Читать книгу Bedeutet ein halbes Gehirn, ein halber Mensch zu sein? - Philipp Dörr - Страница 5

Über meine Person

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Ich bin ein 35-jähriger Diplom-Psychologe aus Hessen und habe eine linksseitige Halbseitenlähmung und einen Gesichtsfeldausfall auf jedem Auge linksseitig.

Geboren wurde ich am 12.08.1980 als gesundes Kind. Im Alter von 2,5 Jahren bekam ich Fieber, was sich mit konventionellen Mitteln nicht beherrschen ließ. Daraufhin kam ich ins nächstgelegene Krankenhaus, wo zu einer Bauchspiegelung zur besseren Diagnostik geraten wurde. Bei der Durchführung erlitt ich einen sogenannten Mediainfarkt (einen Schlaganfall im mittleren Bereich des Gehirns), der sich kurze Zeit später aufgrund mehrerer Faktoren zu einer Epilepsie entwickelte. Ab diesem Zeitpunkt begann eine wahre Krankenhaus-Odyssee, die nicht nur mein Leben für immer verändern sollte, sondern auch das meiner Familie.

Ein großes Problem in dieser Zeit war vor allem der wissenschaftliche Aspekt, da die Erkenntnisse und Forschung noch sehr am Anfang standen und es nicht viele Anlaufstellen in Deutschland gab. Nach vielen Jahren experimenteller und erfolglosen medikamentöser Behandlungen war meine Epilepsie kaum noch beherrschbar, da durch die Ausbreitung im Gehirn sich immer neue Erscheinungsbilder meiner Anfälle offenbarten und sowohl immer häufiger, als auch kombiniert auftraten. Zwar halfen die Medikamente am Anfang bei manchen Anfallsformen, schafften es aber nie, die Epilepsie vollständig unter Kontrolle zu halten. Was mit kurzen Sturzanfällen aus heiterem Himmel begann, entwickelte sich im Verlauf meiner Epilepsie sogar zu Krampfattacken mit Bewusstlosigkeit, deren ursprüngliche Auslöser nie eindeutig festgestellt werden konnten. Im Endstadium hatte ich bis zu 50 Anfälle an nur einem Tag und bis zu 4 verschiedene Formen gleichzeitig. Ein Leben in meinem Zuhause war auf keinen Fall zu verantworten. So entschieden sich meine Eltern 1990 für eine Klinik in Bielefeld, welche zum damaligen Zeitpunkt zu einer der fortschrittlichsten Kliniken für Neuropsychologie und Neurochirurgie galt. Nach einer sehr genauen Diagnostik und großer Sorge aller Beteiligten wurde am 13.11.1991 eine sogenannte rechtsseitige Hemisphärektomie (Entnahme der rechten Großhirnhälfte) durchgeführt, da bei der Diagnostik meiner Epilepsie hauptsächlich auf der rechte Seite lokalisiert werden konnte. Dies war für mich sozusagen ein zweiter Geburtstag, denn ich war anschließend tatsächlich anfallsfrei. Zurückblieb eine linksseitige Halbseitenlähmung und eine sogenannte linksseitige homonyme Hemianopsie (Erblindung der linken Seite auf jedem Auge).

Sie als Leser werden sich berechtigterweise fragen, ob unter diesen Umständen noch ein Leben möglich ist. Diese Frage kann ich Ihnen mit einem eindeutigen JA beantworten, auch wenn ein Leben nach einem derartigen Eingriff vieler Umstellungen, sowohl in der eigenen Denkweise, als auch in der Alltagsbewältigung bedeutet.

Auch in Zeiten meiner Epilepsie kam es zu vielen Auseinandersetzungen mit dem deutschen System. Dies betrifft nicht nur den Gesundheitssektor, sondern auch die Bildung und wie bereits mehrfach genannt, den Alltag. Auf dem Gesundheitssektor kam es oft zu Komplikationen, da eine eindeutige Einstufung kaum möglich war und auch diverse Systeme, wie das Pflegestufensystem erst in den 90ern eingeführt wurde.

