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Kapitel 3 - Der Auftrag

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Die Personaltoilette des Bistros war winzig: ein kleiner Schlauch von vielleicht eins Komma sechs Metern Tiefe und genauso breit wie die Tür, also zirka achtzig Zentimeter. Zuhinterst stand die WC-Schüssel, der "Rocket Stool", wie die Piloten ihn scherzhaft nannten. Auf der rechten Seite, wenn man auf dem Rocket Stool sass, war ein winziges Waschbecken. Es war so klein, dass es nicht viel Energie versprach, doch es genügte. Der Wasserdruck auf der Leitung war gut, und das war schliesslich ausschlaggebend für die Leistung der Triebwerke.

Die massive Holztüre schloss dafür satt und hatte einen Drehriegel zur Verriegelung, keinen Schlüssel. Ferry schätzte das sehr. Schlüssel waren immer ein wunder Punkt in der Aussensicherung. Ein Aluminium-Drehschloss mit einer Plastikauflage war ein von aussen nicht angreifbares Sicherungssystem, welches auch nicht Hitze- oder Stromschlag-gefährdet war und es war luft- und gasdicht. Die Abdeckplakette, die über dem Schloss lag, war ebenfalls aus Aluminium und mit vier Schrauben gesichert. Hinter diesen vermeintlichen Schrauben lagen vier Aussendetektoren verborgen, die alle Richtungen um die Raumkapsel nach Fremdeinwirkung absuchten. Mit Radar, Infrarot, Bewegungsmeldern und Sensoren für Dunkle Energie. Das hatte Ferry an der Akademie gelernt, bei seiner Ausbildung zum Navigator. War eine der Schrauben locker, war der Sensor defekt. Ein kurzer Routineblick auf das Schloss zeigte keine Anzeichen eines Defekts: alle Schrauben sassen tadellos.

Der Türgriff war ein Standard-Türgriff europäischer Bauart aus Aluminium, also ein L-förmiges Metallstück, welches in der Abdeckplakette steckte. Das war die Funkantenne der Kapsel. Aluminium war gut, es war kaum anfällig auf Störungen, insbesondere elektromagnetische. Dafür war die Reichweite begrenzt. Die amerikanischen Kugelgriff-Modelle hatten mit ihrer 360°-Rundum-Abstrahlung eine weit höhere Reichweite. Dafür waren sie viel störungsanfälliger, weil sie meist weniger massiv gebaut waren.

Ferry trat ein, drückte den Lichtschalter, zog die Türe zu und verriegelte sie. Die Stromsparbirne an der Decke erwachte zögernd zum Leben und begann träge, ein sanftes Licht zu verströmen. Eine schnelle Serie von kaum sichtbaren Blitzen flackerte durch den kleinen Raum und Ferry wusste, dass die Kapsel nun keimfrei war. Ein feiner Ozongeruch stieg in seine Nase.

Er drehte sich nach rechts und drückte auf eine Kachel in Kopfhöhe und sein Spind öffnete sich. Ferry zog erst seine Schuhe aus und stellte sie in den Wandschrank, dann seine Windjacke, das Polohemd und schliesslich die Jeans, um sie im Schrank zu verstauen. Er machte sich nicht die Mühe, alles sorgfältig auf einen Bügel zu hängen, sondern stopfte einfach alles hinter die Schuhe.

Anschliessend schlüpfte er in seine schwarze Uniform mit den vier goldenen Streifen auf den schwarzen Epauletten. Sie sass nach wie vor, als ob er nie etwas anderes getragen hatte. Dann schlüpfte er in seine Pilotenschuhe. Er zögerte kurz, doch dann griff er nochmals in den oberen Bereich des Spinds und holte ein kleines Baumwoll-Halstuch heraus, ein Glarner Tüchlein, sein Markenzeichen. Niemand ausser ihm hatte sich je getraut, ein nicht-konformes Kleidungsstück zur Uniform zu tragen. Ferry hatte Tüchlein in den Farben aller Staffeln in seinem Schrank und hatte sie je nachdem getragen, mit wem er geflogen war. Heute wählte er Schwarz: seine eigene Staffel.

