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Wir alle kennen eine Ariane – Prolog

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»Wir glauben, Erfahrungen zu machen. Aber die Erfahrungen machen uns.«

Eugène Ionesco, französisch-rumänischer Autor und Dramatiker, 1909 – 1994

Einer meiner Söhne hatte eine Klassenkameradin, ihr Name ist Ariane. Schon in der Volksschule tat sie sich als überaus begabtes Kind hervor – egal in welchem Unterrichtsfach, den Lernstoff machte sie sich spielerisch zu eigen. Sie war talentiert und lerneifrig und nur in seltenen Fällen gab es eine andere Note als ein »Sehr gut«. Zumeist war auch das »Sehr gut« kein gewöhnliches »Sehr gut«, sondern eine Römische Eins, immer hochverdient, denn Ariane hatte große Freude am Lernen. Gab es bei einer Klassenarbeit die maximale Punktezahl von zehn – Ariane hatte elf.

Unser Sohn kam eines Tages von der Schule nach Hause. Obwohl es gute Nachrichten aus der Bildungsstätte zu berichten gab, schien er etwas verhalten. Es hatte ein Diktat gegeben, auf das er mit »gut« benotet worden war. Von zehn Wörtern hatte er neun richtig geschrieben, nur eines falsch, und zwar das Wort »immer«, bei dem er ein »m« vergessen hatte.

Neun von zehn Wörtern richtig geschrieben, und nur eines davon falsch – dafür hätte er sich ein kräftiges Lob und die Würdigung seiner guten Leistung verdient, aber stattdessen hatte er von der Lehrerin eine Sonderaufgabe mit nach Hause bekommen. Er musste »immer« dreißigmal schreiben, drei weitere Wörter mit Doppel-m suchen und diese jeweils zehnmal schreiben. Dabei hatte es wesentlich schwierigere Wörter zum Diktat gegeben als das eine, das er falsch geschrieben hatte: das Wort »vielleicht« beispielsweise, ein Wort mit »v«, »ie«, Doppel-l und gleich zwei Zwielauten!

Im Diktat selbst war das fehlende »m« kräftig in Rot markiert, während die neun richtig geschriebenen neben dem einen in Signalfarbe gekennzeichneten Wort natürlich gänzlich verblassten – dieses Bild hat sich mir zutiefst eingeprägt.

Ariane hatte übrigens zehn von zehn Wörtern richtig geschrieben. Warum ich das erwähne? Nun. Unser Sohn war damals doppelt gefordert, denn für mich war das Abschneiden von High-Performerin Ariane bei Leistungstests die Benchmark, an der es sich zumindest zu orientieren galt.

Das sah dann beispielsweise so aus:

»Papa, ich habe eine Eins!«

»Sehr gut! Was hat denn die Ariane?«

In meinen Vorträgen schreien die Zuhörer an dieser Stelle meistens laut auf und lachen herzhaft – so gut wie jeder erkennt sich in irgendeiner Form wieder: Entweder in dem Bild mit den rot markierten Fehlern oder sie kennen jemanden, der zwar nicht Ariane heißt, aber trotzdem an die eher aussichtslose Hürde aus früheren Schultagen erinnert, die es performancemäßig zu überwinden galt, wenn man die Eltern stolz machen wollte.

Ist das nicht verrückt? Es muss völlig egal sein, welche Note Ariane hat, eine Eins ist die beste Note – das muss gewürdigt werden und verdient Lob und Anerkennung!

Wenn ich die Geschichte in meinen Vorträgen erzähle, frage ich an dieser Stelle gern die Zuhörer, ob sie sich vorstellen können, welche Frage der Papa in der Geschichte (also ich) ihrer Ansicht nach als nächstes stellt. Die Auflösung aus den Reihen der Teilnehmer kommt immer prompt:

»Wie viele ›Sehr gut‹ gab es denn?«

Ich habe in der Tat danach gefragt, wie viele »Sehr gut« es gegeben hatte, und wenn ich daran denke, ärgere ich mich heute maßlos über mich selbst. Denn es muss nicht nur egal sein, welche Note eine Ariane hat, es muss auch völlig egal sein, wie viele Einser es insgesamt gegeben hat. Eine Eins ist die beste Note und sie ist nicht weniger wert, wenn es mehrere Einser in der Klasse gibt!

