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Im Lager der Darr

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Ein in seiner Ausdehnung kaum zu überblickendes System von Zeltreihen – die in ihrer Anordnung lange und breite, sich rechtwinklig kreuzende Wege durch das Kriegslager bilden, bis hin zu kleinen Gängen und Gassen, die sich in alle Richtungen verzweigen – ist erstes Zeugnis eines gut organisierten Militärapparates. Wie vor jedem Kriegszug der Darr, herrscht im Lager bei allen Kriegern ausgelassene Stimmung, wie sie nur aus der Quelle einer unerschütterlichen Siegeszuversicht fließt. Überall sieht der Magier auf großen Plätzen in und um das Kriegslager herum Krieger und Kriegerinnen, beim täglichen Training mit ihren Waffen.

„Ich beginne zu verstehen, was euch den Ruf der Unbesiegbarkeit eingebracht hat“, bemerkt der Magier anerkennend. Neugierig ruht sein Blick auf einer Gruppe von Bogenschützen, die einen Wettstreit auszutragen scheinen.“

„Ist es erlaubt, sich am Bogenschießen der Krieger dort zu beteiligen, Kriegerin He?“

„Du weißt gar nicht, worauf du dich einlässt, Magier!“, versucht He noch zu warnen.

„Ich weiß sehr wohl, worauf ich mich einlasse, wenn es um das Bogenschießen geht“, missversteht der Magier die Warnung und gesellt sich zu den Bogenschützen.

„Seht euch den Zwerg an, der mit uns in den Wettbewerb treten will! Was ist dein Einsatz, wenn du verlierst?“, schreit unter dem Gejohle seiner Kameraden einer der Krieger, dessen Körpermaße allerdings an eine ausgewachsene Eiche erinnern.

„Ich setze meinen Bogen, dass ich gewinne – seid ihr einverstanden?“, fragt der Bogenschütze den Bogen anhebend und das Ziel anvisierend. „Ich ziele nur auf die Hörner der Ziege, die nicht von meiner Hand sterben soll!“, ruft er noch, den Bogen spannend. Doch er kommt nicht mehr zum gezielten Schuss. Für den Magier findet der Wettkampf der Bogenschützen ein jähes Ende, als er vom Schlag einer Kampflanze am Kopf getroffen das Bewusstsein verliert und zu Boden stürzt.

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Als der Magier wieder zu sich findet, liegt schon die Dunkelheit einer mondlosen Nacht in der Steppe. An der verbrauchten Atemluft erkennt der Magier, dass er in einem Zelt liegt, das nicht dem geringsten Sternenfunkel Zutritt in das Innere erlaubt.

Neben sich hört er es schwer atmen, kann aber nicht klar erkennen, ob ein Mensch oder ein größeres Tier die Atemgeräusche verursacht.

„Bist du es?“, fragt er flüsternd und er erschrickt, als eine Frauenstimme antwortet.

„Ja, ich bin es“, piepst es zurück.

„Wer bist du?“

„Ich bin deine Frau.“

„Du irrst dich, du bist ein dummes Ding. Du hast dich im Zelt geirrt – ich bin nicht dein Ehemann!“

„Ich bin nicht dumm und ich habe mich auch nicht im Zelt geirrt – Du bist der Magier! Nach den Gesetzen der Darr bist du jetzt mein Ehemann, der für mich sorgen muss!“

„Wie heißt du?“

„Alle nennen mich nur verächtlich ‚Fleischberg’“ piepst es zurück. Der Magier begreift sofort.

„Du bist die dicke Frau, die aus Hohn und Spott vorbeikommenden fremden Kriegern als Frau angeboten wird. Das tut mir leid für dich, aber ich kann mir weder eine dicke noch eine dünne Frau leisten. Habe nicht einmal Zeit für eine Frau.“

„Das nützt dir nichts, die Krieger haben es so beschlossen und Häuptling Mokk hat zugestimmt. Mein Ehemann kann mich verstoßen, wenn ich die Nacht mit einem anderen Mann verbringe. Haben wir nicht die Nacht miteinander verbracht?“, piepst es in die Ohren des Magiers.

„Ist es nicht entwürdigend, so behandelt zu werden, wie du behandelt wirst?“

„Ich habe mich daran gewöhnt, gedemütigt zu werden, Magier.“

„Könntest du dich auch daran gewöhnen, von deinem richtigen Ehemann mit Respekt behandelt zu werden? Würde dir der Gedanke an Rache schwer fallen?“

„Wundervoll wäre das, Magier“, seufzt die Piepsstimme, „aber mein Ehemann wird nicht nur mich, sondern auch dich verprügeln – du kennst ihn ja schon. Der Krieger, der dir die Lanze auf den Kopf gehauen hat.“

„Na, das trifft sich gut. Mit dem habe ich noch eine Schuld zu begleichen … Weißt du, wer meinen Bogen und mein Pferd an sich genommen hat?“

„Ja, beides gehört nun Mokk“, flüstert Fleischberg.

„Ich muss jetzt fort“, flüstert der Magier der Dicken zu.

„Du bist doch gefesselt und auch ohne Fesseln könntest du nicht von hier fliehen“, flüstert die Dicke.

„Oh, das hätte ich fast vergessen“, lächelt der Magier in die undurchdringliche Dunkelheit, „wäre ich doch fast geflohen, ohne mich vorher zu befreien.“

„Magier!“, ruft die Dicke noch, doch der hat das Zelt in der Art eines echten Magiers längst verlassen.

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Vor dem ersten Morgengrauen ist der Magier zurück im Zelt. Geduldig erwartet er das erste Licht des neuen Tages, mit dem auch die Wächter in das Zelt treten würden.

„Wer hat dir die Fesseln abgenommen?“, fragt der Wächter harsch, als er in das Zelt tritt und den Gefangenen ungefesselt erblickt. „Rede, du Hund, oder ich trete dich, dass dir das Blut aus deinem Maul läuft!“

„Wenn du so unhöflich bist, Wächter, dann rede ich gar nicht mit dir. Wenn du mich aber freundlich um meine Erlaubnis bittest, dann darfst du mir auch neue Fesseln anlegen.“

„Warum sollte ich einen gefangenen Hund wie dich um Erlaubnis bitten!“, lacht der Wächter, „soll ich dich vielleicht mal mit meiner Lanze kitzeln? Der Häuptling will dich sehen und er hat richtig üble Laune. Ich sage dir, das wird ein Spaß. Ich habe nicht viel Zeit, weil der Häuptling wartet – also lass dir freundlicherweise Fesseln anlegen!“

Der Magier lässt sich erneut in Fesseln legen und der Wächter führt ihn zum Häuptling, dessen böse blitzende Augen allerdings von einer so schlechten Laune zeugen, dass der Wächter ihn kaum anzusprechen wagt.

Mokk schaut dem Magier eine Weile in das jungenhaft lächelnde Gesicht und fragt ihn schließlich:

„Trinkst du noch Milch aus deiner Mutter Brust? Du hast den Körper eines Kindes, das Gesicht eines Einfältigen und dein Verstand scheint auch nicht dem eines normalen Kriegers zu entsprechen – was bei allen Steppengeistern hast du in meinem Kriegslager zu suchen?“

„Nichts.“

„Was heißt nichts? Antworte richtig, sonst lasse ich dich auspeitschen!“

„Ich suche nichts, was ich schon gefunden habe.“

„Und was hast du gefunden, du Kind?“

„Nun – dich.“

„Warum hast du mich denn gesucht, du Hund? Wer hat dir erlaubt, nach mir zu suchen?“

„Ich frage niemanden um seine Erlaubnis – auch dich nicht, Mokk. Wenn du höflich bist, dann mache ich dir aber vielleicht ein Angebot, dass dein Leben und das deiner Krieger retten würde.“

„Was soll das für ein Angebot sein?“, fragt der Häuptling ungläubig.

„Ich besitze etwas, was du dringend benötigst, Mokk, und du verfügst über etwas, das ich ganz gut gebrauchen könnte.“

„Ich weiß, dass du ein gefährlicher Lügner und Betrüger bist – wie alle Feiglinge. Und ganz sicher brauche ich nichts, was im Besitz eines Betrügers und Feiglings ist. Vielleicht mit einer Ausnahme.“

Das jungenhafte Grinsen im Gesicht des Magiers wird immer breiter, bis sich schließlich die weißen blitzenden Zähne zeigen.

„Ich habe gestern dein Pferd und deinen Bogen an mich genommen. Der Bogen sieht wertvoll aus, taugt aber nichts. Er ist aus einem Holz gemacht, das sich nicht spannen lässt. Selbst dein Pferd sieht edel aus, scheint aber ebenfalls nichts zu taugen, wie ich gestern bei einem Ausreitversuch feststellen musste. Pferd und Bogen täuschen vor, etwas zu sein, was sie nicht sind – und nun sind sie verschwunden. Weißt du, wo meine Sachen geblieben sind?“

„Erstens sind es nicht deine Sachen, wie du mein Pferd und meinen Bogen nennst, sondern meine, die du zweitens nicht an dich genommen, sondern mir gestohlen hast – obwohl ich doch als Gast zu dir gekommen bin. Deine Tochter He hat sich mit ihrem Wort als Kriegerin für meine Sicherheit verbürgt. Frag sie danach.

Das Pferd und meinen Bogen habe ich in Sicherheit gebracht. Sie erscheinen hier erst wieder, wenn du mir das Gastrecht garantierst. Dann werde ich dir gerne zeigen, das Pferd und Bogen edler sind, als deine Gesinnung als Räuber es jemals war.“

„Wegen des Ehrenwortes meines dummen und unreifen Kindes, das nicht länger Kriegerin der Darr sein wird, erlaube ich dir, mein Kriegslager zu verlassen.

Allerdings musst du als der neue Ehemann von Fleischberg dem Krieger, der bis heute Morgen der Ehemann von Fleischberg war, einen Brautpreis entrichten oder so lange ihm als Sklave dienen, bis du deine Schuld beglichen hast.“

„Ich bin einverstanden, Mokk. Ich bitte dich, diesen Krieger mitsamt seiner Ehefrau, die sie ja noch ist, bis der Brautpreis vollständig entrichtet ist, hierher bringen zu lassen, damit ich den Preis aushandeln und schnell bezahlen kann.“

„Wir haben dich genau durchsucht, du Feigling, du besitzt nichts mehr, was für uns von Interesse sein könnte. Aus dir spricht die Angst.“

„Schon vergessen? Ich bin der Gelbe Magier, werde nicht nur so genannt. An meinem Körper befinden sich tausend Verstecke, in denen ich ein Vermögen verstecken könnte.Lass die beiden nur kommen, dann sollst auch du deinen gerechten Anteil erhalten.“

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Die Zeit, die die Sonne braucht, um auf ihrem Aufstieg ein Wegstück von zwei Handbreiten zurückzulegen, hatte Mokk als Zeitpunkt bestimmt, zu dem alle Beteiligten sich einfinden sollten, um den Brautpreis auszuhandeln. Eine knisternde Spannung beginnt sich über das ganze Kriegslager auszubreiten. Aus allen Richtungen, aus allen großen und kleinen Zeltreihen, strömen die Neugierigen herbei, um Zeuge erahnter, ungewöhnlicher Ereignisse zu werden. Der große Versammlungsplatz vor dem Zelt des Häuptlings ist schon bald hoffnungslos überfüllt mit Kriegern, die von einer auffälligen Schweigsamkeit ergriffen sind. Und immer noch will der Zustrom der Neugierigen nicht versiegen.