Er klappte den Deckel nach unten und setzte sich auf die Toilette. Aus dem Spülkasten heraus faltete sich die Rückenlehne aus. Die zwei Schultergurte ragten über das obere Ende der Rückenlehne, doch er beschloss, sie nicht herauszuziehen. In der Sicherheits- und Transferkapsel brauchte man fast nie Gurten. Im Normalfall spürte man nicht einmal, dass sie sich bewegte. Auch bei einem Angriff von aussen konnte man höchstens in ein sanftes Trudeln oder Rollen geraten.

Die Toilette war weiss gekachelt mit Wandkacheln von 20 x 20 cm, was einen guten Standard darstellte. Die Bedienungsfelder hatten damit eine angenehme Grösse. Ferry tippte die Metallabdeckung der Toilettenpapierrolle an, seinen Hilfsbildschirm, da er nicht gut auf den Spiegel sehen konnte, der Winkel war einfach zu schlecht in dem engen Raum. Im Bruchteil einer Sekunde wurde sein Fingerabdruck eingelesen.

"Willkommen, Commander Black", hiess ihn der Bildschirm willkommen. Die Maschine hatte ihn also noch nicht vergessen.

In kurzer Folge tippte Ferry die drei darüber liegenden Kacheln an. Der Joystick, die Navigationskonsole und die Energiesteuerung erschienen. Dann liess er auf den beiden Kacheln, die rechts der Navigation und des Joysticks lagen, die Bewaffnungs- und die Sicherheitskonsole erscheinen. Es war alles da. Nicht, dass eine solche Kapsel viel zu bieten gehabt hätte in Sachen Bewaffnung, sie war schliesslich nur zum Transfer in die Parallelwelt konzipiert, sie war kein Schlachtschiff.

Routiniert aktivierte Ferry auf der Kachel der Energiesteuerung die Hauptversorgung der Triebwerke, der Sicherheitsanlage und der lebenserhaltenden Massnahmen wie Sauerstoff, Wasser und medizinische Überwachung. Dann glitt seine Hand automatisch zur Bewaffnungskonsole, die nur spärlich bestückt war: es gab lediglich zwei Kippschalter und darunter zwei Knöpfe. Er legte die beiden Kippschalter IMPULS und TORPEDO um, worauf die Knöpfe rot zu leuchten begannen.

Seine Hand glitt weiter zur Sicherheitskonsole, auf der er sämtliche Kippschalter für die Innen- und Aussensicherung umlegte und die Drehregler für die Reichweite der Sensoren auf eine mittlere Distanz drehte. Alle Handgriffe sassen noch, stellte er zufrieden fest.

Geflissentlich griff Ferry an sein linkes Ohrläppchen und drückte den Diamanten, womit die direkte Kommunikation freigeschaltet war. Anschliessend tippte er wieder den Hilfsbildschirm an, wischte das Logo weg, welches erschien und wählte den Ordner DATEN an. Es erschien ein Untermenu mit verschiedenen Optionen, von denen er EINSATZBEFEHLE wählte. Darin fand sich nur ein einziges Dokument: Es trug den Namen ATLANTIS.

Ferry runzelte die Stirn. Es war nicht Paris' Art, Einsätzen kryptische, mystische oder historische Titel zu geben. Ferry hätte etwas in der Art erwartet "Black Squadron, 08-04-2015, Search & Rescue". Von ihm aus hätte es auch etwas geographischer sein können, z.B. Himalaya, Atlas oder Dolomiten… Aber ATLANTIS?

Er öffnete die Datei und scrollte auf dem winzigen Hilfsmonitor nach unten. Üblicherweise kam erst eine allgemeine Einleitung mit Hintergrund, Motivation und bürokratisches Allerlei, wer was entschieden hatte und wer wofür zuständig war. Danach meist eine detaillierte Karte des Einsatzgebiets und Aufklärungsmaterial, sowie Angaben zu Treffpunkten, Zeitraster, Fluchtwege, die Teamliste, Frequenztabellen und so weiter. Doch Paris hatte ihm gerade mal einen Sechszeiler gegönnt:

Mission Atlantis, SL-1

To: Commander Black

From: Master Paris

Mission: Search & Rescue

Object: Squad Leader Orange, MIA

Coordinates: 31° 54' 00'' N; 28° 06' 00'' W

Enemy Status: Enemy occupied territory (presumably)

"Fuck!"

