familie, in der Natur und in der Welt?

 Wie stehe ich zum Tod? Was kommt nach dem Tod?

 Von welcher Kraft werde ich eigentlich getragen, der ich mich getrost anvertrauen kann?

 Wie ist meine Vorstellung vom Göttlichen und von der Natur?

 Wie ist meine Einstellung zur Schöpfung, zu den Lebewesen, ja zu allem Lebendigen und

zum Leben überhaupt?

 Habe ich genug Achtung vor „Mutter Natur“?

 Welche Ziele habe ich in meinem Leben? Was will ich erreichen?

 Was ist der tiefere Sinn in meinem Leben?

 Wie steht es um meinen Charakter, was sind meine Stärken und Schwächen?

 Was ist mein Beziehungsnetz, d.h. welche Beziehungen sind mir wirklich wichtig und welche Kontakte sind eher belastend oder hinderlich für meine persönliche Entwicklung

 Wie stehe ich zu meinen Eltern, gerade auch wenn Vater und Mutter getrennt sind?

 Wie will ich meine Beziehungen vielleicht verändern oder neu gestalten?

 Welche Fähigkeiten habe ich und wie kann ich diese fruchtbar in die Gemeinschaft einbringen?

Wenn möglich, sollen die Jugendlichen nun ihren Rucksack für die „Solozeit“ packen und dann schlafen. Viele von ihnen sind aufgeregt, angeregt oder durch die Ereignisse eines sehr erfüllten, dichten und intensiven Tages auch sehr nachdenklich geworden. Einige äußern bei der Abschlussrunde, dass sie sich sehr gut und bei sich fühlen, so etwas Intensives aber noch nie zuvor erlebt hätten.

Gleichzeitig haben aber alle Teilnehmer die Atmosphäre, in der der heutige Prozess gelaufen ist, als sehr offen und angenehm empfunden, vor allem deshalb, weil gerade auch die Jungen so sehr aufgemacht haben und in dem Sprechen über ihren inneren Prozess den Mädchen in nichts nachgestanden sind. Vielleicht war es aber auch so, dass die fünf Mädchen mit ihrer Fähigkeit, ganz selbstverständlich über Gefühle und über Persönliches zu reden, die Jungen einfach mitgerissen haben, für die es im Schulalltag oder in ihrer Clique eher üblich ist, „cool“ zu sein, d.h. ihre Gefühle vor den anderen möglichst zu verstecken. Diese Ansicht wurde zumindest von einigen Teilnehmern geäußert.

Die Leiter haben jedenfalls großen Respekt vor diesem heutigen Schritt der zehn Jugendlichen. Dies ist nicht selbstverständlich, obwohl die Initiations-Mentoren schon öfter mit solchen Gruppen gearbeitet haben. Es erfüllt die Leiter mit Freude und Zufriedenheit; denn sie haben heute darüber Gewissheit bekommen, dass sie am nächsten Tag alle Jugendlichen in die Einsamkeit der Natur entlassen können. Sie haben bei allen Teilnehmern die Kraft und die Verantwortung für den bevorstehenden Schritt in die Solozeit gespürt. Nach einer kurzen Teambesprechung gehen auch die Leiter und Assistenten zur Ruhe, um sich für den alles entscheidenden nächsten Tag zu sammeln und vorzubereiten.

Initiation - Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft

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