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I. Epoche und Literatur

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Gottfried der ‚Klassiker’

Gottfrieds Tristan, einziges ihm sicher zuzuschreibendes Werk, lässt sich auf um 1210 datieren. Damit gehört er zu einer von ungefähr 1170 bis 1230 reichenden Epoche der deutschen Literatur, die immer schon besonderes Prestige genossen hat. Die Folgen reichen bis heute: Gottfried und andere Autoren aus dieser Zeit sind auch in außerwissenschaftlichen Kreisen noch immer präsent; und wissenschaftsintern wurden ihre Werke intensiver und aspektreicher untersucht als andere – obwohl solche im Rahmen neuerer Paradigmen sicher nicht weniger Bedeutung für ein Gesamtbild besitzen. Die ‚mittelhochdeutsche Klassik’ hat wesentliche Grundlagen für die weitere Entwicklung geschaffen – repräsentativ für ‚die’ deutsche Literatur ‚des’ Mittelalters ist sie nicht. Das gilt umso mehr, wenn man sich vergegenwärtigt, dass eine Reihe ihrer sprachlichen, ästhetischen, inhaltlichen Standards ab ca. 1250 wieder teilweise verschwindet – Folge veränderter Ansprüche und Moden. Dies zu berücksichtigen, sollte vor einer Verabsolutierung literarischer Maßstäbe in die Gegenwart hinein warnen. Gottfrieds Tristan nicht als ästhetisches Meisterwerk zu feiern, käme einem Sakrileg gleich – wiewohl auch die Wissenschaftsgeschichte immer wieder divergierende Wertungen hervorgebracht hat. Theoretisch ist eine normative Poetik überholt; in der Praxis findet man immer noch Spuren.

Die früheste Epoche deutscher Schriftliteratur

Deutschsprachige Schriftliteratur existiert seit dem 8. Jh., wird Mitte des 10. Jhs. für ungefähr hundert Jahre unterbrochen und setzt erst danach wieder neu ein. Sie war anfänglich eine Domäne geistlicher Autoren – nur sie konnten zunächst lesen und schreiben – und besaß mit wenigen Ausnahmen auch ihr inhaltliches Hauptgewicht im Bereich religiöser Themen. Selbst Genres, die eigentlich weltanschaulich ‚neutral’ sind, wurden oft zu religiösen Zwecken funktionalisiert oder religiös überhöht. Den offiziellen Schwerpunkt bis 1050 stellte ‚pastorale Gebrauchsliteratur’ dar: Übersetzungen religiöser ‚Basistexte’ für die noch nicht lange missionierten Sprachteilhaber. Aber schon in dieser Anfangszeit kann man bei den klerikalen Schreibern so etwas wie eine mediale Verselbständigung feststellen. Sie beschränken sich bei der Abfassung deutscher Schrifttexte nämlich keineswegs auf die ‚Grundversorgung’ der Laien mit Literatur der o.a. Art, sondern entdecken weitere Möglichkeiten. Vielleicht schon simultan, jedenfalls nicht mit großer zeitlicher Verzögerung entstehen freie Übersetzungen oder neu verfasste Texte, als deren Publikum man sich kaum Laien aus dem einfachen Volk’ vorstellen kann, wie z.B. Otfrieds von Weißenburg Evangelienharmonie, Rechtstexte, dokumentierend-panegyrische Hofdichtung nach Art des Ludwigsliedes, der Heliand und die Genesis. Hier wird sich schon das repräsentative Potenzial von Schriftliteratur geltend gemacht haben bzw. die Entdeckung der Speicherfähigkeit des Mediums Schrift. Bald nach ihrer Entstehung wachsen der deutschsprachigen Schriftliteratur also neue Anwendungsbereiche zu. Und sogar Texte, die angesichts ihrer Herkunft aus der vorchristlichen Kultur unter dem Verdikt des ‚Heidnischen’ standen (Zaubersprüche, Hildebrandslied) finden ihren Weg aufs Pergament, wenn auch aus unbekannten Gründen und (wie überhaupt die meisten deutschen Texte der Frühzeit) nur als ‚Füllsel’ in ansonsten lateinische Texte enthaltenden Handschriften. Dass deutsche Schriftliteratur kirchlicherseits eigentlich nur auf eine Art religiöser Grundbelehrung zielte, lässt sich daraus entnehmen, dass sie 815 per Erlass beendet wurde. Ein Jahr nach dem Tod Karls des Großen, der ihr dieses Ziel gesetzt und für seine Erreichung gesorgt hatte, wurde das Vorhandene als für die Zwecke der Laien ausreichend deklariert und weitere Produktion untersagt. Traditionen konnte die deutsche Schriftliteratur vor 1050 so gut wie nicht ausbilden, mithin auch keine Kontinuität. Beides kann man erst ab der nächsten Epoche beobachten – seit dann allerdings ohne Unterbrechungen und auch schon mit deutlich ausgeprägten Phänomenen der Intertextualität.