Ferry las die Angaben noch einmal.

"Fuck, fuck… fuck!", schrie er aus Leibeskräften. Das durfte nicht sein! Nicht Squad Leader Orange... Nicht Laura!

Er spürte einen Kloss im Hals und dass er rote Ohren bekam. Ihm war plötzlich heiss und kalt zugleich. Er spürte, wie ihm kalter Schweiss auf die Stirn trat. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und versuchte, ruhig zu atmen. Sein Puls war sicher auf hundertachtzig, dachte er. Er hob den Kopf und nochmals las er die Instruktionen durch, Zeile für Zeile. Langsam schüttelte er den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. Nicht Laura! Das konnte nicht sein! Sie war die beste Pilotin, die er kannte. Sie war noch nie abgeschossen worden, hatte noch nie eine Havarie gehabt.

Das mulmige Gefühl, welches sich in der vergangenen halben Stunde in seiner Magengegend eingenistet hatte, erklärte sich nun: sein Unterbewusstsein hatte ihm gemeldet, dass so etwas auf ihn zukommen würde… Jetzt war ihm auch klar, warum Paris gerade ihn für diese Mission ausgewählt hatte…

Die Orange Squad war Teil des Black Commands, also seines Kommandos. Vermutlich hatte man sie an ein anderes Kommando ausgeliehen, als er ausgetreten war, doch offiziell gehörte sie zu seiner Truppe. Er wusste, dass sein Posten nicht neu besetzt worden war. Es war nach wie vor - oder jetzt wieder - sein Kommando, seine Truppe. Laura war seine Pilotin, seine Squad Leaderin... Und seine Freundin. Geliebte. Ex-Geliebte… Laura war die Frau seines Lebens... Vermisst in feindlichem Territorium!

Commander Black starrte auf den kleinen Bildschirm, ohne etwas zu erkennen. Sein Kopf wiegte immer noch hin und her, doch seine Atmung hatte sich beruhigt. Er musste sich zwingen, zu fokussieren. Er starrte weiter auf den Bildschirm, unfähig, an etwas anderes als an Laura zu denken. Er sah sie vor sich, in ihrem silbrig schimmernden Pilotenanzug, der ihre weiblichen Kurven so unglaublich sexy betonte. Ihre langen, glatten, dunkelbraunen Haare, die sie immer schüttelte, wenn sie den Helm abnahm, als ob sie Werbung für Shampoo machte. Ihre glänzenden, mandelförmigen Augen, die fast schwarz waren und die zu glühen schienen, die einen wie Dolche durchbohren konnten, wenn sie es wollte. Ihr feingeschnittenes, ovales Gesicht mit der glatten Haut, den kleinen Leberflecken und dem sonnenverwöhnten, milchkaffeefarbenen Teint einer Latina. Ihren Kussmund mit den weichen und doch festen Lippen…

Ferry merkte, dass er immer noch auf den Bildschirm starrte. Irgend etwas störte ihn, doch er wusste nicht, was. Er verbannte die Bilder von Laura aus seinem Gehirn und versuchte, sich zu konzentrieren... Es waren die Zahlen! Er starrte die Koordinaten an. Er schloss die Augen und rechnete. Schüttelte den Kopf und rechnete noch einmal.

"Das muss ein Fehler sein…", murmelte er ohne echte Überzeugung. Was sollte der Scheiss? Die Koordinaten lagen mitten im Meer!

Schnell tippte er die Koordinaten ins Navigationsgerät ein. Gleich zwei rote Lampen leuchteten auf und informierten ihn, dass es sich sowohl um vermutlich feindlich besetztes Gebiet handelte, als auch, dass es kein Kartenmaterial gab für die eingegebenen Zielkoordinaten. Er drückte auf den Knopf mit dem Welt-Symbol und stand auf, um sich die geographische Lage auf dem Spiegel anzuschauen. Er hatte recht gehabt: die Zielkoordinaten lagen mitten im Atlantik, etwas südlich der Azoren!