Der Häuptling, der mit dem klugen Hoggo vor seinem Zelt Platz genommen hat, gibt das Zeichen zum Beginn der Verhandlungen, nachdem er wegen des großen Andranges an Kriegern den Verhandlungsbeginn um weitere zwei Handbreiten der Sonnenbewegung am Himmel verschoben hat.

„Bringt den Gefangenen, den Besitzer der Frau, die ‚Fleischberg’ genannt wird und natürlich diese Frau selbst!“, befiehlt er und als die drei in respektvollem Abstand vor ihm stehen, wendet er sich zunächst an den Magier.

„Du bist der Magier, sagst du. Erkläre mir doch, was ein Magier ist und warum du deine Fesseln nicht wegzaubern kannst – oder bist du nur ein Lügner und Betrüger?“

„Ich habe in der vergangenen Nacht genau dies getan, bevor ich unsichtbar durch die Luft reitend mir mein Pferd und meinen Bogen aus deinem Zelt zurückgeholt habe.“

„Und warum hast du bei dieser Gelegenheit nicht die Flucht ergriffen? Auf deinem schnellen Pferd hätten wir dich nicht sobald einholen können!“

„Es war so dunkel, ich wusste nicht, in welche Richtung ich mich wenden sollte“, erwidert der Magier so treuherzig lächelnd, dass einige Krieger laut zu lachen beginnen.

„Womit willst du den Brautpreis bezahlen, du besitzt doch nichts!“

„Ich habe ein Pferd und einen Bogen, Mokk, und die Kriegsbeute – eine Anzahl von Schwertern und Pferden.“

„Irrtum, alles gehört schon mir. Das ist das Recht der Steppe – was ich finde, das gehört mir“, erwidert Mokk höhnisch.

„Ich habe in der vergangenen Nacht in deinem Zelt ein Pferd gefunden und einen Bogen mitsamt Köcher – du weißt ja, Mokk, was ich finde, das gehört mir.“

„Ich würde gern von dir wissen“, mischt sich Hoggo in das Gespräch, „was du in dieser Gegend zu suchen hast. Du bist doch nicht zufällig hier?“

„Ihr besitzt etwas, was ich dringend benötige – und ich meinerseits besitze etwas, was ihr ebenso dringend benötigt. Darüber werde ich mit euch verhandeln, wenn der Brautpreis einvernehmlich festgelegt wurde.“

„Du weißt, Magier, dass niemand zu den Darr mit leeren Händen kommen darf?“

„Ich komme nicht mit leeren Händen, Hoggo.“

„Wir haben dich sehr genau durchsucht. Du trägst nichts bei dir, was für uns von Interesse wäre. Zeige mir eines deiner vielen Verstecke an deinem Körper, in denen du angeblich ein Vermögen verstecken kannst.“

„Dazu musst du mir die Fesseln entfernen, wie soll ich sonst in meine Verstecke greifen?“

„Sogar ich, Magier, der keine magischen Kräfte besitzt, könnte mich selbst von den leichten Fesseln befreien, die wir dir haben anlegen lassen – aber wie du willst“, antwortet Hoggo milde lächelnd und winkt einem der Krieger zu, dem Magier die Fesseln zu entfernen.

„Nun lass uns sehen und staunen“, muntert Hoggo den Magier spottend auf.

Der Magier entledigt sich seiner Oberbekleidung, so dass er schließlich mit freiem Oberkörper vor der Menge der verständnislos ihn anstarrenden Krieger steht. Er fordert Hoggo auf, nach versteckten Gegenständen an den entblößten Körperstellen zu suchen.

„Es ist nichts versteckt oder offen Daliegendes an deinem Körper zu erkennen!“, ruft Hoggo laut und der Magier schließt seine Augen, steht eine Weile regungslos da. Die umstehenden Krieger werden unruhig, beginnen den Magier zu verspotten und auszulachen.

Seltsam kontrastiert das um sich greifende Gejohle der Krieger mit der augenblicklich einsetzenden Ruhe, die sich bis zur Erstarrung steigert, als der Magier seine rechte Hand in Brusthöhe hebt und sie dann langsam in seinen Leib eindringen lässt. So tief gleitet die Hand des Magiers in seinen Leib hinein, dass sie bis zum Handgelenk darin verschwindet. In die Gesichter der dem Aberglauben der Zeit zutiefst verfallenen Krieger malt das Entsetzen Bilder der Furcht vor dem Unerklärlichen. Selbst der kluge Hoggo und der halsstarrige Mokk wären in diesem Augenblick bereit, alles zu glauben, was der Magier ihnen an Unglaublichem als Wahrheit zu verkaufen gesonnen sein mag.

Wie den Donnerschlag eines unerwarteten Gewitters in die Lautlosigkeit der Steppe, empfindet jeder der in der Nähe stehenden Krieger die sanfte Stimme des Magiers, der in die Stille hinein leise nach der „Fleischberg“ genannten Frau ruft, die ohne die Erlaubnis ihres Ehemannes zu erfragen, sich schnaufend zum Magier begibt.

„Zeige mir deinen Ehemann“, bittet der Magier und die Wohlbeleibte zeigt auf den nur wenige Schritte hinter ihr stehenden, breitschultrigen, ungemein kräftig wirkenden Krieger.

„Ist er der Krieger, der mir seine Lanze an den Kopf gehauen hat?“

„Ja, das ist er“, piepst die Wohlbeleibte ängstlich.

„Das nehme ich ihm übel. Geht er mit dir auch so grob um?“

„Er wird mich wieder verprügeln, wenn ich dir diese Frage beantworte.“

„Möchtest du ihn bestrafen? Oder willst du ihm alle an dir begangenen Schlechtigkeiten verzeihen?“

„Wie soll ich ihn bestrafen? Er wird sich wehren und mir sehr wehtun.“

„Er soll dich nicht wieder quälen und dich auch nicht aus Hohn und Spott jedem Fremden als Ehefrau anbieten.“

„Ein bisschen Strafe kann nicht schaden, oder?“

„Du hast Recht“, nickt der Magier der Wohlbeleibten freundlich zu. „Ich werde dir dabei behilflich sein. Siehst du den Kristall in meiner Hand?“

„Ich weiß nicht, was ein Kristall ist, Magier, aber wenn du das Ding da in deiner Hand meinst – ja, das sehe ich.“

„Kennst du die Dämonen, die nachts durch die Steppe streifen und manchmal dabei auch Unheil anrichten?“

„Nein, die kenne ich zum Glück nicht, aber ich habe schon oft von ihnen erzählen gehört.“

„Weißt du, wo diese Dämonen den Tag verbringen, wo sie wohnen, wenn sie nicht in der Nacht durch die Steppe fliegen?“

„Nein, das kann kein Mensch wissen, Magier. Diese Frage können nur die Dämonen selbst beantworten. Weißt du es vielleicht?“

„Ja, ich weiß, wo sie wohnen. Sie wohnen an einem Ort, der so unvorstellbar furchtbar ist, dass die Dämonen immer wieder versuchen, aus ihrem Gefängnis für immer zu entweichen. Es ist die schrecklichste, unvorstellbar düstere Hölle, die ganz besonders bösen Seelen und Geistern vorbehalten ist. Dieser glitzernde Kristall in meiner Hand ist der Höllenein- und -ausgang. Manchmal öffnet sich der Hölleneingang ein ganz kleines bisschen und dann kannst du ein kleines Stück weit in die Vorhölle schauen – furchtbar, sage ich dir. Du musst aber nicht erschrecken. Die bösen Geister können dir nicht schaden, solange niemand sie aus ihrem Gefängnis befreit“, fügt der Magier lächelnd hinzu, als die Wohlbeleibte erschreckt zurückfährt. Er hält den Kristall in Bauchhöhe vor seinen Körper, löst den Griff seiner Hand von der glitzernden Kugel, die einfach da, wo der Magier sie los gelassen hat, frei über dem Steppenboden schweben bleibt.

„Sie fällt nicht runter – das kann nur das Werk böser Dämonen sein!“, flüstert die Dicke

erschrocken und ein ungläubiges Flüstern geht durch die Reihen der Krieger.

„Ja, vielleicht“, lächelt der Magier. „Und nun geh zu dem Grobian, der dir doch eigentlich ein liebevoller Ehemann sein sollte. Ergreife seinen Kopf an den Haaren und ziehe kräftig.“

„Ich würde ihm schon gerne mal kräftig an den Haaren ziehen, wie er es schon so oft bei mir getan hat – aber er wird sich wehren!“

„Versuch es nur. Wenn er sich wehrt, dann kannst du dich ja bei ihm entschuldigen.“

Die Dicke folgt nichts ahnend der Aufforderung des Magiers. Wenig zimperlich ergreift sie das Haupthaar ihres Mannes, der sie schon so lange gequält hat, und zieht mit einem kräftigen Ruck. Ein Aufschrei des Entsetzens geht von der Dicken aus und macht als leises Raunen seine Runde auch bei den rauen Kriegern, als die Dicke nach kräftigem Ruck den Kopf des Kriegers an den Haaren in ihrer Hand hält.

„Was – was – was soll ich jetzt tun, Magier!“, schreit die Dicke verzweifelt, „Ist mein Mann jetzt tot?“

„Nein, er ist nicht tot – noch nicht tot. Beruhige dich und bringe den Kopf hierher zu mir. Wir wollen ihn neben dem Eingang zur Hölle schweben lassen. Dann kannst du dich bequem mit ihm unterhalten und er kann schon einmal die Hölle von innen besichtigen.“

„Nein! Der Kopf wird herunterfallen in den Schmutz“, kreischt die Dicke und fleht den Magier an, ihr den Kopf ihres Mannes abzunehmen.

„Nimm dir einen Zweig und male eine Linie in den Boden, die vom Kopf deines Mannes zu seinem Rumpf führt“, bittet der Magier die Dicke, die gehorsam tut, was der Magier von ihr verlangt.

„Wenn du deinen Mann töten willst, dann nimm ein Messer und kreuze damit die Linie, die du eben mit einem Zweig sehr schön gemalt hast. Bedenke aber, dass sein Tod dann unwiderruflich ist.“

Der Magier wendet seine Blicke jetzt dem Häuptling zu.