Schriftlichkeit und Mündlichkeit

Schriftlichkeit stellte oft eine Zwischenstufe zur erneuten Mündlichkeit dar; deutschsprachige Schrifttexte wurden vorgelesen oder vorgetragen, nicht in Privatlektüre rezipiert – was wegen der bis ins 16. Jh. noch nicht verbreiteten Lesekenntnisse noch länger so bleiben wird. Dass die religionspolitisch induzierte offizielle ‚Beendigung’ 815 erst nach mehr als 100 Jahren Wirkung zeigte, beweist, dass deutsche Schriftliteratur schon durch Selbstläufereffekte gekennzeichnet war – ein mediales Phänomen, das sich auch anderwärts beobachten lässt: Sobald man sich an ein neues Medium gewöhnt hat, wird es auch unabhängig von vorgegebenen Funktionen genutzt.

Verselbständigung des Mediums

Die Volkssprachen galten theologisch gegenüber den sacrae linguae, den heiligen Sprachen Hebräisch, Griechisch, Latein als minderwertig. Diese Minderwertigkeit war nicht nur religiös begründet, sondern auch ästhetisch. Mit der rhetorischen Gestaltung des Deutschen nach Maßgabe der antiken Rhetorik, mit seiner Ästhetisierung durch Formen der gebundenen Rede und auch durch die Tatsache der Verschriftlichung wurde die deutsche Sprache aufgewertet. Das gilt umso mehr dann, wenn deutsche Schriftliteratur in den Dienst neuer kultureller Muster tritt: die des Adels nämlich und nicht mehr nur solche der Kirche. Der Anstieg der Produktion weltlicher Schrifttexte in deutscher Sprache lässt auf Dauer einen Fundus an Literatur entstehen, der ein Gegengewicht gegen die religiöse Literatur bildet. Im Bereich dieser deutschen Literatur selbst kehren sich die Verhältnisse zwischen 1170 und 1250 sogar rasch um: Die Überlieferung scheint zu zeigen, dass weltliche Lyrik und Epik in diesem Zeitraum deutsche religiöse Literatur zeitweilig fast verdrängt haben. Die Möglichkeiten, die das Speichermedium Schrift bietet, führen allerdings auch zu neuen Anforderungen an die Autoren: Mündliche Kulturen sind systemimmanent ‚vergesslich’ – behalten und weitergegeben wird nur, was aktuelle Verwendung findet; schriftliche Kulturen dagegen häufen Wissen an – was die Auseinandersetzung mit Quellen nötig macht; einen deutlichen Reflex darauf stellen etwa die Quellenräsonnements im Tristan dar.