Die Azoren waren klar erkennbar, das war kartographiertes Land, doch darum herum wurde die Landschaft nur matt grau dargestellt. Es gab keine Karten des Meeres. In der Parallelwelt gab es kein Meer. Was in unserer Welt, der Parallelwelt 0, Meer war, das war in der Parallelwelt 1 einfach nur dichter Nebel, eine Un-Zone, in der man weder fliegen noch navigieren konnte, sämtliche Instrumente spielten dort verrückt…

Die Transferkapseln, also die Toiletten, schien das hingegen nicht zu beeinflussen. Sie navigierten auch nicht bodennahe wie ein IFO, sondern katapultierten sich quasi in den Weltraum, um von dort wieder hinunterzustechen zu den Zielkoordinaten in der Parallelwelt. Man nannte das "PX - parallel extra-terrestrial", und man hatte ihm an der Akademie beigebracht, dass es so ähnlich war, wie ein Satellit in seiner Umlaufbahn, einfach zwischen den parallelen Welten. Mit der Transferkapsel konnte man grundsätzlich überall hinkommen in P1, doch es wäre schlicht sinnlos gewesen, sich mitten in den "Nebel" zu setzen! Nicht einmal Ferry wäre das in den Sinn gekommen. Nicht einmal in seinen wildesten Zeiten.

Ferry hatte einen überdurchschnittlich hohen IQ und war gut im Erkennen von Mustern, Reihen und allerlei mathematischen Dingen. Diesmal schien ihn der IQ jedoch im Stich zu lassen. Es dauerte eine ganze Weile, bis er erkannte, worum es ging: sein Vorgesetzter hatte der Mission ganz bewusst den Namen ATLANTIS gegeben!

Schon die alten Griechen hatten von Atlantis, der untergegangenen Insel, berichtet. Und auch wenn es unter den erstaunlich vielen Atlantis-Forschern geteilte Meinungen dazu gab, wo sich Atlantis befunden haben könnte, so war eine der ältesten und weitverbreitetsten Thesen immer noch, dass es sich mitten im Atlantik befand. Daher kam schliesslich auch der Name…

Master Paris wollte Ferry also tatsächlich nach Atlantis schicken? Auf eine mystische Insel, die es nur in Erzählungen gab? Das war total schräg! Paris war einfach nicht der Typ, der an griechische Mythologie glaubte und ebensowenig an selbstgestrickte Theorien zu versunkenen Inseln…

Ferry tippte die Kachel rechts vom Spiegel an und das Funkmodul erschien. Er drückte den Knopf, der ihn mit der Kommandozentrale verband und wartete.

Der Torso einer rothaarigen jungen Frau mit einem frechen Pagenschnitt in weisser Uniform erschien auf dem Spiegel. Sie hob den Kopf und lächelte Ferry mit einem Zahnpasta-Lächeln an. Ferry kannte die junge Frau nicht und schloss daraus, dass sie neu sein musste. Neu und… süss, irgendwie. Ihre stahlblauen Augen kontrastierten massiv zu den roten Haaren. Er fragte sich, ob die Haarfarbe wohl natürlich war oder ob sie aus der Flasche kam.

"Central Command, how can I help you?", lächelte sie ihn freundlich, aber mit professioneller Distanziertheit an.

"Ich muss mit Paris sprechen!", knurrte Ferry, geflissentlich den English-Code ignorierend.

"Oh. Sie müssen Commander Black sein…" Ihr Blick wanderte von seinem unrasierten Gesicht zu den Streifen auf seinen Schultern. Ihre linke Augenbraue zuckte für einen kurzen Moment nach oben und Ferry glaubte, einen Anflug von Überraschung in ihren Augen aufleuchten zu sehen. Doch sie spielte mit Bravour darüber hinweg und verkündete mit ihrem Zahnpasta-Lächeln: "Master Paris erwartet Ihren Anruf. Ich stelle Sie durch."

