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Der Gelbe Magier

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Wenige Tagesritte vom Kriegslager der Darr entfernt, werden drei ihrer Späher auf eine Gestalt aufmerksam, die so regungslos mitten in der Steppe steht, dass die Augen der Darrspäher sie erst erblicken, als ihre Pferde sich dem Reglosen auf eine Entfernung von drei- bis vierhundert Schritte genähert haben und eines der Pferde zu scheuen beginnt.

Die drei Reiter halten kurz ihre Tiere an, wundern sich über die absonderliche Gestalt, die wie ein fest eingewurzelter Baum mitten in der Steppe in der Nähe einer größeren Buschgruppe steht. Vorsichtig und voller Misstrauen nähert sich einer der Späher der reglosen Gestalt.

„Du bist kein Darr!“

„Ich weiß“, antwortet die ruhige Stimme des Angesprochenen.

„Was – was weißt du?“

„Dass ich kein Darr bin.“

„Du machst dich über mich lustig, wie?“

„Oh nein! Das wäre mir viel zu gefährlich. Du bist sicher eine wilde Kriegerin. Und dazu noch eine sehr hübsche. Für so etwas habe ich ein Auge.“

„Ich sollte jetzt mein Schwert ziehen und dich töten – vielleicht tu ich es auch. Wo ist dein Schwert oder kämpfst du lieber mit einer Lanze?“, fragt die Kriegerin.

„Ich habe weder Schwert noch Kampflanze – ich bin kein Krieger.“

„Was könnte ein Mann anderes sein, als ein Krieger oder Sklave! Ich sehe schon, dass dir die Gestalt eines Kriegers fehlt. Bist du zu schwach für das Waffenhandwerk?“

„Ja.“

„Du bist ehrlich, aber schämst du dich denn gar nicht?“

„Nein, nicht ein bisschen, Kriegerin“, antwortet der Regungslose, in dessen Augen ein mildes Lächeln sich ausbreiten will.

„Hast du schon jemals etwas getötet, du eigenartiges Wesen?“

„Ja, ich habe mich schuldig gemacht, hunderte von Leben in das dunkle Reich der Schatten geschickt zu haben“, antwortet der Reglose und das Lächeln beginnt sich nun

über das ganze Gesicht auszubreiten.

„Was?“, fragt die Kriegerin ungläubig. „Hunderte von Leben – in den Tod geschickt? Wer waren diese Schwächlinge?“

„Oh nein! Es war ein unbezwingbarer Gegner!“

„Nur die Darr sind unbezwingbar!“

„Es gibt einen Feind, dem auch die Darr regelmäßig ihren Blutzoll entrichten müssen.“

„Wer sollte das wohl sein. Wenn du mir die Frage nicht wahrheitsgemäß beantworten kannst, dann werde ich dich auf der Stelle mit meinem Schwert töten. Wo wohnt dieser unbezwingbare Feind?“

„Er wohnt in unseren Sümpfen in der Nähe von Flüssen und Wäldern. Überall, wo es nicht zu trocken ist. Er wohnt in Festungen, die noch niemand je erobern konnte.“

„Du bist ein Lügner!“

„Bin ich nicht!“

„Kannst du mir die Feinde nennen, von denen du Hunderte in den Tod geschickt hast?“

„Natürlich – Mücken!“

„Ich verstehe nicht!“, schnauft die Kriegerin wütend. „Es gibt kein Volk dieses Namens. Es gibt keine Mücken!“

„Dann sei froh, dass sich diese Plage noch nicht bis zu euren Lagerplätzen ausbreiten konnte. Ich sage dir, im Sommer sind die Mücken …“

„Du hast Recht, Kleiner. Ich war dumm genug, auf die Scherze eines Feiglings hereinzufallen“, beruhigt sich die Kriegerin. „Natürlich kenne ich diesen kleinen, heimtückischen und unbezwingbaren Feind, dem alle Wesen der Steppe ihren Blutzoll entrichten müssen. Sag mir, wer du bist und wie man dich nennt!“

„Ich bin der Gelbe Magier und werde hier und da auch so genannt. Manche Völker haben auch andere Namen für mich. Und noch andere Völker nennen mich auch einfach ‚Feigling’.“

„Was ist ein Magier, Kleiner? Bist du womöglich auf die gleiche versteckte Art wie die Mücken gefährlich? Bist du vielleicht ein Zauberer?

„Nein, kein Zauberer.“

„Dann sprichst du vielleicht manchmal mit den Geistern der Verstorbenen?“

„Nein, nicht mit Verstorbenen und auch nicht mit Geistern.“

„Dann sag mir, Kleiner, was mich daran hindern könnte, dich auf der Stelle zu töten?“

„Nun, das kann ich selbst und ohne Magie verhindern“, antwortet der Gelbe.