Frühmittelhochdeutsche Literatur

Der entscheidende Schritt auf dem Weg zur Entwicklung und Kontinuität wurde jedoch, nur scheinbar paradoxer Weise, zunächst von der frühmittelhochdeutschen Geistlichenliteratur (ungefähr 1050 bis 1160) vollzogen. Sie stand wahrscheinlich im Kontext eines Versuchs der ‚Binnenmissionierung’ des weltlichen Adels durch die Kirche. Im Unterschied zur althochdeutschen Epoche war das Christentum mittlerweile fest etabliert; die wesentlichsten Glaubensgrundsätze waren bekannt, religiöse Gebrauchstexte in deutscher Sprache vorhanden. Die Kirche sah es nun als ihre Aufgabe an, die Inhalte der christlichen Religion zu festigen und religiöses Wissen auszubauen. Hatte man bei der Missionierung der ‚heidnischen’ Bevölkerung meist bei den Führungsschichten angesetzt, so gingen die klerikalen Verfasser dieser Literatur den gleichen Weg: Die neuen Texte waren, soweit feststellbar, überwiegend für die weltliche Führungsschicht, den Adel gedacht. Und es gibt ab 1050 noch eine zweite literatursoziologische Änderung: Die Autoren sind zwar nach wie vor Kleriker, aber nicht mehr Mönche, sondern überwiegend Weltgeistliche, die nicht relativ abgeschieden in Klöstern lebten, sondern im engeren Kontakt mit ihrem Publikum (Hofkapläne etwa). Der Adel muss ein Interesse an den neuen religiösen Texten gehabt haben – denn er finanzierte sie. Die religiöse Schriftliteratur vor 1050 hatte zur bisherigen weltlichen, von mündlicher Überlieferung getragenen Literatur des Adels (Heldenlieder, Herrscherlobdichtung, genealogische Überlieferungen) in einem doppelten Konkurrenzverhältnis gestanden: Mündliche Literatur galt dem Adel als bewährtes Medium, aus dessen Inhalt man historisches Wissen und Selbstwertgefühl bezog. Das neue Medium der Schrift wurde dagegen vom illiteraten Adel zunächst eben wegen seiner Neuheit und Undurchschaubarkeit/Unbeherrschbarkeit eher mit Misstrauen betrachtet. Schriftliteratur stellte nur eine kleine Enklave in einer ansonsten in wesentlichen Lebensbereichen von Mündlichkeit geprägten Gesellschaft dar. Die Kirche ihrerseits versuchte, die traditionelle mündliche Literatur zu diskreditieren – wegen ihrer Inhalte, die sich oft kaum mit dem geistlichen Wertesystem in Übereinklang bringen ließen, und wegen ihrer ‚Unzuverlässigkeit’ (mündliche Überlieferung führt eher zu Änderungen und Verlusten als schriftliche). Der christliche Klerus als Vertreter einer sog. ‚Buchreligion’ sah im Medium der Schrift etwas Höherwertiges. Ursprünglich hatten sich also unter klerikaler Perspektive folgende Gegensatzpaare ergeben:

Schriftliteratur mündliche Literatur
religiös weltlich
wahr unwahr
lateinisch volkssprachlich

Durch die Entstehung deutscher religiöser Schrifttexte wurde eine solche Parallelsetzung aufgebrochen. Hauptsächlich drei Gründe kommen für das Interesse des Adels an der neuen geistlichen Schriftliteratur ab 1050 in Frage: 1. Angesichts der Einbindung der Religion in die Gesellschaft wurden religiöse Inhalte ernst genommen. Man hielt sich zwar oft nicht an die Vorschriften dieser Religion, erkannte aber prinzipiell ihre Bedeutung an und verlangte nach Belehrung. 2. 300 Jahre nach der Entstehung deutschsprachiger Schriftliteratur wurde Schriftlichkeit auch vom selbst noch überwiegend illiteraten Adel nicht mehr als ‚fremd’ wahrgenommen; sie war immer noch eine Ausnahme, aber zumal in religiösen Kontexten mittlerweile etwas ‚Normales’ – wegen ihrer Seltenheit aber gleichzeitig etwas Besonderes. Da sie materiellen und zeitlichen Aufwand erforderte, eignete sie sich für repräsentative Zwecke. Die Abfassung religiöser Texte zählte als ‚gutes Werk’, und ein Adliger, der solche Literatur in Auftrag gab, bewies materielle Potenz ebenso wie religiöse Qualitäten. 3. Repräsentativ ist diese Literatur aber noch in einem anderen Sinn – als sprachliches Kunstobjekt nämlich. Wegen ihrer Form (durch Reim und Metrik gebundene Rede, also nicht Prosa) wurde sie ästhetischen Ansprüchen gerecht und war daher zur ästhetischen Überhöhung und zum Ersatz der traditionellen Adelsliteratur geeignet. Auch die Gebundenheit der Verfasserschaft an Kleriker löst sich in Ansätzen auf. So gibt es etwa den Fall, dass nicht erbberechtigte Söhne von Adligen ins Kloster gehen, dort eine klerikale Ausbildung auf der Basis von Schreiben und Lesen durchlaufen und sich dann relaikalisieren lassen, wenn der erbberechtigte Bruder stirbt. Über sonstige Faktoren, die die Literarisierung des weltlichen Adels gefördert haben könnten, weiß man wenig; anders als in Frankreich scheinen alphabetisierte Adlige in Deutschland zunächst seltener gewesen sein.

