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Ausweglos

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Janette schaute zum wiederholten Male auf die Uhr. Vom schnellen Gehen war sie ganz außer Atem. Verdammt, es war gleich Mitternacht. Sie hatte sich in einer Diskothek in Bad Schwartau vergnügt und war spät dran. Der Landgastwirt, bei dem sie arbeitete und auch einquartiert war, führte ein strenges Regiment, und in Sachen Pünktlichkeit kannte er kein Pardon. Das hatte sie schon mehr als einmal zu spüren bekommen. Spätestens um elf hatte sie zu Hause sein sollen, aber sie hatte sich mit ihren Freundinnen regelrecht ‘verquatscht’. Die angehende Köchin zog sich ihren Pullover aus und fing an zu rennen. Sie hatte noch gute vier Kilometer zu laufen. In ihrer Phantasie sah sie ihren Chef vor sich, wie er tobte und schrie. Wahrscheinlich würde er ihr in punkto Freizeit für den Rest des Monats einen gehörigen Strich durch die Rechnung machen. Wenn sie ihre Arbeit und die Gegend, insbesondere die Nähe zur Ostsee, nicht so lieben würde, dann wäre sie längst nicht mehr bei diesem Ekelpaket.

Janette blieb kurz stehen und lauschte. Motorengeräusch. Sie drehte sich um und richtig, in der Ferne kamen ein Paar Autoscheinwerfer schnell näher. Sollte sie es wagen? Urplötzlich hatte sie die warnende Stimme ihrer Mutter im Ohr. Kind, hatte sie immer gepredigt, fahre niemals per Anhalter. Bisher hatte sie sich auch immer daran gehalten, insbesondere auch deshalb, weil ihre beste Freundin erst vor kurzem nur knapp einer Vergewaltigung im Auto entgangen war. Aber die Zeit, sie saß ihre heute Nacht im Nacken. Nur zu gut wusste sie, dass sie ihre Stelle als Auszubildende riskierte. Mehr als einmal hatte der alte Fiesling mit der Kündigung gedroht. Der Wagen hatte sie fast erreicht. Sie musste sich entscheiden. Zaghaft hob sie ihre Hand und starrte in das grelle Scheinwerferlicht.

Mitternacht war vorbei. Kommissar Schmidtke gähnte laut und reckte sich. Er hatte sich am Wochenende die Zeit als ‘Kommissar vom Dienst’ vor dem Fernseher vertrieben, und eigentlich hatte er eine Vorliebe für alte Krimis, doch heute war er irgendwie abgeschlafft, und mehr als einmal waren ihm die Augenlider zugefallen. Seine Frau war längst ins Bett gegangen und sicherlich schon im Reich der Träume, und auch er hoffte jetzt auf eine ruhige Nacht.

Auf dem Weg ins Bad klingelte das Telefon. Innerlich fluchend nahm er ab, doch nach wenigen Sekunden war der alte Fuchs hellwach.

„Sorgen Sie dafür, dass das Mädchen sofort ins Krankenhaus kommt. Ich fahre auch dort hin, okay?“

„Sollen wir den Tatort absperren?“, fragte der Polizist am anderen der Leitung.

„Ja, natürlich, und achten Sie auf die Spuren. Bis später. Halt, noch etwas, die Fahndung. Wenn’s was Handfestes gibt, raus damit!“

Schmidtke knallte den Hörer auf die Gabel und schaute in den Spiegel der Flurgarderobe. Jetzt war er in seinem Element. Unwillkürlich dachte er an seine Tochter, und Zorn überkam ihn bei solch einem gemeinen Verbrechen.

Eine halbe Stunde später stand der Chef-Ermittler am Krankenbett von Janette. Sie sah ziemlich zerschunden aus. Mehrere tiefe Kratzer waren mit einer Tinktur desinfiziert worden. Er hatte vorher mit dem Arzt gesprochen. Von ihm wusste er, dass das Mädchen wohl noch glimpflich davongekommen war und keine ernsthaften Verletzungen erlitten hatte, auch nicht im Intimbereich.

„Von meinem Kollegen weiß ich, dass du aus der Diskothek kamst, als das passierte.“

Das Mädchen nickte.

„Wie war das mit dem Fahrer, Janette, hat der dich angesprochen?“

Diesmal schüttelte die Verletzte den Kopf.

„Du bist also per Anhalter mitgefahren?“

Und wieder nickte das Mädchen, ein wenig verschämt. Der Kommissar lehnte sich zurück. Aus Erfahrung wusste er, was jetzt auf ihn zukam. Aber er hatte Geduld. Und wieder drängte sich ihm das Bild seiner Tochter auf, und wieder hatte er eine gehörige Portion Wut im Bauch. Nach gut einer Stunde wusste er alles, was für ihn wichtig war. Er nahm ihre Hand und streichelte ihr die Wange. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Draußen holte Schmidtke erst einmal tief Luft und schwang sich in seinen Dienstwagen. Über Funk gab er der Einsatzzentrale seine Order: „Aktualisieren Sie die Fahndung wegen der versuchten Vergewaltigung wie folgt…“

Voller Tatendrang gab er anschließend Gas. Sein Ziel war der Tatort.