„Mokk, du tapferer Kriegshäuptling der Darr, wenn du mutig genug bist, dann bringe mir jetzt deinen Kopf – sonst hole ich ihn mir.“

„Das wagst du nicht. Meine Krieger werden dich zerreißen, bevor du in meine Nähe kommst!“

„Ich will deinen Kopf, Mokk. Deine Krieger können es nicht verhindern.“

„Was willst du mit meinem Kopf, Magier?“

„Reden, nur reden. Du kriegst ihn zurück.“

„Hoggo“, flüstert der Häuptling seinem Vertrauten zu, „rede du an meiner Stelle mit diesem Verrückten. Meinen Kopf jedenfalls kriegt der nicht!“

„Sag mir deine Bedingungen, Magier“, versucht Hoggo zu vermitteln, „um diesen Wahnsinn hier zu beenden. Wir sehen, dass wir uns in dir geirrt haben.“

„Der Häuptling soll mir das Gastrecht gewähren und mit mir über ein Bündnis reden.“

„Das Gastrecht wird dir gewährt. Bündnisse werden uns in letzter Zeit wiederholt angetragen – das braucht eine gewisse Beratungszeit. Der Häuptling entscheidet nicht allein über Bündnisfragen. Bist du zufrieden?“

„Fast, mein lieber Hoggo. Ich möchte das Gastrecht auch für meine Freunde, in deren Begleitung ich mich befinde, angewendet wissen.“

„Sag mir, wer und wo deine Begleiter sind, damit ich über die Ausdehnung des Gastrechts auf sie entscheiden kann.“

„Wölfe, fünf Wölfe und ein Raubvogel. Sie werden sich ordentlich benehmen, solange sie nicht angegriffen werden.“

„Kannst du im Gegenzug den Kopf des Kriegers wieder auf seinen Körper setzen? Ich habe längst verstanden, was dein Anliegen ist. Der Krieger wird die Dicke als Frau behalten, keinen Brautpreis fordern und sich auch nicht an der Dicken rächen, mehr liegt nicht drin.“

„Dann sind wir uns einig, Hoggo“, stimmt der Magier zu und wendet sich dem Kopf des Kriegers zu:

„Sag, du Grobian, konntest du in die Hölle der Dämonen sehen?“

„Ja“, antwortet der Kopf, „ich habe die schlimmsten aller Dämonen gesehen und sie haben zu mir gesprochen …“

„Was? Dann siehst und hörst du mehr als ich, du Glücklicher.“

„Lass es gut sein, Magier, und beende diese Folter. Töte mich richtig oder füge meinen Kopf und Körper wieder zusammen.“

„Willst du deinen Mann“, wendet sich der Magier an die Dicke, „in einem oder in zwei

Stücken zurückhaben – es ist deine Entscheidung.“

„Ich will ihn zurückhaben! In einem Stück. So kopflos nützt er mir ja nicht viel.“

„Dann geh hin und füge zusammen, was du zuvor getrennt hast …“

_

Es ist ein ungewöhnliches Bild – die fünf Wölfe und der Raubvogel im Kriegslager der Darr. Und so, wie der Magier das Gastrecht genießt, so tun es auch seine wilden Gefährten, die mit soviel Fleisch, wie sie nur verschlingen können gefüttert werden. Doch weigert sich Mokk beharrlich, die Tiere an den gemeinsamen Mahlzeiten mit seinen Unteranführern und seinem Gast, dem Magier, teilnehmen zu lassen.

Misstrauisch, aber friedlich durchstreifen die Wölfe das Lager, der Raubvogel kreist über dem Lager in der Luft. So ist der Magier stets über alles informiert, was sich im und um das Lager herum oder in der Ferne der Steppe ereignet.

Nachdem der Magier drei Tage lang das Gastrecht im Lager der Darr genossen hat, nachdem er drei lange Tage geduldig darauf gewartet hat, sein Anliegen dem Rat der Krieger vortragen zu dürfen, ist der Zeitpunkt gekommen, die Dinge anzustoßen, die nur darauf warten, in Bewegung gesetzt zu werden.

In den späten Abendstunden des dritten Tages, nachdem längst der schwarze Mantel des Totengotts sich über die Steppe gelegt hat, lässt der Rat der Krieger den Magier zu sich kommen.

Einige niedrig brennende Feuer, mit spärlich vorhandenem Holz und trockenem Buschwerk nur mühsam vor dem Erlöschen bewahrt, verbreiten ein eher unwirklich erscheinendes Zwielicht um die Mitglieder des Rates herum, als Dunkelheit vertreibendes Licht. Wegen des Mangels an Holz und trockenem Buschwerks in diesem Teil der Steppe, liegt das Kriegslager der Darr wie erstarrt in Finsternis eingehüllt.

„Magier, wir haben dich nach sorgfältiger Überlegung vor den Kriegsrat gebeten, damit du dein Anliegen vortragen kannst, über dass wir dann endgültig abstimmen werden. Ist die Entscheidung dann gefallen und verkündet, so ist sie unwiderruflich. Der Rat der Krieger will dich jetzt befragen. Sage uns als erstes, wer und was du bist!“

„Ich bin Huang, der Magier. Anderenorts nennt man mich auch anders. Die Gor nennen mich den Bogenschützen.“

„Es wird erzählt“, ruft einer der Krieger des Rats, „du seist ein böser Dämon – ist das Wahrheit oder nur der Phantasie entsprungen?“

„Nur der Phantasie entsprungen – ich bin nicht böse.“

„Es wird auch erzählt, du seist der Sohn Huang des Kriegers – wie kannst du da ein Dämon sein?“

„Kann ich nicht zweierlei oder dreierlei zur gleichen Zeit sein? Ich bin Huang, der Magier, der Bogenschütze und der Sohn Huang des Kriegers und ich bin noch mancherlei mehr.“

„Kannst du zaubern?“

„Nein, ich bin Magier, nicht Zauberer.“

„Wo ist deiner Meinung nach der Unterschied zwischen Zauberei und Magie?“

„Ich weiß nicht, ob es Zauberer und Zauberei gibt. Der Magier nutzt nur die Kräfte der Natur, die unser aller Mutter, der Erde, innewohnen.“

„Willst du damit sagen“, fragt Hoggo, „dass jeder Krieger Magier sein und jeder diese natürlichen Kräfte der Magie besitzen könnte?“

„Ja.“

„Außer dir kenne ich aber niemanden, der über magische Kräfte verfügt.“

„Du musst die Schätze der Natur sehen und du musst sie ergreifen können. Nur darin besteht die Kunst eines Magiers.“

„Ich sehe, dass du nicht mit leeren Händen vor uns erscheinst. Kannst du mit deinen magischen Spielereien aber auch Krieg führen?“

„Nein. Aber ich bin in der Lage, euch zu befreien von dem Feind, der für euch unbezwingbar ist.“

„Es gibt für die Darr keine unbezwingbaren Feinde!“, ruft Mokk hitzig dazwischen.

„Du irrst dich, Mokk. Ihr alle irrt euch in eurem Feind, der euch bereits einkreist, ohne dass ihr es bemerkt. Ihr alle seid dem Tod sehr nah. Ihr werdet die Achtbeinigen ohne meine Hilfe nicht besiegen und wenn ihr nicht zur Einsicht kommt, dann seid ihr morgen früh alle tot.“

„Dann erkläre mir, Magier, wie du allein die Achtbeinigen bezwingen kannst, wenn dies, wie du sagst, für die vielen Krieger der Darr schon unmöglich ist!“

„Mit meinem Kristall, Mokk. Du hast ihn ja schon erlebt.“

„Ich glaube dir kein Wort, Magier. Sag mir, wie dein Trick mit dem Kristall funktioniert. Und vor allem sage mir, warum du unbedingt ein Bündnis mit den Darr willst, wenn du doch alle Feinde mit deinem Kristall bezwingen kannst!“

„Den Kristall zu benutzen ist nicht nur sehr gefährlich, er fordert für jeden Dienst auch einen hohen Preis.“

„Dann gib ihm, was er verlangt. Sein Preis für ein Bündnis ist sicherlich nicht so hoch, wie es meiner ist. Was macht den Kristall so gefährlich, dass die Furcht davor dich erzittern lässt?“

„Ich werde langsam ungeduldig, Mokk. Diese letzte Frage will ich dir gern noch beantworten. Danach soll der Rat der Krieger seine Entscheidung treffen. Ich werde dann nicht weiter mit euch verhandeln.“

„So sei es, Magier. Erkläre mir die schrecklichen Gefahren, die uns durch dein kleines Spielzeug drohen.“

„An deinem Spott, Mokk, könntest du heute Nacht noch ersticken. Aber das soll mich nicht weiter interessieren.“

„Nun fang endlich an zu erzählen. Oder weißt du nicht, wo du mit deiner Lügengeschichte beginnen willst?“, höhnt Mokk.

„Ich habe euch schon einmal erklärt, dass dieser kleine Kristall der Ort ist, in dem die bösesten und mächtigsten Dämonen gefangen gehalten werden. Genauer gesagt ist dieser Kristall mehr der Eingang zu den Verließen der furchtbarsten aller Höllen …“

„Dann sind die gefangenen Dämonen kleiner als neugeborene Kinder und jedenfalls nicht schwer zu besiegen!“, höhnt der Häuptling weiter, „Und sehr viele dieser Dämonen passen jedenfalls nicht in deine kleine Glitzerkugel hinein.“

„Du irrst dich immer wieder, Mokk. Die Kugel ist von innen viel, sehr viel größer, als sie es von außen ist. Von innen ist sie von unbegrenzter Größe … Kannst du das verstehen?“

„Ich – ich glaube, du machst dich über mich lustig. Du riskierst dein Leben, Magier.“

„Keineswegs, Mokk“, fährt der Magier fort, „auch ich kann das Innen des Kristalls nicht verstehen. Aber ich will dir gern erklären, warum es so gefährlich ist, sich der Kräfte des Kristalls zu bedienen …“

„Achtet jetzt auf die dicksten Lügen dieses Betrügers!“, wendet sich der Häuptling an die Mitglieder des Rats der Krieger, von denen jeder einzelne gebannt den Worten des Magiers lauscht.