„Dann tu es doch!“, ruft die Kriegerin ungeduldig und ihre Hand schnellt zur Schulter, um nach dem Schwert zu greifen. So schnell die Hand auch zum Schwertgriff zuckt, noch schneller hat der Gelbe seinen gespannten Bogen zur Hand und der angelegte Pfeil weist Tod verheißend auf ihren Leib. Die Kriegerin ist klug genug zu erkennen, dass sie den Gelben unterschätzt hat.

„Ich glaubte, der Bogen sei nur ein Spielzeug, aber kannst du damit auch ein Ziel in der Ferne treffen?“

„Möchtest du die beiden Kriegerinnen, die dort draußen in der Steppe auf dich warten, tot von ihren Pferden auf den grünen Boden stürzen sehen?“

„Nein, die sind doch außerhalb der Reichweite deines Bogens. Siehst du den Adler, der seit einiger Zeit hoch über unseren Köpfen kreist? Bitte ihn mit einem Pfeil zu Boden und ich werde dir meinen Respekt nicht versagen.“

„Ich schieße nicht auf Vögel – besonders nicht auf diesen!“

„Warum nicht auf diesen, Gelber?“

„Er ist mein Freund und kreist nur über uns, weil er auf mich wartet …“

„Du bist ja total verrückt, Gelber. Kannst du wohl auch mit dem da oben sprechen?“

„Ich höre Spott in deiner Stimme, Kriegerin.“

„Wie willst das anstellen?“

„Schon vergessen, Kriegerin? Ich bin der Gelbe Magier.“

„Würdest du deinen Freund zum Beweis deiner Magie für mich herunterholen, damit ich ihm eine Frage stellen kann. Wenn der Vogel herunterkommt und die richtige Antwort weiß, dann werde ich mich für meinen Spott bei dir entschuldigen.“

„Ich bin einverstanden, Kriegerin. Er kann dir aber nur Dinge verraten, die er sehen kann. Rufe auch deine beiden Kriegerinnen dazu, damit sie dir später als Zeugen dienen können. Oder fürchten sie sich?“

Die Kriegerin ist einverstanden und galoppiert zu ihren beiden Begleiterinnen zurück. Der Gelbe sieht die drei eine Weile intensiv miteinander tuscheln und schließlich kehren sie zu dritt zum Gelben Magier zurück.

„Bin neugierig, wie du den Vogel herunterrufen willst. Also fang an!“

Der Gelbe schaut kurz zu dem über ihm kreisenden Adler und streckt ruhig seinen Arm aus. Unter den Blicken der sprachlos staunenden Kriegerinnen sinkt der große Greifvogel im Gleitflug auf den ausgestreckten Arm des Gelben.

„Stelle deine Frage, Kriegerin, damit ich sie meinem Freund mitteilen kann. Er kann ebenso wenig mit dir reden, wie du mit ihm. Ich stelle das Bindeglied zwischen dir und dem Vogel dar.“

„Wir erwarten hier jemanden. Der Vogel soll mir sagen, ob er die Erwarteten sieht und erkennen kann.“

Der Gelbe ahmt so täuschend ähnlich den Schrei eines Adlers nach, dass in keiner der misstrauisch beobachtenden Kriegerinnen auch nur der leiseste Zweifel aufkeimt, es könnte etwas anderes sein, als ein Befehl an den Adler in seiner Sprache.

Der Adler antwortet dem Gelben mit einem ähnlich klingenden Schrei und schießt dann pfeilschnell in den blauen Frühlingshimmel hinauf und kreist eine Weile im Schwebeflug über der Steppe. Als der Gelbe wieder seinen Arm ausstreckt, setzt der Greifvogel gehorsam zum Landeanflug an.

„Nun, was hat er gesehen?“

„Er wird nicht eher mit mir reden, Kriegerin, bevor du ihm deine Fleischvorräte ausgehändigt hast.“

„Wann hat er das gesagt?“

„Bevor er losgeflogen ist.“

Wortlos schreitet die Kriegerin zu ihrem Pferd und greift nach einem Lederbeutel, der auf dem Rücken des Reittieres befestigt ist. Sie entnimmt dem Beutel ein großes Stück vorgebratenes Fleisch und legt es auf den Steppenboden nieder. Drei wilde Schreie stößt der Adler aus und stürzt sich auf das Fleisch, ergreift es mit scharfen Krallen und schießt dann hoch hinauf in sein luftiges Reich.