Trotz viel Kritik haben meine Eltern dafür gesorgt, dass ich auf eine Regelschule kam, nachdem sich mein damaliger Intelligenzquotient, trotz der Anfälle, für eine Sonderschule als zu gut erwies. Allerdings war dies nur mit viel Überzeugungskraft möglich, da sehr viel Misstrauen in Bezug auf meine Behinderung bestand. Eine Grundschule im Nachbardorf erklärte sich schließlich bereit, mich aufzunehmen und dort blühte ich förmlich auf. Im Verlauf der zweiten Klasse eskalierte jedoch meine Epilepsie, sodass ich die Schule abbrechen musste. Nachdem ich operiert war, hatte ich trotz Behinderung eine immense Motivation wieder in die Schule zu gehen, jedoch fehlte mir der komplette Stoff einer Klasse. Dieser wurde mir während der nun beginnenden Rehabilitationsphase neben viel Physio- und Ergotherapie von meiner Mutter und einer Hauslehrerin vermittelt. Kurz darauf schaffte ich tatsächlich wieder die Rückkehr in meine alte Klasse und schloss die Grundschule mit Bravur ab. Anschließend standen meine Eltern und ich vor einer schwierigen Entscheidung, ob ich auf die Realschule oder aufgrund meiner sehr guten Zeugnisse auf ein Gymnasium eingeschult werden sollte. Meine Mutter wollte mich trotz einer unglaublich großen Motivation meinerseits nicht überfordern und so entschlossen wir uns für die Realschule. Als sich aber die erste Realschule aufgrund sehr diskriminierender Vorfälle als schlecht erwies, wechselte ich auf eine Europa-Gesamtschule in unserer Nähe. Dort meisterte ich ebenso mit viel Elan die mittlere Reife trotz sehr hohem Niveau. Zwar hätte ich dort die Möglichkeit gehabt auch die gymnasiale Oberstufe zu besuchen, jedoch merkte nicht nur ich selbst sehr schnell, dass dies mir aufgrund größerer Bildungslücken eine zu große Hürde dargeststellt hätte. Trotzdem bestand ich selbst darauf, mein Abitur zu machen. Nach einiger Recherche fanden wir ein sogenanntes „berufliches Gymnasium“ in der Nähe, welches einen Abiturabschluss mit der Spezialisierung Wirtschaft, IT und Ernährung anbot. Ich entschied mich für den Wirtschaftszweig, da dieser ein breites Wissensfeld für eine spätere berufliche Karriere darstellte. Hier fand auch nach vielen eher negativen Erfahrungen im Realschulzweig, meine schönste und lehrreichste Schulzeit statt. Nicht nur, dass ich endlich von meinem Umfeld als normaler Mitschüler ohne Sonderbehandlung akzeptiert wurde, sondern ich lernte in vielen Fächern wie Wirtschaftslehre und Deutsch Leistungskurs viele nützliche Dinge für meine berufliche Zukunft. Im Jahre 2004 bestand ich letztendlich mit guten Ergebnissen mein Abitur. Nach einer sehr langen schulischen Laufbahn stand ich nun vor der großen Frage, welchen Beruf ich wählen sollte. Um dies genau zu bedenken und sich meine Halbseitenlähmung etwas verschlechterte, beschlossen meine Mutter und ich, eine größere Rehabilitationsmaßnahme in Anspruch zu nehmen. Es folgte wieder eine sehr ausführliche Internetrecherche nach geeigneten Kliniken. Letztendlich stießen wir dabei auf eine südbayrische Rehabilitationsklinik. Dort verbrachte ich insgesamt eine 12-wöchige Rehabilitation, die mich, nicht nur im physiologischen Sinn, auf die bevorstehende Zukunft vorbereiten sollte. Unter anderem begegnete mir während dieser Rehabilitation ein Mann aus der Nähe von Ingolstadt, der ebenfalls wegen eines Schlaganfalls dort in Behandlung war. Das Bewusstsein eine Behinderung zu haben, trieb ihn in die Verzweiflung. Trotz relativ guter, wenn auch recht kleiner Fortschritte, konnte dies seine depressive und verzweifelte Stimmung nicht verbessern. So entschloss ich mich nach kurzer Zeit der Beobachtung, mit ihm in der Cafeteria auszutauschen. Er berichtete mir nach einem ersten Kennenlernen, dass er selbst lange Zeit ein Heim für Kinder und Jugendliche betreute, welches auch behinderte Kinder aufnimmt. Sehr belastend war für ihn die Tatsache, behindert zu sein und die Zukunftsängste bezüglich seiner Arbeit. Ich