„Um zu verhindern, dass auch nur ein einziges all der bösen Wesen, die in diesem Kristall gefangen sind, jemals entweichen kann, hat der unbekannte Baumeister dieses Kristalls dafür gesorgt, dass der in das Innere der Höllenwelt führende Eingang nur von außerhalb dieser Höllenwelt zu öffnen ist – und er kann nur von innen wieder verschlossen werden! Weißt du, was das bedeutet, Mokk, wenn ich die Pforten der Hölle geöffnet habe?“

„Es bedeutet“, schaltet sich Hoggo in das Gespräch wieder ein, „dass du dich, wenn du die Wahrheit sprichst, selbst in den Kristall begeben musst, um ihn von innen wieder zu verschließen – und dann selbst zum Gefangenen des Inneren der Kugel, der Höllenwelt, wirst. Die magische Kraft des Kristalls nützt dir nichts.“

„Du kommst der Wahrheit recht nahe, Hoggo. Du wirst nicht ohne Grund überall wegen deiner Klugheit gerühmt. Was aber, wenn ich jemanden hätte, der sich freiwillig in diese Höllenwelt begeben möchte – und für mich die Höllentore von innen wieder verschließt?“

„Dann könntest du genau einmal die magischen Kräfte deines Kristalls nutzen. Wer aber fängt die Dämonen ein, die aus der Kugel in unsere Welt entfliehen werden, wenn du erst einmal die Höllentore geöffnet hast?“

„Du bist wirklich schlau, Hoggo. Derjenige, der die Höllentore von innen verschließt, der wird dafür sorgen, dass keine ungebetenen Gäste in unserer Welt zurückbleiben. Bist du nun zufrieden?“

„Eine letzte Frage noch, Magier. Wer ist dieser Jemand, der sich freiwillig in die von dir beschriebene Höllenwelt begeben würde?“

„Das wirst du sehen, wenn wir uns auf ein Bündnis einigen.“

„Was gibt dir die Sicherheit, dass die Darr nicht wortbrüchig werden?“

„Jedes Mitglied des Rats der Krieger wird mir etwas von seinem Blut geben, das ich in einem Seelenbeutel an einem sicheren Ort aufbewahren werde. Wenn der Zweck des Bündnisses sich erfüllt hat, dann bekommt ihr den Seelenbeutel zurück und könnt dann wieder tun und lassen, was ihr wollt.“

„Darauf wird sich keines der Ratsmitglieder einlassen. Diese Forderung ist unverschämt.“

„Dann werdet ihr unsere Feinde sein und in diesem Fall ist es besser, wenn ich die Achtbeinigen erst die Darr und Gor vernichten lasse, bevor ich sie mithilfe des Kristalls aus der Steppe entferne.“

„Die Achtbeinigen werden uns hier nicht mehr vorfinden“, ruft Mokk wütend. „Im Morgengrauen werden wir das Lager verlassen und dem Feind entgegen ziehen. Wir wissen sehr genau, dass unsere Feinde sich am Hauptlagerplatz der Gor sammeln. Dort werden wir sie angreifen und sowohl die Gor wie auch die Achtbeinigen vernichten. Weil du mein Gast bist, will ich dir auch nicht verschweigen, dass wir danach in deiner Heimat Jagd auf deinen Vater und dann auch auf dich machen werden. Wie ich immer wieder höre, entwickelt sich Huang der Krieger zu einem sehr lästigen Störfaktor für den Kaiser und bald sicher auch für mich.“

„Nun, Mokk, ich will mich auch nicht als schlechter Gast erweisen. Darum teile ich dir höflich mit, dass du deine Feinde ziemlich unterschätzt hast und dich daher bald in großen kriegerischen Schwierigkeiten befinden wirst. Du wirst niemanden im Morgengrauen angreifen, weil euer Feind euch während des dunkelsten Teils der heutigen Nacht schon angreifen und töten wird.

Erbarmungslos wird er ohne Ansehen der Person jedes Leben, ob Krieger, ob Tier töten. Nur die bleichen Gebeine eurer Toten werden als Mahnmal hier von euch zurückbleiben. Und nicht einer von euch wird dem Belagerungsring der Achtbeinigen entkommen, weil sie euch schon längst umstellt haben.“

„Wimmre du ruhig vor Angst“, spottet Mokk, „unsere Kundschafter hätten uns schon längst gewarnt, wenn …“

„sie nicht schon längst tot wären“, fällt der Magier in die Rede des Häuptlings, der weitere Späher in alle Richtungen losschickt …

„Das ist unmöglich. Unsere Späher hätten uns dies längst gemeldet und wären wir von unseren Feinden umzingelt, dann hätten die zuletzt ausgeschickten Kundschafter uns dies schon längst gemeldet.“

„Meine eigenen Kundschafter“, hält der Magier dagegen, als eine große Eule aus der Dunkelheit im Steilflug auf ihn niederstürzt und sich vorsichtig auf seiner Schulter niederlässt, „melden mir den Tod aller deiner Kundschafter, selbst der, die du vor wenigen Augenblicken losgeschickt hast …“

„Wenn das so ist“, erklärt Mokk lächelnd, „dann wirst du mit mir und einigen hundert Kriegern auf Kundschaft gehen. Das heißt nicht, dass ich dir glaube. Die Feinde können sich unmöglich schneller fortbewegen, als es die Darrkundschafter tun, die immer mit unseren besten Pferden beritten sind.“

„Dann scheinst du nicht viel über die Achtbeinigen zu wissen, Mokk. Durch Unwissenheit wurden schon viele Schlachten verloren. Die Achtbeinigen laufen dreimal so schnell, wie deine schnellsten Pferde. Deswegen konnte ihnen auch keiner deiner Kundschafter entkommen. Und deswegen ist es in keiner Weise unmöglich, dass sie dein Kriegslager in der Dunkelheit umstellen konnten.“

„Ich nehme an, du lügst wie immer. Aber die Möglichkeit, dass du ausnahmsweise die Wahrheit sprichst, will ich in Betracht ziehen.“

„Dann stell dich darauf ein, dass der Feind in Rufweite bereits auf der Lauer liegt. Und da ich auch weiterhin kein schlechter Gast sein will, teile ich dir mit, dass die Achtbeinigen in der finsteren Nacht genauso gut sehen, wie du am hellen Tag.“

„Du steckst so voller Lügen“, knurrt der Häuptling, „dass ich Lust hätte, dir jede Lüge einzeln aus dem Leib zu prügeln. Die Krieger sind bereit, wir brechen jetzt auf.“

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Der Magier beugt sich hinunter zu seinem Wolf, dessen flinke Zunge ihm sofort liebkosend durch das Gesicht fährt: „Wir machen es wie immer, mein lieber Wu – du leitest mich durch deine Augen, Nase und Ohren und ich schicke nach deinen Angaben die freundlichsten Grüße von uns und unserem Bogen zu diesen verdammten Achtbeinigen. Dieses Mal wird es gefährlich für uns …“

Huang und Mokk mit seinen Kriegern sitzen schnell zu Pferd. Doch es hätte keines Pferdes bedurft, um in Rufweite des Feindes zu gelangen, der von allen Kriegern der Darr im Lager unbemerkt, sich in der Dunkelheit dem Lager bis auf hundert bis hundertfünfzig Schritt genähert hatte. Der Bogenschütze zieht einen Pfeil aus dem Köcher, legt ihn an die Sehne und erkundigt sich bei Mokk:

„Worauf wartest du noch, Mokk? Hat dich plötzlich der Mut verlassen? Gib den Befehl zum Angriff!“

„Ich sehe hier nichts, was einen Angriff lohnen würde.“

„Was denn, Mokk – macht die Angst dich blind? Gib den Befehl anzugreifen und du wirst die Feinde schneller zu sehen bekommen, als dir lieb sein wird.“

„Wenn du so mutig bist, Magier, dann erlaube ich dir, die Leere der finsteren Nacht anzugreifen – und dann sollst du dich schämen!“

Der Bogenschütze spannt die Sehne, zielt kaum, der Pfeil macht sich leise, kaum hörbar durch das Nachtschwarz surrend auf den Weg. Schon fliegen ein zweiter und ein dritter Pfeil durch die Nacht und dann ist der lautlose Feind auch schon heran.

Pferde stürzen mit entsetztem Wiehern zu Boden, Knochen splittern, Knochen brechen – Krieger schreien, stürzen, sterben. Wie der Raubvogel aus den Höhen des Himmels sich schnell, tödlich und unerbittlich auf seine Beute am Boden hinunterstürzt, so fährt der Tod schnell und unerwartet auf die Krieger der Darr hinunter.

Als der Feind in großer Anzahl die Zehn-Schritte-Grenze des Magiers durchbricht, lässt der den Bogen ruhen und seine mentalen Zerstörungskräfte unter den Feinden wüten. Er lenkt sein Schwert in der Dunkelheit mit der Hand. So sehr er sich auch müht, die zahlenmäßige Übermacht der Feinde flutet ihm schneller entgegen, als er sich der von allen Seiten heranwälzenden Flut der Angreifer entgegenstemmen kann.

Es dauert nur wenige Augenblicke, dann steht der Verteidigungsring, den die stets bei ihren Waffen und Pferden schlafenden Darrkrieger rund um ihr Lager mit ihren Körpern, ihren Waffen und ihren Pferden bilden. Die vom laufenden Pferd gestoßene schwere Kampflanze der Darrkrieger ist geeignet, die gepanzerten Bereiche von Brust- und Hinterleib der Aranea-Kriegerinnen mühelos zu durchdringen, doch entziehen die Aranea sich dieser Gefahr durch den Gebrauch ihrer Jagdnetze, die sie aus sicherer Entfernung zielgenau den Lanzen schwingenden Darr entgegenspeien.

Ob Darr, ob Pferd, ob heranfliegende Lanze – was mit dem Jagdnetz in Berührung kommt, verfängt sich unlösbar in seinen klebrigen Fangfäden.

So bleibt es dem Zufall überlassen, wenn hier und da eine verirrte Lanze an den Jagdnetzen vorbei, ihren Weg ins Ziel findet und der einen oder anderen Jagdspinne den Tod bringt.

Neben dem Magier kämpft, noch immer zu Pferd, Häuptling Mokk. Es gelingt ihm ebenso wie seinen Kriegern nicht, an der Barriere der Jagdnetze vorbei, den Tod in die Reihen des Feindes zu tragen.

„Magier“, ruft Mokk durch das Stöhnen sterbender Krieger und Pferde, durch die Schmerzensschreie schwer verletzter Krieger und ihrer Pferde, durch das Entsetzen von Kriegern und Pferden, die von einem der heranfliegenden Jagdnetze erfasst, sich unlösbar unter brennenden Schmerzen im Netz der klebrigen Fangfäden verfangen haben.

„Magier, es scheint, dass nur aus deinen Händen der Tod in die Reihen der Feinde getragen wird – was schlägst du vor?“

„Ich schlage dir vor, Mokk, mein Angebot für ein Bündnis anzunehmen. Sonst seid ihr im Morgengrauen alle tot – du wirst nicht einmal um deine Kinder, die zu deinen Kriegern gehören, trauern müssen.“

„Niemals werde ich einem Bündnis mit dir und noch weniger einem Bündnis mit deinem Vater zustimmen. Lieber will ich hier sterben. Und es tröstet mich der Gedanke, dass du mit dem Morgengrauen ebenfalls tot sein wirst.“

„Du irrst dich, Mokk. Ich werde nicht hier und nicht heute sterben. Aber wie du willst. Ich habe nichts dagegen, wenn du und deine Krieger lieber sterben wollen anstatt zu leben.“

Durch das Stöhnen der Sterbenden, durch die von allen Seiten heranflutenden Wogen der Schmerzensschreie klingt immer wieder der verzweifelte Ruf nach Licht. Doch die wenigen Feuer, die für spärliches Licht an den wichtigsten Stellen des Lagers gesorgt hatten, sind längst niedergebrannt, die kärglichen Brennstoffvorräte längst zu flüchtigem Licht und Rauch verbrannt.