Eine Sekunde später erschien die breitschultrige, grossgewachsene Gestalt von Master Paris auf dem Schirm. Er hatte sich abgewendet und beugte sich zu einem Mitarbeiter herunter, der vor einer Reihe von Bildschirmen sass und in einem angeregten Gespräch mit Paris vertieft zu sein schien. Paris sagte in unterdrücktem Ton etwas zu dem Mitarbeiter und dieser erhob sich sofort von seinem Arbeitsplatz und verschwand aus dem Sichtfeld. Paris richtete sich langsam auf und liess dabei die Hände über seine weisse Uniform gleiten, als ob er sie glattstreichen wollte, drehte sich abrupt um und näherte sich gemessenen Schrittes dem Bildschirm, bis sein tiefschwarzes, langes Gesicht fast den gesamten Ausschnitt ausfüllte. Der Afro-Amerikaner war sicher gut zwanzig Jahre älter als Ferry, doch er wirkte nach wie vor energiegeladen und jünger, als er wirklich war. Er hatte scharf definierte Gesichtszüge, die sehr ebenmässig waren und in seinem kurzgeschnittenen Kraushaar gab es kaum weisse Strähnen. Sein Gesicht zeigte wie immer keine Regung, doch Ferry erkannte einen müden Zug um seine Augen.

"Commander.", grüsste er knapp.

"Paris." Ferry deutete ein zurückgrüssendes Kopfnicken an.

Einige Sekunden verstrichen, in denen sich die beiden taxierten. Schliesslich konnte Ferry nicht mehr an sich halten und brach das Schweigen.

"Ist es Laura?" Er musste Gewissheit haben.

"Ich fürchte, ja." Paris' Deutsch war akzentfrei und zeigte keinerlei amerikanische Färbung.

Ferry schloss die Augen für einen Moment und atmete tief durch. Verdammt!

"Was zum Teufel ist passiert?", presste er hervor, jedes Wort einzeln betonend. Die Bestätigung, dass es wirklich um Laura ging, war wie ein Schlag in den Solar Plexus gewesen. Sein Inneres krampfte sich zusammen. Er spürte, wie seine Ohren wieder zu glühen begannen.

Master Paris zögerte einen Augenblick, bevor er zu sprechen begann.

"Die Grauen bauen Siedlungen in P1: kleine Städte, Burganlagen, befestigte Aussenposten…" Der offizielle Terminus für die fremde Lebensform, der man in der Parallelwelt 1 begegnete, war "PCs", oder "parallel creatures", doch alle Mitglieder des P1-Corps nannten sie einfach "die Grauen", aus dem einfachen Grund, weil sie genau das waren: grau. Sie sahen aus wie dunkle Schatten, humanoid, soweit man es beurteilen konnte. Sie schienen einen Kopf zu haben, zwei Arme, zwei Beine. Doch diese Einschätzung beruhte auf reiner Beobachtung aus der Ferne. Es war offiziell noch nie gelungen, einen Grauen lebendig zu fangen und ihn zu studieren. Sie waren im Normalfall äusserst aggressiv und attackierten Menschen sofort, wenn sie sie sahen.

Bisher waren die Grauen meist nur in kleinen Geschwader-Gruppen aufgetreten, die wie Nomaden durchs Land zu ziehen schienen. Sie kamen aus dem Nichts und verschwanden wieder im Nichts. Aufklärung und Verfolgungsjagden hatten keinerlei Stützpunkte aufgezeigt. Dass die Grauen jetzt Siedlungen bauen sollten, war ein Schock für Ferry. Niemand hatte das je für möglich gehalten. Den Menschen war es bisher nicht gelungen, irgend etwas in P1 zu bauen. Darüber würde Ferry ausgiebig nachdenken müssen, um die volle Tragweite dieser Entwicklung einschätzen zu können. Doch jetzt war nicht die Zeit dafür.

"Das ist… erstaunlich. Und… erschreckend!", sagte er.