Leo Schmidtke raufte sich die Haare. Drei Wochen Ermittlungen unter Volldampf, aber es war wie verhext, es gab keine einzige Spur, bei der es sich auch nur im Ansatz gelohnt hätte, sie zu verfolgen. Und das war es, was ihn besonders fuchste. Der Kerl konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Es hatte in den letzten Tagen sogar Momente gegeben, in denen er ernsthaft überlegt hatte, den Fall abzugeben, doch dann hatte ihn wieder der Ehrgeiz gepackt, diese Nuss selbst zu knacken. Aber er war keinen Schritt weitergekommen, und heute musste der Kommissar es sich eingestehen: Das war ein ungeklärter Fall für die Staatsanwaltschaft, und das war für ihn bitter genug.

„Du bist nicht der erste in der Kriminalgeschichte, den dieses Schicksal ereilt“, meinte sein Vertreter ironisch, mit dem er den Fall mehr als einmal ‘durchgekaut’ hatte, und klopfte ihm auf die Schulter.

„Du hast recht, Martin! Schluss mit dem Gejammer! Schließlich gibt es noch andere knifflige Fälle, die darauf warten, gelöst zu werden.“

Doch so ganz frei machen konnte er sich nicht, auch nicht am Abend, als seine Frau ihn zu einem Stadtbummel überredet hatte.

„Du hörst mir überhaupt nicht zu, wenn ich dir was erzähle. Kannst du nicht wenigstens nach Feierabend einmal abschalten!“, maulte seine bessere Hälfte.

„Du hast recht, mein Schatz. Ich versprech’ dir…einen Augenblick mal, nein, das gibt’s doch nicht…“

„Was ist denn, Leo?“

„Ach nichts Besonderes. Ich erzähle dir das später. Geh’ doch bitte schon nach Hause. Mir ist da noch etwas eingefallen. Ich muss noch mal ins Büro.“

Plötzlich hatte er es sehr eilig.

„Und wenn schon, Leo. Solche Blusen sind doch Massenprodukte. Die kannst du dir in jedem Katalog nachbestellen.“

Schmidtkes Vertreter war skeptisch. Und außerdem hatte er wenig Zeit, ein Haftbefehl wartete darauf, vollstreckt zu werden. Doch der Kommissar blieb hartnäckig.

„Da stimmt was nicht, ich sag’s dir. Ich möchte, dass du mich begleitest und…“

„Du, ich hab’ eine Haftsache in dem Raub…“

„Die läuft uns nicht weg. Komm schon!“

Eine halbe Stunde später standen die beiden Kripo-Männer in Janettes Zimmer. Misstrauisch hatte der Gastwirt ihr für ein paar Minuten frei gegeben.

„Janette, du hattest doch damals nach der Tat gesagt, dass der Mann dir ein Stück von deiner Bluse abgerissen hatte, du erinnerst dich?“

Sie nickte.

„Sie haben doch selbst meine Bluse im Wald gefunden, Herr Kommissar.“

„Ja, ja, ich weiß, nur, ich hab’ dich gestern Abend in der Stadt gesehen, und ich meine, du hattest die Bluse an, die…“

Janette bekam einen roten Kopf.

„Ich…ich hab’ mir eine neue gekauft. Sie gefiel mir eben so gut.“

„Siehst du, Leo, das sagte ich dir doch“, mischte sich Schmidtkes Vertreter ein. Doch der Kommissar bohrte weiter.

„Macht es dir viel aus, mir deine Bluse zu zeigen?“

Er schaute Janette fest an, und sie wich seinem Blick aus.

„Ich…ich…“

„Bitte, Janette…“

Weiter kam er nicht, denn das junge Mädchen schlug plötzlich beide Hände vor das Gesicht und fing an zu schluchzen. Schmidtke gab seinem Kollegen einen Wink, und der kümmerte sich um sie. Er selbst ging schweigend zum Schrank und brauchte nicht lange zu suchen. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Der Stofffetzen, den angeblich der Verbrecher abgerissen hatte, war fein säuberlich angenäht.

„Ich…ich hatte keinen anderen Ausweg gesehen. Ich… hatte Angst, dass der Chef mich rauswirft.“

Kommissar Schmidtke schaute sie lange an. Irgendwie war er trotz ihrer Irreführung erleichtert. Laut sagte er: „Dazu gehören immer noch zwei. Komm, Janette, wir reden mit ihm.“

Kein Vorwurf. Dankbar schaute sie ihn an und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

Mord(s)-Geschichten zwischen Nord- und Ostsee

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