„Magier, warum verhinderst du dieses sinnlose Sterben nicht, wenn du es doch kannst, wie du immer wieder versichert hast?“, klingt die schreiende Stimme von He in seinen Ohren.

„Die Darr wollen das Bündnis mit dem übermächtigen Kaiser Shen-nun, der die Menschen in meiner Heimat von Osten bedroht. Aus Nord und West droht uns Gefahr von den ebenfalls übermächtigen Darr und den Gor. Zwischen diesen Mächten liegend, würden die Dörfer meiner Heimat zerrieben. Warum also soll ich die Gelegenheit nicht nutzen, einen gefährlichen Feind, einen Todfeind loszuwerden.“

„Dann bist du unerbittlich?“

„Ja, um die Krieger der Darr tut es mir nicht leid.“

„Kannst du mit deiner Magie nicht wenigstens für Licht sorgen?“

„Willst du wirklich das hässliche Gesicht des Krieges sehen, He? Meinetwegen. Aber es wird euch nichts nützen. Nur die Macht des Kristalls kann euch gegen diesen Feind helfen.“

Wieder greift der Magier mit der Hand in seine Brust und zieht sie gemeinsam mit dem Kristall darin wieder heraus. „Leuchte“, flüstert er leise und der Kristall beginnt in der Hand des Magiers aufzuleuchten.

„He“, ruft er der Kriegerin durch den sich nähernden Kriegslärm zu, „ich versuche, eine kurze Unterbrechung des Angriffs zu erreichen. Nutze du die Zeit, den Rat der Krieger noch einmal zusammenzurufen. Es ist eure letzte Chance – und niemand soll etwa glauben, die Feinde würden sich auf die Vernichtung dieses Kriegslagers beschränken. Ich weiß durch meine fliegenden Kundschafter, dass bereits eine zweite Armee der Achtbeinigen sich auf den Weg gemacht hat, das Volk der Darr in seiner Heimat anzugreifen und zu vernichten.“

Spätestens zu dem Zeitpunkt, als der Bogenschütze im Dunklen Planeten das „Tor zur Freiheit“ durchschritten hatte, was für einen unmessbar kurzen Zeitraum den Zustand der „Allmacht eines göttlichen Wesens“ zur Folge hatte – spätestens seit diesem Zeitpunkt, weiß der Magier um die Gefährlichkeit des Kristalls und um den hohen Preis seiner Nutzung.

Es ist nicht ohne Gefahr, mitten im Kampfgetümmel zur Konzentration die Augen zu schließen. Doch die sichere mentale Kontrolle über den Kristall im aktivierten Zustand, ist unabdingbare Voraussetzung, nicht selbst unter die Kontrolle des Kristalls zu geraten.

„Flieg hoch, rätselhaftestes Ding des Sternenmeers, und lass von den fernen Hochgebirgen im Norden und Westen bis dort zum Huang-ho, wo er im Osten sich in seinem Lauf nach Süden wendet, die dunkle Nacht zu hellem Tag sich wandeln ...“

He war nicht in der Lage gewesen, den Magier und das seltsame Geschehen um ihn und den Kristall auch nur für einen Augenblick aus den Augen zu lassen. Versteinert vor Ehrfurcht gegen das, was ihr als Verkörperung einer strahlenden Gottheit erscheint, hat sie alles um sich herum vergessen.

Die Sonne, die mitten in der Nacht von der Erde zum Himmel aufsteigt und soweit das Auge schauen kann, die Dunkelheit in der Welt mit Licht erfüllt, der Magier, der jetzt mit geschlossenen Augen mitten unter den Kämpfenden steht, als wäre er ein lebloser Felsen, all das erfüllt die junge Kriegerin mit Furcht und großer Sorge.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, den Magier von allen Vorwürfen, ein Lügner und Betrüger zu sein zu befreien – dann war dieser Beweis für tausende von Augenpaaren sichtbar jetzt erbracht.

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Als der Magier die Augen öffnet, findet auch He wieder zu sich selbst. Doch noch immer wollen ihre Augen nicht für den kleinsten Augenblick die Gestalt des Magiers aus dem Blick verlieren. Ihr Herz klopft bis zum Hals hinauf so heftig, dass es schmerzt. Sie hört den Krieger leise sprechen. Mit der Weißen, der Königin der Achtbeinigen, die doch nirgendwo sichtbar ist und nur wenige Augenblicke später unterbrechen die Achtbeingen die Kampfhandlungen, stehen einfach nur noch regungslos da.

So kurz die Kampfhandlungen auch andauerten – das sichtbare Ergebnis liegt in der hellen Nacht für jedes Auge gut sichtbar, überall auf dem Boden angehäuft oder zerstreut.

Das Ächzen, Stöhnen und Schreien der Schwerverletzten, der Sterbenden, der im Todeskampf sich windenden in den Jagdnetzen gefangenen Krieger klingt grauenvoll in He‘s Ohren.

Kreuz und quer liegen die toten Krieger so, wie sie tot oder tödlich getroffen von den Pferden gestürzt sind. Tote Pferde liegen auf ihren toten Reitern, tote Reiter liegen auf toten Pferden. Hunderte von Augen, die starr und regungslos in den hellen Nachthimmel starren, als würde dort neues Leben verteilt.

Längst steht He nicht mehr allein vor dem Magier, der sich langsam, wie gleichgültig, auf den Weg zur Königin macht. Ruhig, als täte er dies jeden Tag, drängt er sich durch die dichten Reihen der Jagdspinnen, nur verfolgt von deren sich mit ihm bewegenden gestielten rot glühenden Augen.

He‘s Schwestern und ihr Bruder „Sohn des Mokk“ stehen tuschelnd und flüsternd vor ihr. Neben dem Sohn des Mokk steht der riesige Garg. als einer der erfahrensten Krieger der Darr.

„Lasst uns einen letzten Versuch wagen“, beendet der Sohn des Mokk das Getuschel der vier Geschwister, „den drohenden Niedergang unseres Volkes zu verhindern. Unser Vater wird uns verstoßen, wird uns hassen und vielleicht auch versuchen, uns zu töten.

Aber er scheint blind und erstarrt im Hass gegen Volk und Familie des Magiers zu sein.

Wir werden Hoggo um Hilfe bitten. Nur er vermag mit seiner Klugheit, auf den unbeugsamen Willen unseres obersten Kriegshäuptlings Einfluss zu nehmen.“

Nach einem kurzen Augenblick des Nachdenkens fügt der Sohn des Mokk noch hinzu:

„Ich werde den Magier bitten, ihn begleiten zu dürfen. Die Kriegerin Chin, die wohl auch in die Gewalt des Kaisers geraten ist, hat noch meinen Seelenbeutel. Ich wage nicht zu sterben, bevor ich den

Beutel mit dem fehlenden Teil meiner Seele zurück habe.“

„Dann werde ich dich begleiten, Bruder“, stimmt He zu. „Ich besitze kein eigenes Schwert, keine andere eigene Waffe und auch die Kriegerwürde nicht mehr. Beraubt vom eigenen Vater. Ich werde in jedem Falle unseren Stamm, unsere Heimat verlassen!“

„Und mit euch“, ruft Ho vergnügt, „gehen eure Schwestern“, ergänzt Ha.

Der Magier hat mittlerweile den breiten Belagerungsring um das Lager der Darr durchschritten und nähert sich einer hügelig ansteigende Erhebung, die wie ein Wachturm gute Aussicht über den Schauplatz des kriegerischen Geschehens bietet.

Auf der Anhöhe erwartet ihn bereits die Weiße, die Königin und Gebieterin der Achtbeinigen.

Er nähert sich der Königin bis auf zwei Schritte und verharrt dort schweigend und beobachtend, bis die Weiße das Wort ergreift.

„Du weißt, wer ich bin!“, konstatiert die Weiße.

„Ja“, bestätigt der Magier einsilbig

„Und du wirst mir den Kristall überlassen?“

„Gerne würde ich ihn loswerden. Aber er scheint dies nicht zu wollen. Er ist eine schwere und außerdem gefährliche Bürde. Ergreif ihn und nimm ihn mit dir, wenn du kannst. Ich will ihn nicht.“

„Du hast das natürliche Gleichgewicht zwischen Sterblichen und Unsterblichen empfindlich gestört, Bogenschütze.“

„Gab es je ein solches Gleichgewicht, Gottheit? Wie passt dir dein Körper, aus dem du, die Gottheit, dich nicht befreien kannst?“

„Du irrst dich, Bogenschütze. Es gibt kein Gefäß in der Welt der Sterblichen, das einer Gottheit vollständig Aufenthalt ermöglichen würde. Der wesentliche Teil meiner Seinsform ist von keinem Körper zu umfassen und obwohl das Dasein einer Gottheit nicht teilbar ist, ist doch ein winziger Teil von mir in diesem Körper der weißen Jagdspinne gefangen.“

„Dann umhüllt der andere Teil von dir also den Körper der Weißen. Ihr bildet dann immer noch eine Art Einheit aus körperlichem und nicht körperlichem Sein.“

„Du hast dich der Wahrheit ein kleines Stückchen angenähert, Bogenschütze, und den Grund für meine Ohnmacht erkannt. In diesem Zustand des körperlichen und nicht körperlichen Seins kann keine Gottheit ihre Kräfte entfalten.“

„Dann wird aus einer Gottheit ein begrenztes Wesen, das nur noch über die natürlichen Kräfte ihres Wirtskörpers verfügt – dann hast du offensichtlich eine schlechte Wahl getroffen. Warum aber tauscht eine Gottheit den Zustand der Vollkommenheit gegen den der sinnlichen Begrenztheit ein?“

„Das würdest du nicht verstehen, Bogenschütze. Lass mich jetzt in den Kristall, damit ich in meine eigene Form der Existenz zurückkehren kann!“

„Nein.“

„Was? – Nein? Warum nicht?“

„In meiner Form der Existenz gibt es nichts geschenkt. Ich überlasse dir den Kristall nur unter der Bedingung, dass mit dir jede der Achtbeinigen, jede auch noch so geringe Spur von ihnen, jedes noch so kleine Teilchen – einfach alles von diesen gefräßigen und bösartigen Achtbeingen, die du in meine Welt gebracht hast, mit dir verschwindet und außerdem ...“

Während der Magier der Gottheit seine Bedingungen diktiert, verhandelt der kluge Hoggo noch mit Mokk und dem Rat der Krieger, der längst begriffen hat, dass die Hilfe des Magiers im Kampf gegen die Achtbeingen über Leben und Tod nicht nur der Darrkrieger im Lager, sondern über Leben und Tod des ganzen Volkes der Darr entscheiden wird. Mokk muss schließlich einsehen, dass der Kriegsrat es nicht hinnehmen wird, das Dasein des Darrvolks seinem leidenschaftlichen Hass zu opfern.