"In der Tat.", war die lakonische Antwort von Master Paris. Nach einem kurzen Zögern fuhr er fort: "Wir haben alle verfügbaren Staffeln auf die Aufklärung angesetzt und tausende Stunden von Überwachung geleistet, um möglichst alle Standorte zu lokalisieren und herauszufinden, wie sie es machen. Doch es hat sich als sehr schwieriges Unterfangen herausgestellt… Die Nahverteidigung der Siedlungen ist enorm. Sie fliegen pausenlos Patrouille um die Standorte. Nur wenige, sehr mutige Piloten haben es geschafft, das dichte Verteidigungsnetz zu infiltrieren. Squad Leader Hidalgo war eine von ihnen..." Master Paris nannte grundsätzlich alle Piloten bei ihren Nachnamen oder ihrem Rang.

Ferry hatte die Fingerspitzen aneinandergelegt und die Spitzen der Zeigefinger gegen seine Lippen gepresst. Er hörte mit höchster Konzentration zu, die Augen halb geschlossen, aber mit messerscharfem Blick auf Paris gerichtet. Er wollte Paris nicht unterbrechen und dieser sprach weiter. "Hidalgo hat geglaubt, eine Struktur in der Anordnung der Siedlungen entdeckt zu haben... Gemäss ihren Berechnungen scheint es eine Anordnung von konzentrischen Ringen zu sein: Zuäusserst liegen Horchposten, dann kommt ein Ring mit befestigten Truppenlagern, dann burgähnliche Bauten und im innersten uns bekannten Ring finden sich Siedlungen, die man Städte nennen könnte." Er hielt inne und atmete zweimal tief und schwer. "Sie glaubt, dass es im Zentrum der Ringe eine Art Hauptstadt oder Mutterschiff oder irgend etwas Vergleichbares geben muss…" Wieder hielt er inne und eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. "Wir haben über einhundert Standorte lokalisiert und Squad Leader Orange hat das vermeintliche Zentrum daraus errechnet..."

Ferrys eine Augenbraue ging nach oben, die andere nach unten und warf seine hohe Stirn in Falten.

"Atlantis?", fragte er ungläubig.

Ein Schatten huschte über Paris' dunkles Gesicht, eine winzige Regung in der sonst versteinerten Mimik des Vorgesetzten.

"Sie wissen, wie Hidalgo ist…", setzte er mit einem atypischen Zögern an, "wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat…" Er brach ab, blickte kurz zur Seite und seufzte. "Sie ist überzeugt davon, dass die Grauen Atlantis gefunden oder vielleicht "erfunden" haben… Die errechneten Koordinaten liegen südöstlich der Azoren. Dort gibt es auf dem mittelatlantischen Rücken einige sehr hohe Erhebungen unter Wasser, wie Sie sicher schon herausgefunden haben."

Ferry nahm den Gedanken auf und spann den Faden weiter: "… und wenn man sich das Wasser wegdenkt, oder "tieferlegt", dann wäre eine Insel dort… durchaus denkbar!"

Paris nickte bedächtig und ergänzte: "Gut geschützt, mitten im Nebel… Wo wir nie suchen würden… Wir haben die ganze Orange Squad zur Aufklärung auf die Azoren geschickt. Doch das hat Hidalgo nicht gereicht... Sie wollte unbedingt in den Nebel zur Aufklärung! Ich habe es ihr ausdrücklich verboten! Sie ist alleine und ohne Flugerlaubnis losgezogen, um ihr verdammtes Atlantis zu finden!" Er schnaubte. Ferry spürte, wie angespannt Paris war. Dieser musste sich offensichtlich sehr zusammenreissen, um nicht die Beherrschung zu verlieren.

Ja, Ferry wusste, wie Laura war. Er wusste, dass sie einen auf die Palme bringen konnte mit ihrer Sturheit. Irgendwie fand er es tröstlich, dass es nicht nur ihm so erging. Sogar die stoische und immerwährende Ruhe und Bedachtsamkeit von Paris hatte sie deutlich angekratzt. Wäre es nicht so tragisch gewesen, hätte er lachen müssen.