selbst kannte das Gefühl bereits sehr gut, als Behinderter einfach nicht ernstgenommen zu werden oder teilweise für Einschränkungen diskriminiert zu werden. Ohne große Bewertung erzählte ich ihm von meiner Krankheitsgeschichte und versuchte ihm zu vermitteln, dass es sich auch zu seinem jetzigen Standpunkt zu kämpfen lohnt. Als Quintessenz unseres sehr langen Gespräches vermittelte ich ihm, dass er immer in Abhängigkeit seiner Fortschritte entscheiden soll, was er als nächstes plant. Auch ich weiß heute noch sehr gut, dass man mit einer Einschränkung eben nicht mehr alles leisten kann, aber dennoch das Beste aus den verbliebenen Fähigkeiten machen sollte. Im weiteren Verlauf werden diese Fähigkeiten weiter ausgebaut, bis es dann für weitere Vorhaben reicht. Das Ergebnis dieses Gespräches war, dass er zunächst geschockt war, was einem Menschen doch wiederfahren kann, aber auch große Bewunderung für meinen Elan und Motivation. Im Endeffekt konnte er mir für diese Erfahrung gar nicht genug danken. Am folgenden Tag sprach mich der leitende Neuropsychologe auf das Gespräch mit dem Mann an und sagte mir etwas, was meine Zukunft beschließen sollte. Er habe noch nie gesehen, dass ein Patient so toll mit einem anderen Mitpatienten umgegangen sei und ich solle eine Karriere als Psychologe in Betracht ziehen. Dies hat mich nicht nur im höchsten Maße geehrt, sondern auch meinen Beschluss gestärkt, Psychologie zu studieren. Im Wintersemester 2005/2006 begann ich an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität mein Diplom-Studium. Dieses zog sich aufgrund vieler Faktoren über 9 Jahre hin, was aber unter anderem daran lag, dass ich ein eigens entwickeltes Diplomarbeitsthema über 1,5Jahre behandelte und 2 längere Praktika in Kliniken absolvierte. Das Diplomarbeitsthema entstand durch eine nahezu unglaubliche Erkenntnis meinerseits. Bei einer Teilnahme bei einer Studie über Gesichtsfeldausfallkompensation (Ausgleich des blinden Feldes) 1995 in München, gab es erste Erkenntnisse, dass trotz Entfernung meiner rechten Gehirnhälfte im hinteren verbliebenen Teil des Gehirns visuelle Restfunktionen vorhanden waren. Von einem Professor für Neuropsychologie, der die Studie leitete, wurde mir ein wegweisender Rat gegeben. Er sagte mir, dass ich bewusst die Augen und den Kopf nach links bewegen soll, um den Gesichtsfeldausfall damit zu kompensieren. Als ich dies über Jahre tatsächlich so praktizierte, spürte ich, immer weniger Augenbewegungen machen zu müssen, um mein blindes Feld auszugleichen. In den darauffolgenden Jahren wurde meine Entwicklung untersucht. Was zunächst nur theoretische Annahmen waren, wurde im Verlauf als Bewegungswahrnehmung und einer Neuorganisation in meinem Gehirn diagnostiziert. Als dann etwas später eine weitere Untersuchung stattfand, stellte sich etwas nahezu Unglaubliches heraus. Mein Gehirngewebe in der rechten Gehirnhälfte wies so viel Aktivität im visuellen Bereich auf, dass von einer belegten Erweiterung des Gesichtsfeldes im Bericht gesprochen wurde! Zum besseren Verständnis, sollte für Sie als Leser noch erklärt werden, dass eine Erweiterung des Gesichtsfeldes eine bewusste visuelle Wahrnehmung bedeutet und nicht nur die Erfassung einer Bewegung, bzw. Vermutung etwas im Ansatz zu sehen, ohne es benennen zu können. Zudem konnte ich auch genau benennen, was ich gesehen hatte, was schlussendlich den endgültigen Beweis lieferte. Dies bestärkte mich desto mehr mein bereits geplantes Diplomarbeitsthema über Gesichtsfeldkompensation umzusetzen. Da dieses Thema auch in der südbayrischen Klinik während einer zweiten Rehabilitation bereits in 2007 auf sehr großes Interesse stieß, durfte ich dort meine Erhebungen für die Diplomarbeit machen und verknüpfte dies mit einem Praktikum. Nach einer sehr anstrengenden Prüfungsphase im Jahre 2013 und 2014 schaffte ich es, tatsächlich im Dezember 2014 mein Diplom-Psychologie-Studium erfolgreich abzuschließen!