„Hat er mit dir gesprochen, Gelber?“

„Ja. Er hat schlechte Nachrichten. Ich kann kaum verstehen, was er mir mitgeteilt hat.“

„Vielleicht kann ich es ja, Kleiner. Rede endlich.“

„Er sagte, er habe zwei Gruppen von Reitern gesehen. Eine kleinere, die der größeren vorauseilt und in kurzer Zeit wohl hier, wo wir uns gerade befinden, eintreffen wird. Es scheint, als wären es Krieger, fremde Krieger, wie sie hier noch nicht gesehen wurden. Sie sind mit Schwertern, Kriegsbögen und Schilden bewaffnet.“

„Was hat er noch gesehen? Woher kennt er Kriegsbögen.“, fragt die Kriegerin kritisch.

„Natürlich kennt er keine Kriegsbögen. Er teilt mir mit, was er sieht und ich muss versuchen, Sinn in das, was er sieht, zu bringen“, antwortet der Gelbe vorsichtiger. „Wer mögen die fremden Krieger wohl sein?“

„Das geht dich nichts an, Gelber. Jedenfalls sind es Freunde.“

„Freunde, denen ihr nicht zu trauen scheint!“

„Wie kommst du darauf?“

„Ihr reitet euren Freunden voller Misstrauen entgegen. Sicher sind noch etliche eurer Kundschafter in der Steppe, die genau beobachten sollen, ob die fremden Krieger vielleicht Verrat planen. Mich würde es nicht wundern, wenn es Krieger des Kaisers wären, die sich uns nähern und mittlerweile schon sehr nahe an uns herangekommen sind.“

„Wenn du so schlau bist, Gelber, dann ist es dir nicht entgangen, dass einige von uns bereits die Waffen des Kaisers tragen. Der Kaiser ist unser Freund, mit dem wir uns verbünden werden.“

Die kleine Vorhut der kaiserlichen Krieger hat sich dem Standort des Gelben und der drei Kriegerinnen bis auf etwa zweihundert Schritte genähert. Der Führer dieser kleinen Vorhut bringt sein Pferd in den Stand und die ihm folgenden Krieger tun es ihm gleich.

Der Gelbe greift ruhig nach seinem Bogen und legt schnell und geübt einen Pfeil nach dem anderen auf die Sehne und schickt den fliegenden Tod den Soldaten des Kaisers entgegen. Der Totengott kann sein Maul nicht so schnell aufreißen, wie die Pfeile des Gelben ihm die Geister der tödlich getroffenen zuführen.

„Jetzt ist der Kaiser nicht mehr euer Freund!“, erwidert der Gelbe und schaut lächelnd den wenigen übrig gebliebenen Kriegern der Vorhut hinterher, die der gefräßige Gott des Todes nicht so schnell verschlingen konnte, wie die Flucht die Überlebenden von dem Ort des unerwarteten Angriffs forttreibt.

Regungslos hatte die Kriegerin in ungläubigem Staunen dem Gelben bei seinem blutigen Handwerk zugesehen.

„Du hast gerade einen großen Krieg begonnen“, flüstert die Kriegerin sofort begreifend. „Einen Krieg mit ungewissem Ausgang, gegen einen nur schwer zu besiegenden Feind – ich werde dich töten müssen!“, haucht die Kriegerin in tonlosem Flüstergespräch, greift nach ihrem Schwert, bringt es aber nicht aus dem Waffengurt heraus.

„Was ist?“, rufen ihre beiden Begleiterinnen, „Zieh doch endlich dein Schwert, Schwester, und kämpfe!“

„Es geht nicht!“, keucht die Kriegerin, „Das Schwert sitzt so fest, als wäre es mit seiner ganzen Klinge tief in einen Felsen gerammt.“

„Das ist das Werk böser Geister oder dieses lächerlichen Magiers. Wir helfen dir!“, rufen die beiden entschlossen. Auch ihre Hände fahren zu den Schwertern, die sie ebenfalls in Waffengurten auf dem Rücken tragen.

Als wäre an diesem milden Frühlingstag plötzlich ein wilder Herbststurm über die Steppe hergefallen, der mit seiner Sturmgewalt alles vor sich hertreibt und durcheinander wirbelt, so werden die beiden Kriegerinnen von Kräften erfasst, die sie mitsamt ihren Pferden spielend leicht zu Boden werfen.