"Wann und wo?", fragte er statt dessen. "Wissen wir, welche Toilette sie benützt hat?" Er hegte die leise Hoffnung, dass er einfach die Wahlwiederholung drücken konnte wie bei einem Telefon, wenn er die richtige Toilette fand, und so an den gleichen Zielort kommen könnte, an dem Laura gelandet war. Er wusste nicht, ob das ging, da sich die Toilette jeweils auf das individuelle Profil des Piloten anpasste, aber einen Versuch wäre es wert.

"Squad Leader Hidalgo ist vor achtundvierzig Stunden vom Radar verschwunden... Eingetaucht in den Nebel..." Wiederum hielt Paris inne und seufzte. "Das dumme Mädchen ist mit dem IFO losgeflogen…!", er verdrehte die Augen und schüttelte langsam den Kopf. Seine Stimme hatte einen weichen Unterton bekommen. Er glich jetzt einem Vater, der sich um seine pubertierende Tochter Sorgen macht, die nach dem Ausgang nicht rechtzeitig nach Hause gekommen war.

"Mit dem IFO…?" Ferrys Mimik setzte aus. Er konnte sich nicht entscheiden, ob er wütend sein sollte oder erschrocken. Er starrte einfach mit grossen Augen ins Leere und wollte nicht begreifen, was Paris ihm gerade eröffnet hatte. "Was hat sie sich nur dabei gedacht…?" Ferry war auch schon in den Nebel geflogen, jeder Pilot musste das während seiner Zeit an der Akademie durchmachen, doch sie waren jeweils über Meerengen, enge Buchten oder Fjorde geflogen. Wenn man sauber geradeausflog, kam man irgendwann wieder auf der anderen Seite des Nebels heraus. Raum und Zeit funktionierten im Nebel anders. Man konnte den Eindruck haben, stundenlang in dieser weissgrauen Watte herumzufliegen, und war - von aussen gemessen - nur Sekunden weg gewesen. Andere Piloten machten die Erfahrung, dass sie nur gefühlte Sekunden im Nebel waren und in der Aussenwelt einige Tage vorbeigegangen waren… Ein weitgehend unerforschtes Phänomen.

Immer gleich war jedoch, dass die Instrumente des IFOs nicht funktionierten im Nebel. Man flog blind, ohne jegliche Navigation! Es ging nur geradeaus, links oder rechts. Man konnte zwar Gas geben oder abbremsen, doch es schien keinen Einfluss auf die effektive Geschwindigkeit und damit die Verweildauer im Nebel zu haben. Der Langstrecken-Rekord durch den Nebel wurde von Commander White, der Ukrainerin Natalia Melnik gehalten. Sie war nachweislich in Odessa in den Nebel des Schwarzen Meeres eingetaucht und in der Nähe von Zonguldak auf der türkischen Seite wieder herausgekommen. Das waren über fünfhundertsechzig Kilometer. Doch niemand war bisher einfach mitten in einen Ozean hineingeflogen! Das war reiner Wahnsinn!

"Rund vierundzwanzig Stunden nachdem sie vom Radar verschwunden ist, haben wir eine Art Notsignal empfangen…", unterbrach Paris die Gedanken von Ferry. "Es war nicht viel mehr als ein "Piep", aber wir konnten es in südöstlicher Richtung orten. Natürlich ohne Koordinaten, da es nicht auf kartographiertem Land abgesetzt wurde. Wir haben es als Notsignal eingestuft, weil es auf der Notfrequenz gesendet wurde." Ein Lebenszeichen, dachte Ferry. Immerhin.

"Commander…", setzte Paris an und hielt inne. Jetzt kam wohl der offizielle Teil. "Ich würde die Mission selber fliegen, doch der Ältestenrat hat es mir ausdrücklich verboten. Sie scheinen der Meinung zu sein, dass ich hier mehr gebraucht werde, denn je… Ich sehe keine Alternative, als Sie auf dieses Himmelfahrtskommando zu schicken, aber ich möchte betonen, dass Sie den Auftrag ablehnen können! Ich werde Sie nicht zwingen, Ihren Hals zu riskieren da draussen im Nebel…" Er verstummte. Es schien ihm peinlich zu sein, was Ferry erstaunte. So kannte er Paris nicht. Der hünenhafte Schwarze war der Leiter der P1 Armed Forces, also aller Kampf- und Aufklärungsgeschwader. Er ging keinem Konflikt aus dem Weg und er war es gewohnt, unpopuläre Entscheide zu treffen. Er hatte einen Krieg zu führen und zu gewinnen und er hatte schon viele gute Leute verloren. Das gehörte dazu.