Nun begann für mich eine neue Ära und ich begann, für viele Stellenangebote Bewerbungen zu verschicken. In der Hoffnung mit meinem Universitätsabschluss, zwei sehr aussagekräftiger Praktikumszeugnisse und viel eigener Klinikerfahrung als Patient, einen passenden Job zu finden. Nach vielen eher enttäuschenden Vorstellungsgesprächen über ganz Deutschland verteilt, wurde ich von einer Klinik in Hessen eingestellt. Zu Beginn dachte ich tatsächlich meinen Traumjob gefunden zu haben. Trotz sehr genauer Aufklärung über meine Behinderung, wurden von mir Dinge verlangt, die für mich mit meiner Einschränkung nicht erfüllbar waren und so wurde ich bereits nach Ablauf eines 3-monatigen Probearbeitsvertrages, der unter anderem auch seitens der Agentur für Arbeit gefördert wurde und gutem Feedback von meinen zu behandelnden Patienten und deren Angehörigen, gekündigt.

Zwischenzeitlich ergab sich auch eine weitere Besonderheit in meinem Leben. Seitdem ich über Jahre lernte meinen Gesichtsfeldausfall zu kompensieren, hatte ich die Möglichkeit bei einer Fahrschule mit umgerüsteten Autos für meine behinderungsbedingte Situation, eine Probefahrt zu absolvieren. Nachdem ich diese mit Bravur meisterte, begann ich bereits im Jahr 2014 nach einem Gutachten von einem bayrischen Augenarzt und einem neuropsychologischen Gutachten vom leitenden Neuropsychologen der südbayrischen Klinik, meinen Führerschein. Aufgrund meiner Abschlussprüfungen meines Studium musste ich diesen pausieren, aber letztendlich gegen Ende des Jahres 2015 schaffte ich tatsächlich meinen Führerschein!

Meine Arbeitssuche dauert seit Anfang 2016 weiterhin an und ich bin immer noch hochmotiviert eine passende Stelle zu finden oder nach einer Ausbildung zum Psychotherapeuten eine selbstständige Tätigkeit in Angriff zu nehmen!

Eine Sache darf jedoch keineswegs außer Acht gelassen werden. Es gehört nicht nur ein starkes Selbstbewusstsein und Motivation dazu, als Behinderter etwas zu erreichen, sondern auch die Unterstützung durch das familiäre Umfeld und ein gewisses Maß an Kooperation der verantwortlichen Kostenträger, Ämter und Institutionen. Dies mag im ersten Moment selbstverständlich klingen, ist es aber keineswegs. Gerade dies stellt nicht nur die Behinderten selbst, sondern auch das deutsche System vor eine echte Bewährungsprobe. Gerade das Problem der Einordnung des Behinderten und die Umsetzung passender Maßnahmen stellt in der heutigen Zeit, nicht zuletzt wegen der Denkweise über Behinderte, ein großes Problem dar. Genau dies möchte ich in diesem Buch behandeln. Ich möchte mir auch in keinster Weise anmaßen, die im Buch angesprochenen Probleme zu lösen. Dennoch möchte ich versuchen Ihnen ein besseres Verständnis für das Thema Behinderung zu erwirken und dem einen oder anderen Betroffenen neue Perspektiven zu vermitteln!

Meine Philosophie für das Leben lautet:

„Wer kämpft hat zumindest eine Chance. Wer aufgibt, hat bereits jetzt verloren!

Bedeutet ein halbes Gehirn, ein halber Mensch zu sein?

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