Immer wieder ergreift Hoggo, Abstimmung und Einigung zwischen Mokk und dem Rat suchend, das Wort in der Runde der Krieger, zügelt hier die wilde Leidenschaft der Krieger und dort den Hass, sucht mit den Mitteln der Klugheit nach dem einen Weg, auf dem gehend der Kriegshäuptling auf seiner Weigerung eines Bündnisses gegen den Kaiser beharren kann, ohne gleichzeitig vom Magier als Bedrohung für dessen Volk und Heimat eingestuft zu werden …

Als der Magier zum Sohn des Mokk und seinen kriegerischen Schwestern zurückkehrt, schaut er ihnen nachdenklich in die Augen, als suchte er nach Antwort auf Fragen, die er noch nicht gestellt hat.

„Ich werde nicht länger warten. Wenn die Darr an ihrer Dummheit sterben wollen, dann habe ich nichts dagegen einzuwenden“, bemerkt der Magier ruhig, reckt seinen Arm mit weit geöffneter Hand dem Himmel entgegen und die kleine Sonne, die er an den dunklen Nachthimmel versetzt hat, beginnt an Leuchtkraft und Größe zu verlieren und sinkt langsam dem Boden und der geöffneten Hand des Magiers entgegen.

„Warte!“, ruft der Sohn des Mokk, „Hoggo winkt mir, dich zum Rat der Krieger zu bitten. Ich glaube, der Rat hat einen Beschluss gefasst.“

Hoggo bittet den Magier und den Sohn des Mokk, im Kreis der Mitglieder des Rats Platz zu nehmen und kommt gleich zur Sache:

„Ich sehe dich in Eile, Magier, und werde mich kurz fassen: Der Rat ist zu einer Entscheidung gekommen, die sowohl aus der Sicht des Kriegshäuptlings und des Rates der Krieger, wie auch aus deiner Sicht einen Mittelweg darstellt, auf dem beide Seiten sich entgegenkommen können.

Der Rat hat beschlossen, weder mit dem Volk des Magiers noch mit dem Volk des Kaisers ein Bündnis einzugehen. Die Darr verpflichten sich für die Zeit des Krieges zwischen dem Volk des Magiers und dem Kaiser, ihre Eroberungskriege in diesem Teil der Steppe so lange auszusetzen, bis das Volk des Magiers seinen Krieg gegen den Kaiser beendet hat. Wenn du einverstanden bist, dann werden die Krieger des Rats darauf einen Eid leisten – Bist du einverstanden?“

„Nein!“, antwortet der Magier lächelnd und zeichnet mit seinem „Nein“ Verblüffung und Ratlosigkeit in Hoggos Gesicht.

„Warum nicht, Magier?“

„Ihr sollt euch auch verpflichten, in dieser Zeit nicht die Gor anzugreifen und sie nicht von ihren Weideplätzen vertreiben, so fern sie sich friedlich verhalten. Ihr würdet sie sonst in einen Krieg mit meinem Volk treiben. Zusätzlich zum Eid der Ratsmitglieder, will ich von jedem der Ratsmitglieder etwas Blut in einem Seelenbeutel sammeln.“

Wieder muss Hoggo alle Überredungskünste aufbieten, bis er dem Kriegshäuptling und dem Rat die Zustimmung abgerungen hat.

„Der Rat will wissen, welche Sicherheit du bietest, dass dir der Seelenbeutel nicht abhanden kommt. Dann wäre er einverstanden.“

„Ich habe einen ganz besonderen Seelenbeutel“, lächelt der Magier und zeigt auf einen Lederbeutel, der am Köcher für die Pfeile befestigt ist. „Gemeinsam mit dem Kristall, wird euer Blut in diesem Lederbeutel aufbewahrt. Der kann weder gestohlen noch zerstört werden. Wenn es dem Rat aber lieber ist, wäre auch einer meiner Raubvogelfreunde bereit, den Seelenbeutel in seinem Nest sicher vor jedem Zugriff von Mensch oder Tier, Freund oder Feind aufzubewahren.“

Ein kurzer Blick in die Runde des Rats bestätigt das Einverständnis mit dem Verhandlungsergebnis und Hoggo ruft laut:

„Der Magier wird gemeinsam mit den Darr die Achtbeingen bekämpfen und der Rat der Krieger unter der Führung des Kriegshäuptlings Mokk stimmt im Gegenzug dem Übereinkommen zu, wie es eben mit dem Magier verhandelt und vereinbart wurde.

Wir werden einzeln schwören, zu den Vereinbarungen zu stehen und den Eid mit Blut besiegeln…“

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„Sieh nur die vielen Verwundeten“, flüstert der Sohn des Mokk dem Magier zu, „sie sterben langsam und qualvoll, besonders die in den Netzen gefangenen.“

„Den Kriegern in den Netzen ist nicht zu helfen. Die Fangfäden brennen sich durch die Kleidung ebenso fest und unlösbar in den Körper ein, wie durch die bloße Haut. Da kann auch ich nicht helfen.“

„Die Verletzten, Magier, sie flehen uns an, sie schnell zu töten, um ihnen die furchtbaren Schmerzen zu ersparen.“

„Was sagt dein Vater Mokk dazu?“

„Er hat diesem Wunsch zugestimmt. Er bestimmt gerade die Krieger, die dies erledigen sollen. Ich glaube, sie beginnen schon den Befehl auszuführen. Viele dieser Krieger sind mit den Verletzten eng befreundet gewesen – jetzt müssen sie ihre besten Freunde töten.“

„Ja, das ist traurig, Sohn des Mokk, und wäre der Kriegshäuptling nicht so eigensinnig gewesen, dann wäre dieses traurige Töten jetzt nicht nötig. Was sagen die Krieger der Darr zu dem Starrsinn ihres Kriegshäuptlings?“

„Der Kriegshäuptling hat mächtig an Ansehen verloren. Jeder Krieger weiß, dass ihm im Kampf von allen Seiten der Tod über die Schulter schaut. Niemand würde dem Kriegshäuptling wegen der vielen Toten zürnen, wenn sie im Kampf auf dem Schlachtfeld gefallen wären, wie es in jedem Krieg unvermeidlich ist. Aber wir alle wissen, dass dieser eigenartige achtbeinige Feind für uns unbesiegbar ist. Oft genug haben wir versucht, sie zu jagen und zu erlegen. Immer vergebens. Stets wurden die Jäger zu Gejagten. Der Kriegshäuptling meines Volkes hat sich zum ersten Mal von seinem Hass anstatt von der Klugheit leiten lassen. Das wird ihm niemals vergessen werden.“

Das Gespräch zwischen dem Magier und dem Sohn des Kriegshäuptlings wird unterbrochen, als Hoggo sich den beiden nähert.

„Magier, es liegt nun bei dir, deinen Teil der Vereinbarung zu erfüllen. Wenn du es vermagst, dann bitte ich dich, mit der Vernichtung der Feinde zu beginnen.“

„Ich bin einverstanden, Hoggo. Und doch ist es zu gefährlich, sofort zu beginnen.“

„Warum? Ich glaubte, diese Feinde seien für dich leicht zu besiegen!“

„Die Achtbeinigen sind kein Problem. Aber ich habe euch schon gesagt, dass ich den Eingang in die Höllenwelt öffnen muss. Das ist gefährlich für jeden von uns.“

„Aber daran wird doch dein Versprechen, die Feinde zu vernichten, nicht scheitern! Die Krieger in diesem Lager sind notfalls bereit für ihr Volk zu sterben, wenn die Gefahr, die von den Achtbeinigen ausgeht, dadurch beseitigt werden kann.“

„Keiner, Hoggo, keiner muss sterben – aber alle könnten sterben. Jeder hat es selbst in der Hand.“

„Dann sag mir, was die Krieger tun müssen, damit möglichst viele überleben!“

„Wenn ich die Tore der tiefsten und schrecklichsten aller Höllen öffne, was wird dann wohl passieren, Hoggo?“

„Die in der Hölle eingesperrten bösen Geister und Dämonen werden aus ihrer Gefangenschaft entfliehen – aber bis jetzt war ich der Meinung, dass du selbst nicht an die Höllenwelt und die bösen Dämonen glaubst.“

„Dann wirst du hoffentlich nicht zu sehr erschrecken, wenn heute ein Dämon oder ein böser Geist zum ersten Mal in deinem Leben vor dir steht, dich umschwebt, deinen Körper von der einen Seite zur anderen durchdringt, dich Furcht und Schrecken lehrt.

Sage den Kriegern, dass sie sich auf mein Zeichen auf den Boden setzen sollen und um jeden Preis die Augen geschlossen halten sollen. Sie werden Feuergluten oder den Frost des Winters fühlen, Stürme werden durch die Steppe jagen, mit Furcht und Entsetzen könnten die Bösen der Hölle euch erfüllen. Es kann auch nichts von all dem eintreten.

Stattdessen könnte eine vollkommene Stille einen oder alle Krieger einwickeln, tiefe Nacht könnte sich in ihrem Inneren ausbreiten – alles, einfach alles ist möglich. Die bösen Geister, dringen über die Augen in eure Seelen ein – und dann seid ihr verloren.

Wer die Augen öffnet und einen der Höllenbewohner erblickt, den führt der böse Geist dorthin fort, wo kein Wesen der Welt ihm entkommen könnte. Was auch immer passiert, so lange die Krieger die Augen verschlossen halten, so lange befinden sie sich nur in geringer Gefahr.“

„Hast du schon einmal einen solchen bösen Geist gesehen, Magier?“, will Hoggo wissen.

„Nein, ich habe noch niemals die Pforten der Hölle geöffnet, weil ich sie nicht verschließen kann. Heute aber ist jemand da, der diese Aufgabe übernimmt.“

„Hm“, murmelt Hoggo, „ich habe schon verstanden, warum du den Kristall nur einmal gegen deine Feinde einsetzen kannst. Wer ist es, der sich freiwillig in diese Höllenwelt begeben will – Es kann jedenfalls kein Lebewesen sein, wie wir beide es sind. Ist es etwa auch ein Dämon oder etwa eine Gottheit, Magier? Warum aber ...“

„Es spielt für euch Darr keine Rolle, wer oder was die Pforten der Hölle von innen verschließt. Du würdest es doch nicht verstehen“, unterbricht der Magier Hoggo's Redefluss.

„Mokk wird seine Augen nicht schließen wollen, Magier.“

„Ich zwinge niemanden, die Augen zu schließen, Hoggo. Jeder der Krieger kann sich entscheiden, seine Augen nicht zu schließen – aber jeder von ihnen soll vor der Gefahr gewarnt sein.“

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Als die Nacht am dunkelsten ist, ist alles vorbereitet, um die Göttin des Silbernen Mondes auf unerklärliche Weise mit dem Kristall zu vereinigen, der nur noch schwach leuchtend aus großer Höhe ein düsteres Zwielicht in die Steppe wirft.

Einmal noch lässt der Magier die kleine Sonne hell aufleuchten, bevor er wieder seinen Arm mit der geöffneten Hand himmelwärts streckt, um den zur Sonne gewordenen Kristall endgültig wieder in seine Hand sinken zu lassen.

Während die Darr noch fürchten in der Sonne zu verbrennen, wenn diese die Erde erreicht, rast die Sonnenkugel schnell kleiner und dunkler werdend erdwärts und kommt in der offenen Hand des Magiers endlich zur Ruhe.