„Magier“, keuchen die drei Kriegerinnen, „bist du das mit deinen Zauberkräften?“

„Nein, das ist das Werk der bösen Geister, die sonst nur in der Dunkelheit die Steppe unsicher machen. Hütet euch vor ihrem Zorn. Sie sind meine Freunde.“

„Der Rest des Spähertrupps wird mit Verstärkung hier wieder auftauchen. Wir reiten sofort zurück zu unserem Kriegslager und du, Gelber, wirst uns begleiten. Wir werden einen größeren Abstand zu dir einhalten, so dass es dir hoffentlich sehr schwer wird, deine magischen Kräfte gleichzeitig auf uns Kriegerinnen einwirken zu lassen. Vielleicht ist die Reichweite deiner magischen Kräfte auch gar nicht so groß, wie es unser Abstand von dir sein wird. Wir werden es in jedem Fall ausprobieren!“

„Du bist wahrhaftig nicht dumm“, murmelt der Magier anerkennend und für die Kriegerin unhörbar vor sich hin, „und schon ziemlich dicht an der Wahrheit. Für meinen Geschmack bist du aber zu neugierig. Probiert soviel ihr wollt – ich werde mich bemühen, eurer Neugierde Grenzen zu setzen!“

„Nun beeil dich schon!“, drängt die Kriegerin den Gelben mit lauter Stimme.

„Wir haben keine Eile, Kriegerin.“

„Das bestimmst nicht du, Magier. Wir werden mit Pfeilen auf dich schießen, wenn du nicht kooperierst!“

„Bin neugierig, Kriegerin, ob ihr drei schneller schießt und trefft als ich. Ihr werdet tot auf dem schönen grünen Gras liegen und ich werde wieder allein sein.“

„Willst du unbedingt mit der Hauptgruppe der Krieger zusammenstoßen? Sie werden nicht lange reden, sondern dich und auch uns sofort umbringen. Es müssen neue Unterhändler zum Kaiser geschickt werden, um deinen Fehler wieder gut zu machen. Wärst du nicht so voreilig, dann wärst du als Bogenschütze vielleicht sogar ein ganz brauchbarer Krieger.“

„Ich war weder voreilig, noch habe ich einen Fehler gemacht, Kriegerin.“

„Das – das verstehe ich nicht.“

„Oh doch. Ich sehe es an deinem erschreckten Gesichtsausdruck, dass du genau verstanden hast.“

„Dann lass uns sofort zu unserem Kriegslager aufbrechen – es ist noch nicht zu spät!“

„Es ist bereits zu spät, Kriegerin. Ich habe dir vorhin nicht die ganze Wahrheit gesagt. Der Haupttrupp der Krieger des Kaisers ist nicht zusammengeblieben. Sie hatten sich längst aufgelöst und uns eingekreist, als der Adler mir Bericht erstattet hat.“

„Und du hast dennoch die Dummheit besessen, die heraneilende Vorhut mit deinen Pfeilen zu beschießen. Gerade habe ich angefangen, meine schlechte Meinung von dir als Krieger zu ändern. Nun weiß ich, dass du ganz offensichtlich dumm bist oder alle Freude am Leben verloren hast. Warum nur musstest du uns Kriegerinnen in deine Dummheiten mit einbeziehen? Sag ehrlich, Magier, ist es deine Absicht, Zwietracht zwischen dem fernen Kaiser und dem obersten Häuptling der Darr zu säen?“

„Du bist klug, Kriegerin – ja, dies war und ist noch immer meine Absicht.“

„Ha und Ho“, wendet sich die Kriegerin an die beiden anderen, „haltet Ausschau nach den Kriegern des Kaisers. Ich will wissen, ob der Magier die Wahrheit sagt. Und du, Magier, erklärst mir unterdessen, wie du den Häschern des Kaisers entkommen willst. Ich kann mir ja nicht wirklich vorstellen, dass du des Lebens überdrüssig bist.“

„Die Namen der beiden Kriegerinnen, die wohl deine Schwestern sind, hast du eben genannt. Ich habe mich dir schon bekannt gemacht. Sage mir nun noch deinen Namen, damit ich weiß, mit wem ich das Vergnügen, das uns erwartet, teilen darf.“

„Ich bin die dritte von drei Schwestern und werde He gerufen. Dies sind Abkürzungen unserer Namen. ‚He’ steht für ‚Morgensonne’, ‚Ho’ für ‚Mittagssonne’ und ‚Ha’ für ‚Abendsonne’. Zufrieden?“

„Ja“, lächelt der Magier, „du scheinst sehr einfallsreiche Eltern zu besitzen.“

Ha und Ho sind nach kurzem Kundschaftergang schnell zurückgekehrt. Sie bestätigen die Anwesenheit der Krieger des Kaisers, die, wie vorausgesagt, um die Kriegerinnen und den Magier einen Belagerungsring gelegt haben. Jede Aussicht auf ein Entkommen scheint ausgeschlossen zu sein.