"Ich bin überzeugt, dass der Ältestenrat Recht hat. Wenn die Grauen wirklich sesshaft werden, dann brauchen wir dich hier. Finde heraus, was die vorhaben. Ich finde Laura." Ferry duzte alle und jeden, auch seinen Vorgesetzten, der ihn siezte, wenn es um Offizielles ging. Ferry fand das unnatürlich. Sie waren Freunde, oder waren es gewesen, also duzte er Paris. Er setzte ein gekünsteltes Grinsen auf, auch wenn ihm nicht wirklich danach zumute war. "Ausserdem gibt es keinen Besseren als mich für diese Mission, das wissen wir beide. Ich habe schon einige haarige Einsätze geflogen. Viel schlimmer kann's kaum werden." Ferry ahnte, dass er sich wahrscheinlich täuschte. Doch es war ihm egal. Er würde Laura finden oder beim Versuch dabei draufgehen. Das war okay für ihn. "Gibt es noch etwas, was ich wissen muss?", fragte er. Das Gespräch ging seinem Ende zu. Er spürte, wie es in seinen Fingern juckte. Er wollte jetzt los, er durfte keine Zeit mehr verlieren.

"Die Zielkoordinaten sind auf eine der höchsten Erhebungen dieses Meeresrückens programmiert. In der Hoffnung, dass der Meeresspiegel dort wirklich tiefer ist, sollte Ihnen das die beste Möglichkeit geben, nicht mitten im Ozean zu landen… Ausserdem müssten Sie dort einen guten Überblick über das Gelände haben. Wir haben bewusst nicht die höchste Erhebung gewählt, da wir im schlimmsten Fall davon ausgehen müssen, dass die Grauen dort einen Wachtturm oder etwas Ähnliches errichtet haben… Wir würden das jedenfalls so machen."

"Alles klar.", erwiderte Ferry, "dann hoffen wir mal, dass deine Annahmen stimmen. Ansonsten werde ich ziemlich nasse Füsse bekommen. Oder es wird ein kurzer Besuch…" Ein bisschen makabrer Humor schien angebracht. Doch sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Er war jetzt voll konzentriert und angespannt.

"Commander Black meldet sich ab zur Mission Atlantis." Er stand stramm und salutierte, wie aus dem Lehrbuch. Auf den offiziellen Gruss liess er nichts kommen. Er mochte ein Einzelgänger sein, Befehle missachten und seine Macken haben. Aber er hasste es, wenn schludrig salutiert wurde. Er fand es respektlos, und respektlos war er nicht. Er hatte grossen Respekt vor Paris und den anderen Grossmeistern. Er wusste, was sie leisteten und geleistet hatten.

Master Paris musste nicht erst strammstehen, das schien er immer zu tun. Doch er hob den Kopf um eine Nuance, blickte Ferry intensiv in die Augen und nahm den Gruss ab, indem er ebenfalls die Hand an die Schläfe hob, langsam und sehr präzise. "Danke, Commander. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Und Glück… Sie werden es brauchen. Vom Ausgang dieser Mission hängt viel ab. Ich hoffe inbrünstig, dass Sie kein Atlantis finden werden. Aber wenn doch, wäre dem Corps sehr daran gelegen, möglichst viel darüber zu erfahren…" Er senkte die Hand. Ferry nickte, sagte aber nichts mehr und hob die Hand zur Kommunikationskachel, um die Verbindung zu beenden.

"Ferry…", setzte Paris nach, "komm heil zurück… und bring Laura nach Hause!"

Ferry biss die Zähne zusammen und seine Kieferknochen traten hervor. Noch einmal nickte er knapp. Der Kloss in seinem Hals verunmöglichte es ihm, zu antworten. Er drückte die Verbindung weg.

Der Auftrag

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