Ist es nicht ein Irrsinn, was wir mit unserem Fokus auf das Falsche, das Negative, das rot Markierte schon unseren Kindern zumuten? Ich stehe nicht an zuzugeben, dass ich eine ganze Weile in dieser Ecke zu Hause war und das ist auch einer der Gründe, weshalb Sie dieses Buch heute in Händen halten. Die Geschichte von Ariane war für mich einer der wesentlichen Ausgangspunkte dafür, unseren Fokus auf das Negative genau unter die Lupe zu nehmen, selbst zu erkennen und aufzuzeigen, wie sehr er den allerkleinsten Dingen des Lebens innewohnt.

Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass der eine oder andere Leser von sich sagen wird, dass auch er früher so gehandelt und gedacht hat oder vielleicht sogar heute noch das eine falsche zuerst oder sogar anstatt der neun richtigen Wörter sieht.

Wann auch immer ich die Geschichte von Ariane in meinen Vorträgen erzähle, kommen jedes Mal starke Reaktionen aus dem Publikum – die Erzählung lässt kaum jemanden unberührt. Oft höre ich: »Wir haben auch eine Ariane, nur bei uns heißt sie Maximilian«, oder die Zuhörer bringen ihre Bestürzung zum Ausdruck und nehmen sich vor: »Ich frage meine Tochter nie wieder nach den Noten der anderen!«

Was das zuvor beschriebene Verhalten mit unseren Kindern macht? Ich erzähle Ihnen, wie bei uns daheim die Geschichte weiterging:

Wieder einmal kam unser Sohn von der Schule nach Hause und wir waren schon gespannt, denn die Kinder sollten an dem Tag die Mathematikschularbeit zurückbekommen. Die Haustür war kaum ins Schloss gefallen und die Schultasche abgestellt, schallte uns vom Flur schon das Ergebnis entgegen: »Ich habe ein ›Befriedigend‹, und Paps, bevor du fragst: Die Ariane hat auch nur ein ›Gut‹!«

Kinder können Erwachsenen ganz schön die Decke wegziehen.

Mein Sohn berichtete überdies, dass er ein Beispiel richtig gerechnet hatte, welches Ariane nicht hatte lösen können. Mein Verhalten, seine Leistungen dahingehend abzuklopfen, ob es nicht auch noch ein wenig besser (am besten besser als Ariane) gegangen wäre, hatte also dazu geführt, dass er sich über Ariane rechtfertigte (wozu überdies bei einem »Befriedigend« überhaupt keine Notwendigkeit bestand).

Die Schularbeit war offenbar sehr fordernd gewesen, denn unser Sohn präsentierte uns (bevor ich ihn danach fragen konnte) neben seiner Arbeit auch gleich die Klassenergebnisse dazu: Es hatte viele »Nicht genügend« gegeben, sodass kurze Zeit sogar eine Wiederholung der Arbeit im Raum gestanden war, sehr viele »Genügend«, nur eine Handvoll »Befriedigend«, lediglich ein »Gut« von Ariane und kein einziges »Sehr gut«. Das »Befriedigend« unseres Sohnes war angesichts des Schwierigkeitsgrades des Geforderten ein sehr beachtliches und – eben! – zufriedenstellendes Resultat gewesen, aber mein Lob kam nicht mehr ungefiltert bei ihm an, das habe ich gespürt.

Die Geschichte geht noch weiter.

Unser Sohn ist mittlerweile Mitte dreißig, in einer Geschäftsführerposition in der österreichischen Handelslandschaft tätig und hat selbst Familie. Er rief mich vor rund einem Jahr an, um mir zu erzählen, dass bei ihm ein nächster Karriereschritt bevorstünde: Er würde ab kommendem Monat die Geschäftsleitung einer Handelskette im Nahrungsmittelbereich übernehmen, bekäme einen Firmenwagen und ein noch attraktiveres Gehalt und sei sehr motiviert, denn die Beförderung wäre genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen.