„Es nähert sich einer der Soldaten des Kaisers“, flüstert Ho und Ha ergänzt, „Er scheint unbewaffnet zu sein. Ich glaube, er will mit uns reden.“

„Wo ist der Magier?“, flüstert Ho, „Wenn wir ihn ausliefern, dann haben wir eine gute Chance zu entkommen!“

„Ich bin mir sicher, dass He wieder ganz anderer Meinung ist. Wir ...“

Bevor die Schwestern in einen Streit geraten können über ihre verschiedenen Ansichten, wird der Streit durch das Eingreifen des Magiers unwiderruflich entschieden. Keine der drei Kriegerinnen kann sich erklären, wie der Magier von ihnen unbemerkt, sich ihrer Bewachung entziehen konnte. Die allmählich einsetzende Dunkelheit beflügelt die Phantasie der beiden älteren Schwestern, während He, die Jüngste von ihnen, wortlos auf dem Boden hockt.

„Er wird uns nicht glauben, dass der Magier uns entkommen ist. Er wird uns nicht einmal glauben, dass ein Magier hier seine Hände im Spiel hat. Sie werden uns töten. Sie warten nur auf die Dunkelheit, um uns umso mehr in Furcht und Schrecken zu versetzen. Wenn wir den Boten gleich töten, dann haben wir jedenfalls einen Feind weniger.“

In den Augenblick des Schweigens, der auf die Meinungsäußerung der ‚Morgensonne’ folgt, dringt der leise Hauch eines schnell fliegenden Pfeils, der zielgenau auf den Boten der kaiserlichen Krieger zufliegt, mit einem kaum hörbaren Aufschlaggeräusch in den Oberkörper des Ahnungslosen eindringt und den Rumpf des Opfers in ganzer Länge durchbohrt.

„Nun, wir müssen uns im Augenblick nicht über ‚richtig’ und ‚falsch’ streiten. Der Magier hat für uns entschieden. Haltet euch bereit, Schwestern, ehrenvoll zu sterben.“

Im Augenblick der Ermahnung der „Morgensonne“ an die Schwestern, beginnen die Soldaten des Kaisers mit der ersten Phase ihres Angriffs. Ein dichter, nicht enden wollender Pfeilhagel fällt auf die drei Kriegerinnen, die der aufprallenden Wucht nicht lange standhalten können und sie zum Rückzug in die dichten Büsche zwingt.

Während die drei Kriegerinnen mit ihren Schilden noch versuchen sich der Wucht des aufschlagenden Pfeilhagels entgegenzustemmen, beginnt der Magier seinerseits den Gegenangriff. Von allen Seiten lässt er lang gestreckte, graue Schatten durch die dunkle Steppe fliegen, die lautlos den Tod in die Reihen der Krieger des Kaisers tragen. Neben dem frei in der Dunkelheit stehenden Magier steht ein solcher grauer Schatten zu scheinbarer Regungslosigkeit erstarrt. Seine Augen und die Augen all der Grauen, die hierhin und dorthin durch die Dunkelheit der Nacht huschen, sehen noch klar und deutlich, wo die Augen der Krieger vergeblich die Dunkelheit zu durchdringen versuchen. Die zunehmende Dunkelheit, als Schrecken für die Kriegerinnen gedacht, trägt nun den Schrecken in die eigenen Reihen der kaiserlichen Krieger, denen es schließlich trotz der unaufhörlichen Angriffe der grauen Schatten gelingt, rings um die belagerte Gruppe aus Büschen und vereinzelten Felsen einige Feuer zu entzünden.

Hatte der Magier in der Dunkelheit sich auf Augen, Ohren und Nase seines grauen Freundes verlassen müssen, um einen Todesboten nach dem anderen ins Ziel zu senden, so kann er nun die im Feuerschein deutlich erkennbaren Feinde direkt mit seinen Pfeilen dem Totengott in die weit geöffneten Arme treiben.

Längst haben auch die kluge He und ihre Schwestern erkannt, dass die Geister der Steppe ihnen unerwartet zu Hilfe geeilt sind. Mit ihren Bögen wehren sie die wenigen zu ihnen vordringenden kaiserlichen Krieger erfolgreich ab. Der größte Teil der Soldaten des Kaisers liegt schließlich hingestreckt auf dem grünen Steppenboden, jeder dort, wo der Tod ihm beschieden hat, den Weg in die ewige Dunkelheit anzutreten.

„Das habt ihr Grauen gut gemacht, mein Freund. Fast wärt ihr zu spät gekommen“, flüstert der Magier dem Grauen ins Ohr, als der kurze, doch mit aller Härte geführte Kampf sich dem Ende zuneigt.