„Hoggo, die Krieger sollen sich jetzt auf den Boden setzen und die Augen geschlossen halten, was auch immer sie nötigt, die Augen zu öffnen. Sie können die Augen gefahrlos wieder öffnen, wenn ich sie dazu auffordere.“

„Was ist mit deinen Augen, Magier. Wirst du sie ebenfalls schließen?“

„Nein. Meine Augen bleiben offen. Als Magier kann ich mich gut gegen böse Geister und Dämonen wehren. Ich werde jetzt die “Weiße“ herbeirufen und dann die Pforten, die in das Innere des Kristalls führen, öffnen. Glaube mir, Hoggo, ich bin selbst unsagbar neugierig auf das, was sich meinen Augen darbieten wird und genauso fürchte ich es auch.“

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„Alles tot, alles verwüstet, niemand mehr übrig von den fröhlichen Menschen, die hier zu Hause waren, wo jetzt nur ausgebrannte Ruinen wie stumme Zeugen aus besseren Zeiten dem endgültigen Verfall entgegendämmern“, murmelt der Kommandant verbittert vor sich hin.

„Die Vision, die ich im Tempel hatte, ist auf grausame Weise Wirklichkeit geworden. Ich glaubte, die Gefahr käme aus der Steppe, von den wilden Reitervölkern. Ich glaubte, der Gefahr entgegenzureiten und als es Zeit war zu sterben, da war ich nicht zu Hause. Aber ich werde euch nicht noch einmal enttäuschen – euch, die ihr jetzt nur noch als Geister der Toten hier herumirrt. Ich sorge dafür, dass ihr Körperlosen Frieden finden könnt.“

Drei Tage und drei Nächte verbringt der Kommandant bei den Überresten des gepfählten Huang-tse, hält stille Zwiesprache mit dem Toten, vollzieht die Totenzeremonien für die Gepfählten, soweit der Mangel an Kultgegenständen es zulässt.

Am Morgen des vierten Tages nach seiner Rückkehr nach Pan-po, beschließt der Kommandant, das Dorf zu verlassen.

„Ich brauche eine kleine Armee“, überlegt er, „jeder Krieger von mir selbst ausgesucht und ausgebildet. Ich brauche nur wenige hundert Krieger, aus denen ich eine mobile Armee von perfekt ausgebildeten Soldaten formen werde. Diese kleine Armee wird leichtfüßig wie die Wölfe und schnell wie die Raubvögel und unsichtbar wie der Wind in der Steppe überall zuschlagen. Gegenwehr wird unmöglich sein.“

Die Gedanken des Kommandanten werden durch das Geräusch herangaloppierender Pferde unterbrochen. Eine Gruppe von Kriegern sieht der Kommandant auf sich zureiten – und doch greift seine Hand weder nach dem Schwert noch nach dem Bogen.

„Entweder“, murmelt er still vor sich hin, „bin ich vor Trauer verrückt geworden oder die Geister der Toten reiten jetzt durch die Steppe. Diese Krieger sollte ich kennen. Verdammt, es sind Krieger aus dem Dorf!“

Die kleine Gruppe der Krieger reitet in schnellster Gangart auf den Kommandanten zu, dessen Augen vor Begeisterung für einen kleinen Augenblick vor Freude hell aufleuchten.

„Kommandant, Shang-ti sei gedankt, dass wir dich wenigstens lebend und frei hier antreffen.“

„Auch ich will unserem Gott nicht länger zürnen. Hat er doch wenigstens zehn meiner Krieger aus unserem Dorf überleben lassen. Wo wart ihr, als im Dorf der Tod sein Maul aufgerissen und Väter und Söhne, Mütter und Töchter, Brüder und Schwestern und alle unsere tapferen Krieger verschlungen hat? Gibt es noch weitere Überlebende?“

„Ja, Kommandant. Fünfzig Krieger mit ihren Mädchen oder Frauen haben den Zorn der Götter überlebt. Das hast du dem klugen Yao zu verdanken. Als die ersten Kundschafter des Kaisers vor den Toren von Pan-po erschienen und als klar wurde, dass der Kaiser ein großes Heer von Kriegern gegen uns ausgesandt hat, da wusste Yao sofort, dass dies das Ende von Pan-po und seinen Kriegern und Bewohnern sein würde. Er befahl uns, solange der Feind uns noch nicht eingekreist hatte, das Dorf zu verlassen, um in einem sicheren Versteck, das Ende der erwarteten Kämpfe abzuwarten. Er hat uns strengstens untersagt, vor dem Frühjahr hier im Dorf wieder zu erscheinen.“

„Dann habt ihr euch in den Höhlen versteckt, wo wir unsere Nahrungsmittelvorräte und Waffen für den Notfall deponiert haben?“

„Ja, Kommandant. Wir waren mit Yao's Befehl natürlich nicht einverstanden. Jeder von uns, auch die Frauen und Mädchen, wollte lieber sterben, als wie Feiglinge die Zeit des Krieges in der Sicherheit eines Verstecks zu verbringen.“

„Das war außergewöhnlich klug von Yao und ihr musstet seinem Befehl gehorchen!“

„Kommandant, hätte Yao nicht so klug zu uns geredet, ich glaube, keiner von uns hätte seinem Befehl Folge leisten können.“

„Was hat er denn gesagt?“

„Er sagte, Kommandant, dass es nicht so wichtig sei, wer sterben wird und ob unser schönes Dorf niedergebrannt wird, wenn nur genügend junge Krieger und Mädchen übrig bleiben, um Pan-po aus seinen Trümmern neu entstehen zu lassen und es wieder von neuem mit Leben zu erfüllen.“

„Yao, mein lieber Freund Yao. Ich bin dir so dankbar für deine kluge und weise Voraussicht“, flüstert der Kommandant unhörbar für die Ohren der vor ihm auf ihren Pferden sitzenden Krieger.

„Im gleichen Atemzug danke ich dir, wie ich auch unserem Gott Shang-ti dafür danke, dass nicht durch meine Schuld Pan-po und alle seine Bewohner für alle Zeiten aus der Welt, aus unserem Teil der Steppe verschwunden sind.“

„Wie geht es nun weiter Kommandant?“, wollen die jungen Krieger wissen. „Wir wollen gerne sterben, wenn wir dabei Vergeltung am Kaiser üben können.“

„Seit ich euch habe“, lächelt der Kommandant, „ist alles viel leichter für mich geworden. Überall in der Steppe trifft man marodierende Soldaten des Kaisers, meistens schlecht versorgte Krieger, die sich unerlaubt aus der Armee des Kaisers entfernt haben. Wir werden sie jagen, einfangen, die besten von ihnen auswählen und mit ihnen eine kleine, aber ausgesprochen schlagkräftige Armee aufbauen.“

„Sie sollen gute Schwertkämpfer und Bogenschützen sein, diese Krieger des Kaisers, Kommandant.“

„Sie werden gute Krieger sein, meine Freunde, wenn ich sie ausgebildet habe. Auch ihr werdet von mir erst noch zu perfekten Kriegern ausgebildet. Das gilt auch für eure Mädchen. Am Ende der Ausbildung kämpft jeder von euch, Krieger oder Kriegerin, mit der Kriegslanze der Darr ebenso gut, wie die Darr und mit Schwert und Bogen werdet ihr es mit den besten Kriegern des Kaisers aufnehmen können. Ihr werdet lernen, im Umgang mit dem Feind hinterlistig und heimtückisch zu denken und zu handeln und nur gegen eure Freunde ehrlich und aufopferungsvoll und treu zu sein. Denn nur wer selbst hinterlistig und heimtückisch zu denken gelernt hat, kann Hinterlist und Heimtücke des Feindes erkennen und gegebenenfalls auch entgehen. Ihr werdet lernen, wie leicht es ist, ohne Waffe dem Feind großen Schaden zuzufügen, nur durch Lügen und Betrügen, durch Heimtücke und Hinterlist.

Ihr werdet lernen, jedes Mittel zu wollen, dass euch zum Ziel führt. Mitleid werdet ihr nur noch für eure Freunde und eure Pferde verspüren und niemals werdet ihr jemandem so trauen, wie ihr lernen werdet, eurem Kommandanten zu trauen. Ihr werdet lernen, selbständig zu denken und zu handeln, wenn ihr im Feindesland auf euch allein gestellt seid. Und mit der gleichen Leichtigkeit, mit der ihr lebt, werdet ihr auch lernen zu sterben, wenn es nötig wird …“

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Das Frühjahr weicht dem heißen Sommer und als auch diese Jahreszeit beginnt, dem Herbst zu weichen, beginnt die Jagd auf die marodierenden Krieger des Kaisers erste Früchte zu tragen. Unermüdlich trainiert der Kommandant die von ihm sorgfältig ausgewählten Krieger, die er gefangen hat. Er formt, er lobt und tadelt. Gibt den Kriegern des Kaisers, was der ihnen vorenthalten hat, gibt ihnen Anerkennung und Ehrgefühl, schenkt ihnen Vertrauen und empfängt Vertrauen. Macht Feinde zu Freunden, zu Kameraden, in deren Nähe kein Mädchen sich vor Gewalt und Schande fürchten muss, lehrt die Krieger Wahrheit und Ehre, aber auch Heimtücke und Hinterlist, Lug und Betrug als erlaubte Mittel im Krieg gegen den übermächtigen Feind…

Als der Sommer sich seinem Ende zuneigt, befiehlt der Kommandant über eine zweihundert Krieger und Kriegerinnen zählende Kriegerelite, die längst begonnen hat, unter den über den Huang-ho vorgeschobenen militärischen Vorposten des Kaisers Unruhe zu stiften.

„Ihr seid die Tod bringende Lanzenspitze einer Armee“, wendet sich der Kommandant an seine Krieger, „der nur noch der lange, schwere Schaft fehlt. Es gibt weder im Himmel noch hier unten bei uns Sterblichen bessere oder klügere Krieger als euch. Ich bin zwar euer Kommandant und ihr sollt meinen Befehlen gehorsam Folge leisten – in jeder anderen Hinsicht aber bin ich einer wie ihr, bin einer von euch.“

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Weder dem Kommandanten noch den vielen anderen Bewohnern in dem Teil der Steppe, den der Huang-ho von drei Seiten im Westen im Norden und im Osten begrenzt, ist das Licht der magischen Sonne entgangen, das noch weit über die Grenzen hinaus, die der Lauf des Gelben Flusses zieht, dunkle Nacht in hellen Tag verwandelt hat.