Ich darf an dieser Stelle gleich vorwegnehmen, dass es im Leben mit der bloßen Einsicht, etwas nicht ganz richtig gemacht zu haben und mit der konsequenten Umsetzung der Entscheidung, es ab da besser zu machen, nicht immer getan ist. Oft holt uns nämlich noch viele Jahre später die Erkenntnis ein, welche Spuren wir mit unserem Verhalten bei anderen hinterlassen haben, wie auch in diesem Fall. Denn mein Sohn fügte folgenden Satz hinzu:

»Und Paps, bevor du fragst: Ich weiß nicht, wie viel Ariane verdient, und ob sie ebenfalls einen Firmenwagen hat, und ob und wie viele Mitarbeiter sie führt, das weiß ich auch nicht!«

Ich habe schon erwähnt, dass sich mir das Bild des einen, im Diktat falsch geschriebenen und rot markierten Wortes zutiefst eingeprägt hat. Nicht zufällig ist diese Geschichte auch titelgebend.

Der Gedanke, die neun richtig geschriebenen Wörter grün zu markieren oder sie zumindest positiv zu kommentieren, ist der Lehrerin vermutlich gar nicht in den Sinn gekommen. Ich persönlich achte seit jenen Tagen rigoros drauf, nur in Blau zu schreiben, ausschließlich das Positive zu markieren und anzumerken und mein Umfeld mit diesem eher ungewöhnlichen Verhalten »anzustecken«. Sobald ich sehe, dass jemand mit Rot schreibt oder etwas rot markiert, spreche ich ihn darauf an und weise darauf hin, dass er sich mit der roten Farbe seitenweise selbst darauf hinweist, etwas falsch gemacht zu haben, etwas korrigieren, etwas besser machen zu müssen. Ich darf Ihnen sagen, dass wirklich jeder sofort versteht, was ich damit meine. Denn die meisten haben gelernt, dass es im Leben darum geht, möglichst wenige Fehler zu machen, und dieses Verständnis wird früh gefördert, indem Fehler traditionell in Rot markiert werden. Auf ihnen liegt das Augenmerk – nicht auf dem, was richtig gemacht wurde.

Stellen Sie sich kurz vor, Sie befinden sich in einem Meeting, Sie schreiben die wichtigsten Sachen mit und Ihr blauer Kugelschreiber gibt plötzlich den Geist auf. Sie borgen sich einen roten Kugelschreiber und schreiben eine Weile mit diesem mit. Nach einer kurzen Pause geht die Besprechung weiter, aber der rote Kugelschreiber ist weg, denn den hat ein Kollege ausgeborgt. Sie borgen sich also einen neuen Stift, der ist diesmal schwarz, und Sie schreiben weiter mit. Visualisieren Sie bitte nun Ihre Mitschrift aus dieser Besprechung. Sie haben nur die allerwichtigsten Sachen zu Papier gebracht, aber welche Dinge werden Ihnen als Erste ins Auge fallen, wenn Sie die Mitschrift am nächsten Tag zur Hand nehmen? Blau, rot oder schwarz? Möglicherweise waren es To-dos – auf welche Farbe fällt Ihr Blick zuerst und welche Aufgaben werden Sie deshalb möglicherweise sofort in Angriff nehmen? Sehen Sie, was die Farbe Rot mit uns macht?

Ich habe die Schulergebnisse meines Sohnes mit meiner Orientierung an der Klassenbesten unabsichtlich abgewertet und dem Positiven, dem Richtigen weniger Beachtung geschenkt als den rot markierten Stellen. Jahrzehnte später ist mir während des Telefonats mit meinem Sohn ein weiteres Mal intensiv ins Bewusstsein gerückt worden, wie konsequent wir alle darauf achten, was vermeintlich nicht passt und welche Spuren diese Prägung hinterlassen kann.

Ich erzähle die Geschichte von Ariane häufig in meinen Vorträgen und bitte zum Schluss das Publikum, die Hand zu heben – Sie sind jetzt eingeladen, mitzumachen! – , wer ebenfalls eine Ariane kennt. Und ich kann Ihnen sagen: Jeder kennt eine Ariane – auch wenn sie Emma oder Maximilian heißt!

Neun richtig, eins falsch.

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