„Viele von euch habe ich fallen gesehen und eure geschundenen Leiber sehe ich in großem Durcheinander zwischen Freund und Feind liegen. Doch will ich dafür Sorge tragen, dass eure Leiber, die der Mutter Erde entsprungen sind, friedlich in ihren Schoß zurückkehren sollen.“

„Diese fremden Krieger, diese Grauen, die wie dunkle Schattenwesen sich gleich Geistern durch die Steppe bewegen, kämpfen genauso tapfer, wie die Krieger der Darr. Wem aber verdanken wir die Hilfe jener Grauen, die wir sonst hetzen und jagen, weil sie über unsere Herden herfallen?“, überlegt He leise und die Schwestern flüstern zurück:

„Und wo kommt der Magier plötzlich her. Weder höre ich, noch sehe ich ihn kommen oder gehen. Er kommt und geht wie ein Steppengeist, der für die Augen aller sterblichen Wesen stets unsichtbar durch die Lüfte fliegt“, flüstert He, die sich einmal mehr an den Magier wendet:

„Wir dachten, du seist unser Gefangener, Magier. Aber du denkst gar nicht an Flucht. Was willst du von den Darr – und wer bist du wirklich? Alles, was du tust und sagst ist widersprüchlich. Ich vermute, du wirst uns freiwillig zu unserem Kriegslager begleiten. Was aber machen wir mit den toten Kriegern des Kaisers?“

„Nun, wir machen mit ihnen, was sie mit ihren Feinden tun. Raubt ihnen die Waffen, ihre Pferde und lasst sie einfach liegen – zur Abschreckung und Warnung an den Kaiser.“

„Was willst du von der Beute, Magier?“

„Euch gehören, nach dem Recht der Steppe, die Waffen und Pferde von den Toten, die von eurer Hand den Tod empfangen haben.

Ich beanspruche die Waffen und Pferde der Krieger, die durch meine grauen Freunde und durch meine Pfeile den Tod empfangen haben sowie alle Fleischvorräte, mit denen die Soldaten des Kaisers stets im Überfluss ausgestattet sind, als Kriegslohn für meine Grauen, von denen viele mit ihrem Leben bezahlt haben, als sie euch zu Hilfe eilten.“

„Wir Darr sind Krieger und Räuber, wir handeln nicht – doch bin ich einverstanden.“

„Du bist noch jung, He, und ich frage mich, ob eure erfahrenen Krieger und Räuber sich deiner Entscheidung, was die Verteilung der Beute betrifft, fügen werden? Vor allem könnte doch Mokk, der Kriegshäuptling, deinen Beschluss aufheben.“, denkt der Magier schon an die kommenden Tage, an denen er auf Mokk treffen wird, doch die Kriegerin antwortet ihm nicht darauf.

„Ich vermute, du willst ein Bündnis mit den Darr, wie jener tapfere Krieger, dem die Armee des Kaisers alles genommen hat, was man einem tapferen Krieger nur nehmen kann:

Alle Krieger getötet, alle Bewohner des Dorfes getötet, in dem er mit seiner Familie glücklich gewesen sein soll. Die Ehre genommen durch die schändliche Pfählung des Familienoberhauptes, seines Vaters. Dann kam er zu uns, verlacht als Ein-Mann-Armee, verhöhnt und gedemütigt vom obersten Häuptling der Darr und einigem Gesindel, das auch zu unserem Volk gehört. Schlimm genug muss ihn zuvor schon der Tod seines Sohnes getroffen haben, der bei den Gor sich den Ruf äußerster Tapferkeit erworben hat. Er hat mir leidgetan, der Kommandant, der mit gesenktem Haupt unser Dorf verlassen hat. In seinen Augen sah ich es kurz auf eine furchtbare, feindselige Weise aufblitzen. Der wird zumindest dem Kriegshäuptling noch einmal gegenüber stehen, wenn nicht sogar mit einer neuen Armee dem ganzen Volk der Darr.“

„Dann kam er wohl mit leeren Händen.“

„Ja. Es ist Sitte in unserem Volk, nichts zu tun, was uns nicht den größten Gewinn bringt. Dafür darf uns niemand verurteilen. Aber wir wollen jetzt schlafen. Mit dem ersten Morgengrauen werden wir zu unserem Lagerplatz aufbrechen.“

Der Magier wälzt sich unter seinem Schlaffell ruhelos hin und her. Er findet in dieser Nacht keinen Schlaf.

„Magier“, hört er den Hauch eines Flüsterns zu sich wehen, „Ich bin es, He.“

„Was willst du von mir“, flüstert der Angesprochene leise zurück.

„Lass mich zu dir unter das Schlaffell – ich will mit dir reden.“

„Nein, auf gar keinen Fall.“

„Ich will wirklich nur reden, nichts anderes!“

„Dann lass uns ein Stück in die Steppe gehen.“

Die beiden gehen schweigend durch die dunkle, nur von dem schwachen Licht der Sterne erleuchteten Steppe.