„Verdammt“, murmelt der Kommandant, „die Visionen erfüllen sich eine nach der anderen …“

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„Mein lieber Wu“, flüstert der Magier, „die Achtbeinigen sind weg – und mit ihnen sind auch die Darr verschwunden. Es scheint überhaupt alles verschwunden zu sein. Wohin, bei allen Göttern, ist die Steppe verschwunden, die Sonne, das Licht, der blaue Himmel mit seinen weißen Wolken? Ist dies nicht alles unbegreiflich, mein Freund, ist es nicht zum Fürchten? Ach, du bist auch verschwunden und ich bin als einziger in der Leere zurückgeblieben, in die eben noch die Erde, die Steppe, meine Heimat, Himmel, Wolken und mein Wu eingebettet waren. Wo soll ich suchen, scheine ja selbst in Leere eingehüllt zu sein. Das ist die Rache der Gottheit.“

„Hast du dies alles nicht schon einmal erlebt, diese Gespräche mit dir selbst, die unerreichbare Ferne von Dingen, die doch direkt vor dir zu sein scheinen, die nicht groß und nicht klein sind und die Unbeschreibbarkeit des Ortes und der Dinge in ihm?“

„Ja, das kommt mir bekannt vor und ist doch irgendwie anders. Ich habe den Verstand verloren.“

„Ja, falls du jemals Verstand besessen hast.“

„Vielleicht bin ich auch nur in einer Umgebung, die für die Hände des Verstands nicht zu ergreifen sind. Ja, dann wäre nicht ich verrückt, meine Umgebung ist verrückt.“

„So, wie es aussieht, bist du in gar keiner Umgebung.“

„Aber ich kann doch nicht im Nichts sein. Ich wäre dann doch selbst ein Nichts. Ich denke und ich bin mir doch meiner selbst bewusst als Huang, der Enkel des Huang-tse, als Denkender, also habe ich auch Existenz – also bin ich auch irgendwo, bin nicht im Nichts ...“

„Vielleicht schläfst und träumst du nur, werde wach und alles ist vielleicht vorbei!“

„Hm, und wenn ich es wäre, der verschwunden ist, während alles, was ich für verschwunden hielt, sich noch an dem Platz befindet, den ihm die Weisheit der Götter und der Natur bestimmt hat …?“

„Beende den sinnlosen Versuch, etwas verstehen zu wollen, was für Menschen zu verstehen nicht gedacht ist.“

„Sicher bin ich wieder auf dem Dunklen Planeten – war vielleicht noch gar nicht weg von ihm und habe möglicherweise nur geträumt, fort vom Dunklen Planeten gewesen zu sein. Verdammt, die Wirklichkeit hat keinen Henkel und die Welt der Träume und des Wahnsinns hat auch keinen Griff, an dem sie zu ergreifen wäre …“

„Wie aber kannst du diesem Wahnsinn entfliehen? Hier scheint es keinen Ausgang zu geben.“

„Es gab doch einen Eingang, den nehme ich als Ausgang.“

„Nein, nein, das funktioniert nicht. Du hast es anderen doch selbst unzählige Male erklärt, dass die Höllenwelt von innen keinen Ausgang hat, während sich der Eingang in einer gänzlich anderen Welt, in deiner Welt, befindet. Es gibt kein Zurück.“

„Die innere Welt des Kristalls wäre demnach nicht die Innenwelt des Dunklen Planeten, dem ich entkommen konnte.“

„Gegen was wolltest du hier, wo und was immer ‚hier’ auch sein mag, deine mentale Zerstörungskraft einsetzen! Was ist es, das hier zerstört werden könnte. Versuch es doch!“

Ratlosigkeit und die Furcht einflößende, unbegreifbare Umgebung, beginnen das Denken und Handeln des Magiers zunehmend zu bestimmen. Wie gern würde er jetzt den immer unerträglicher werdenden Zustand mit einem zielgerichteten Einsatz seiner Zerstörungskraft beenden, sich einen Ausweg aus der puren Ausweglosigkeit erzwingen.

Der Magier fragt nicht mehr nach Vernunft. Er lässt die vor seinem inneren Auge rotierende Klinge aufs Geratewohl sich selbst Weg und Ziel suchen, wo es keine Ziele und Wege gibt.

Unvermittelt beginnt sich alles Sein um den Magier herum noch einmal zu verändern. Wenn es ein Nichts, eine absolute Leere im Irgendwo des Sternenmeers gibt, dann ist dieses Irgendwo dort, wohin es den Magier unversehens verschlägt. Dorthin, wo ihn der Anblick der Gleichzeitigkeit aller Ereignisse der Welt der Räumlichkeit und Zeitlichkeit vom äußersten Ende der Vergangenheit bis zum letzten Augenblick der Zukunft erwartet und erschreckt. Hatte er nicht Ähnliches schon einmal erlebt – im Sonnenboot?

Ja, damals war er tot und heute ist er gefangen.

Gefangen in einer Welt ohne Wandel und Handlungsmöglichkeit – gefangen in einem Sein, das den allmächtigen Gottheiten allein angemessen und vorbehalten ist. Dem Magier ist es unmöglich, sich ohne die Hilfe einer mächtigen Gottheit zu befreien ...

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„Magier, ich muss dich unbedingt etwas fragen“, wendet sich He an den Magier und Ho und Ha fallen ihr lachend gleichzeitig ins Wort. „Ja, sie zerplatzt sonst vor lauter Neugierde.“

Seit die kleine Gruppe von Reitern vor einigen Tagen das Lager der Darr verlassen und sich auf den langen Weg in die Heimat des Magiers gemacht hat, reitet der Magier auf seinem Pferd schweigend neben seinen neuen Gefährten her, spricht nur, wenn es die Höflichkeit geboten erscheinen lässt.

„Nun, He, ich möchte nicht, dass du vor Neugier wie eine reife Melone, die auf den Boden fällt, zerplatzt“, antwortet der Magier mit leisem Lächeln im Gesicht, das die jungenhafte Frische verloren zu haben scheint.

„Jeder der Krieger, mit dem ich gesprochen habe, hat in dem kurzen Augenblick, in dem du die Achtbeinigen in deinem Kristall hast verschwinden lassen, etwas sehr Merkwürdiges in der Art eines nächtlichen Traumes erlebt – und jeder hatte den gleichen Traum. Willst du wissen, welchen Traum sie hatten?“

„Nein!“

„Hast du auch geträumt, Magier?“

„Ich weiß es nicht, He“, antwortet der Magier wahrheitsgemäß. Sein treuer Freund Wu hatte ihn nicht für den kleinsten Augenblick aus den Augen gelassen in der Zeit, als er das Eingangstor zur Innenwelt aufgestoßen zu haben glaubte und doch war außer dem schlagartigen Verschwinden der Achtbeinigen im unfehlbaren Gedächtnis seines Wolfs nicht der geringste Hinweis enthalten, der auf Ungewöhnliches hingedeutet hätte.

„Was weißt du nicht?“

„Die Wirklichkeit hat keine Henkel, meine ich, und Träume haben keinen Griff …“

„Hm“, antwortet He verwirrt und „Hm“, schallt es einfallslos von den Schwestern zurück.

„Hast du die Antwort gehört, Bruder? Ich glaube, der ist total verrückt geworden! Wie kann denn ein Traum einen Griff haben und wozu …?“

„Er ist rätselhaft“, antwortet der Sohn des Mokk, „aber wäre er nicht rätselhaft, dann wäre er auch kein Magier. Vielleicht wollte er dir nur das mitteilen.“

„Als Bogenschütze wäre er mir wesentlich lieber. Welches Mädchen versteht schon einen Magier…!“

„Ich glaube fast, du magst ihn, den Bogenschützen, der sich weigert ein Krieger zu sein.“

„Unsinn, du Blödmann, ich habe nur Mitleid mit ihm!“

„Du hast dir heute Morgen dein Haar gekämmt und geflochten und wenn du ihn heimlich anschaust, dann funkeln deine Augen … vor Mitleid natürlich!“, lacht der Bruder fröhlich und freut sich über die Röte, die für einen Moment über das Gesicht der Schwester huscht.

„He“, neckt der Sohn des Mokk die Schwester, „nach unseren Vorstellungen ist der Magier sogar ein reicher Mann mit all den Pferden und Waffen, die er im Kampf gegen die Krieger des Kaisers erbeutet hat.“

„Ja, Bruder, ich wollt, ich hätte eines der Schwerter und einen der wunderbaren Kriegsbögen, von denen der schlechteste viel besser ist, als der beste Bogen, den ein Darr je besessen hat …“

„Ja, es müssen herausragende Krieger gewesen sein, die so edle Waffen besessen haben.“

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Ein ereignisloser Tag folgt dem anderen. Die Schweigsamkeit des Magiers scheint ansteckend zu wirken und als die kleine Gruppe von Reitern so viele Tage wie drei Hände Finger haben unterwegs ist, sind auch Ho und Ha endgültig verstummt.

Die Sonne steht kurz vor dem Höhepunkt ihres gebogenen Himmelswegs, als der laute Schrei eines Adlers hoch über den Köpfen der Reiter die vor sich hin Träumenden aus ihren Gedanken und Träumereien reißt. Der Magier streckt einen Arm aus und der Raubvogel fällt im Sturzflug hinunter. Neugierig beobachten die Gefährten, wie der Raubvogel sein Gesicht dem des Magiers nähert, als hätte er ihm Wichtiges zu flüstern.

„Hat dein geflügelter Freund dir Neuigkeiten mitgeteilt?“, fragt He neugierig und auch die anderen

Gefährten können ihre Neugierde kaum beherrschen.

„Nein“, antwortet der Magier kurz und lenkt sein Pferd aus der ursprünglichen Richtung einem neuen Ziel entgegen.

„Und warum änderst du gegen unsere ursprüngliche Absicht die Richtung, die in deine Heimat führt, die wir wohl nie erreichen werden, wenn wir der neuen Richtung folgen?“

„Jede Antwort auf ein Rätsel, meine liebe He, ist die Mutter für zehn neue Rätsel.“

„Werden wir auf Feinde treffen, Huang?“, lässt He nicht locker.

„Schon möglich.“

„Du weißt, ich bin gänzlich unbewaffnet, Huang. Da fühlt sich kein Krieger wohl in seiner Haut.“

„Was für Waffen hättest du gern, He?“

„Wäre es unehrenhaft, Huang, wenn ich mir ein Schwert und einen Kriegsbogen mit Köcher und Pfeilen aus deiner Beute wünsche?“

„Ich habe nichts dagegen einzuwenden, He. Aber deine Augen schweifen in die falsche Richtung. Die Waffen des Anführers der kaiserlichen Delegation, die wir so überaus freundlich willkommen geheißen haben, sind für meinen Freund Yao bestimmt. Jeder Bogen und jedes Schwert aus der Beute, die von unseren Lastpferden hinter uns her getragen werden, ist von außergewöhnlicher Qualität. Der Waffenschmied dieser Schwerter ist den Waffenschmieden in meiner Heimat so überlegen, wie die Götter den Menschen. Die Waffen auf dem ersten unserer Lastpferde sind für meine Freunde in der Heimat bestimmt, ansonsten überlasse ich dir die Auswahl. Ich sehe auch, dass der Sohn des Mokk noch kein Schwert besitzt. Wenn er will, dann soll er sich ebenfalls ein Schwert und einen Bogen aussuchen.“

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Der Gelbe Kaiser

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