„Ich habe dich genau beobachtet, Magier, und ich habe über dich nachgedacht. Wenn ich nicht genau wüsste, dass der Bogenschütze genannte fremde Krieger bei den Gor ums Leben gekommen ist, dann würde ich denken, du wärst der Bogenschütze, der wie du einen riesigen, grauen Wolf zum Freund hatte. Und noch etwas ist mir aufgefallen, Magier.“

„Und was wäre das, He?“

„Wir Darr sind nicht blind, Magier, und wir sind auch nicht dumm. Deine Augen, die habe ich schon einmal gesehen.“

„Wo wäre das gewesen?“

„Ich musste eine Weile nachdenken, bis es mir einfiel. Es war in unserem Kriegslager.“

„Unmöglich! Da bin ich noch niemals gewesen!“

„Das ist wahr – und doch irre ich mich nicht. Es waren die Augen des Kommandanten, der alles verloren hatte und sich dennoch um ein Bündnis mit meinem Volk bemüht hat. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich denken, du wärst der Sohn dieses Kriegers. Wie dem auch sei, Magier, ich will dich nicht drängen. In meinem Stamm gibt es aber viele scharfe Augen, die zu klugen Köpfen gehören.“

„Ich verstehe nicht, was du mir mitteilen willst, He.“

„Oh doch, du verstehst sehr genau. Kommt wieder ein Huang mit leeren Händen in unser Kriegslager, dann ist es sein Tod.“

„Wer immer dir über den Bogenschützen oder über den Sohn des Kriegers berichtet hat – hat er dir jemals von magischen Kräften berichtet?“

„Jedenfalls nichts, was ich nicht der Phantasie der Berichtenden zugeschrieben habe.“

„Vielleicht verstehst du, dass ein Magier niemals mit leeren Händen kommt. Warte ab, was er dich an wunderbaren Dingen sehen lassen wird. Danach entscheide, mit wem du es zu tun hast – mit dem Sohn des Kommandanten, mit dem Bogenschützen oder vielleicht doch mit einem Dämon. Hab nur ein wenig Geduld und ziehe keine voreiligen Schlüsse. Lass uns jetzt zu unserem Lagerplatz zurückkehren.“ _

Der Ritt zum großen Kriegslager der Darr, das etwa vier Tagesritte entfernt ist von der Stelle, an der die drei Kriegerinnen der Darr auf den Gelben Magier gestoßen sind, verläuft ereignislos. Die junge Kriegerin hatte darauf bestanden, dass der des Reitens kaum mächtige Magier den Weg zum Kriegslager der Darr auf dem Pferd des gefallenen Anführers der kaiserlichen Krieger zurücklegt.

„Die Darr“, belehrt sie den Magier, „beurteilen dich, wie jeden anderen auch, nach deinem Pferd und deinen Waffen. Selbst wenn du gleich einem Dämonen unsichtbar durch die Luft geflogen kämst – ohne ein Pferd bist du bei uns ein Nichts. Wenn du schon kein Schwert besitzt und nicht einmal im Besitz einer Kampflanze aus Holz bist, dann musst du wenigstens über ein edles Pferd verfügen.“

„Aber es ist wild, dieses Pferd. Es wird mich abwerfen. Sieh nur, mit welchen wilden Augen es zu mir blickt. Es erlaubt mir sicher nicht, seinen Rücken zu besteigen. Schon gar nicht wird es mich freiwillig durch die Steppe tragen.“

„Dann rede doch mit dem Tier, stolzer Magier. Bitte es freundlich, nett zu dir zu sein!“, höhnt die Kriegerin und ihre beiden älteren Schwestern lachen laut und prustend vor Vergnügen.

Als der Magier sich vorsichtig dem temperamentvollen Pferd nähert, beginnt das Tier nach dem Magier zu schnappen und mit den Vorderläufen hochzusteigen.

Als der Wolf sich nähert, um Beistand zu leisten, läuft es von Panik ergriffen im Galopp in die Weite der Steppe davon.

Die drei Kriegerinnen fallen in ein nicht enden wollendes, kreischendes Gelächter über so viel Ungeschicklichkeit und über die Ratlosigkeit im Gesicht des Magiers.

„Es hat mich gesehen, wie ich mit meinem Bogen seinen Herrn getötet habe. Nur deswegen verhält es sich so unbändig“, murmelt der Magier und überlegt, wie er mit seinen mentalen Kräften auf die Furcht des Pferdes einwirken könne. Regungslos steht er mit geschlossenen Augen in der Steppe. Die drei Kriegerinnen beobachten mit angespannter Neugierde, auf welchen Wegen der Ungeschickte den Widerstand des Tieres brechen würde.

„Er wird doch nicht im Stehen einschlafen“, spottet Ho, „und womöglich im Schlaf umfallen und sich verletzen“, lacht ihre Schwester Ha.

„Seid doch endlich ruhig!“, zischelt die jüngste der drei Schwestern, „Ich bin sicher, er schafft auf seine ruhige Art, was wir nur mit Gewalt erreichen könnten.“

Als die Sonne zwei Handbreiten höher gestiegen ist auf ihrer täglichen Bahn ihrem Zenit entgegen, nähert das Pferd sich dem weiterhin reglos Dastehenden, bleibt schließlich schnaubend, sich vor dem Wolf ängstigend, stehen. Wie auf ein stilles Kommando, weicht der Wolf zurück und das Pferd nähert sich soweit, das der Magier mit der Hand nach ihm greifen könnte – doch er tut es nicht. Gebannt beobachten die drei Kriegerinnen, wie das Pferd schließlich mit seinen Nüstern die Hand des Magiers berührt.

„Der Wolf kommt zurück“, flüstert Kriegerin Ha, „und wird das Pferd wieder verjagen“, vollendet Ho den Satz.

Ganz langsam bewegt der Wolf sich auf den wie versteinert dastehenden Magier und auf das ängstliche Pferd zu, das den Wolf nicht aus den Augen lässt. Nach und nach nähert sich der Wolf Schritt für Schritt dem Pferd, das zitternd dem Raubtier entgegenblickt. Eine Handbreit sind Nüstern und Wolfsnase noch von einander entfernt und der Wolf schiebt sich Fingerbreite um Fingerbreite immer dichter an das zunehmend aufgeregter reagierende Pferd heran. Behutsam lässt der Wolf schließlich seine Zunge über Nüstern und Gesicht des Pferdes fahren und zieht sich langsam wieder zurück. Von einem Augenblick zum nächsten hört das Pferd auf zu zittern, hebt schwungvoll den Kopf in die

Höhe und ein leises Wiehern unterbricht die atemlose Stille, die wie ein dichter Schleier sich über Pferd, Wolf und Magier gelegt hatte.

Der Magier öffnet die Augen und seine Hand greift in die lange, weiche Pferdemähne und dann steigt er auf den Rücken des Pferdes, das es willig geschehen lässt.

„Wir werden gleich unser Kriegslager erreichen, Magier“, unterbricht He die beschauliche Stille, in die der Magier in Gedanken versunken gefallen war. Er schien es gar nicht zu bemerken, dass die drei Kriegerinnen ihn Tag um Tag anstarrten, als hätte er seinem Pferd Flügel wachsen lassen und ritte nun durch die Luft dem Lager entgegen.

„Nun kann er endlich aufhören zu träumen“, flüstert Ho, „und sich endlich mit normalen Kriegern unterhalten“, ergänzt Ha.

„Sollen wir vorausreiten, He“, ruft Schwester Ho fragend, „und unseren gefangenen Magier ankündigen?“, ergänzt Ha die Frage.

„Ja, fort mit euch. Sagt dem Vater aber nur, dass wir den Magier als unseren Gast mitbringen“, lächelt die jüngste der drei Schwestern und als die beiden sich auf den Weg gemacht haben, wendet sie sich noch einmal an den Magier.

„Die beiden unzertrennlichen schwätzen und plaudern den ganzen Tag, sie teilen alles miteinander. Sogar auf dem Schlachtfeld können sie es nicht lassen, zu schwätzen und zu plappern.“

„Ich bin vom Gefangenen zu deinem Gast geworden. Was bedeutet das?“

„Das bedeutet, dass ich dir mit meinem Wort für deine Sicherheit bürge. Unsere Krieger sind ein raues Volk, immer gewaltbereit und von unersättlicher Habgier getrieben. Vielen aber gilt die Ehre als Krieger als noch höheres Gut, als Habgier und Reichtum.“

„Warum sollten eure Krieger sich ausgerechnet dir zur Einhaltung deines Wortes verpflichtet fühlen?“

„Unser oberster Kriegshäuptling, Häuptling Mokk vom Stamm der Raubvögel, hat vier Kinder – einen Sohn, der als nachfolgender Häuptling den Namen seines Vaters führen wird und bis dahin nur ‚Sohn des Mokk’ genannt wird – und drei Töchter, von denen ich die jüngste bin.“

„Hm“, brummt der Magier überrascht, „ich glaube nicht, dass irgendetwas dadurch leichter wird – warum sollte ein Vater und Häuptling sich durch das Wort seiner Tochter verpflichtet fühlen…?“

Der Gelbe Kaiser

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