Zentralhöfe

Um 1150 entstehen in Gesellschaft und Kultur einige Faktoren, die in ihrem Zusammenwirken eine weitere Entwicklung der deutschen Literatur befördert haben. Aus der Vielzahl von Adelshöfen, die sich vorher in Struktur und Größe noch wenig unterschieden hatten, entwickelten sich einige zu Zentralhöfen mit Residenzcharakter. Bisher hatten Adlige ihre Herrschaft weitgehend direkt ‚vor Ort’ ausgeübt, indem sie, zusammen mit ihrem Hofstaat, permanent ihr Herrschaftsgebiet durchreisten’. Die Höfe neuer Art waren u.a. durch den Ausbau des Verwaltungsapparates gekennzeichnet, für den auch Schriftlichkeit eine zunehmende Bedeutung hatte (Kanzleien, Archive). Entsprechend der mittelalterlichen Option für die Konkretisierung abstrakter Konzepte durch sinnlich wahrnehmbare Gegenstände und Vorgänge lässt sich an den Höfen ein gesteigerter Repräsentationsbedarf feststellen. Durch ihre gewachsenen Funktionen stellten die Höfe auch einen Anziehungspunkt für karrierewillige Adlige dar, und das Zusammenleben von mehr Menschen beförderte nicht zuletzt die Sphäre der Geselligkeit und den kulturellen Austausch mit anderen Höfen. In den Dienst dieser kulturellen Repräsentation trat auch die Literatur – wozu sie sich allerdings inhaltlich umgestalten musste. Denn das gewachsene kulturelle Selbstbewusstsein des Adels verlangte nach Texten, welche die alten und vor allem die neuen Bestandteile des adligen Selbstbildes zur Geltung brachten: also nach weltlichen Inhalten, in deren Kontext sich kulturelle Konzepte und Wünsche spiegelten und die formalen und sprachlichen Ansprüchen gerecht werden konnten. Eine gewichtige Rolle bei dieser Entwicklung spielt der Einfluss der französischen Hofkultur. Diese wurde ab ca. 1150 in Deutschland offenbar als Vorbild empfunden und breit rezipiert – häufig inklusive der entsprechenden Lexik; sogar Wortbildungsmaterialien werden übernommen (dt. Verb-Endung -ieren aus der burgund.-frz. Endung -ier; dt. Substantiv-Endung -îe, nhd. zu -ei geworden, aus frz. -ie; afrz. ley = ‚Art’ wird im Deutschen als Endung -lei an einige Adjektive angehängt). Französische Texte wurden zu Stofflieferanten für die deutsche Epik; damit ging bis um 1250 ein Wechsel von lateinischen zu französischen Übersetzungsvorlagen einher. Auch die zunächst anscheinend autochthon entstandene deutsche Liebeslyrik des Adels, der Minnesang, gerät inhaltlich und formal bald unter den Einfluss nordfranzösischer und südfranzösischer (provenzalischer) Liebeslyrik. In der Epik wird durch die Übersetzungen antiker Stoff erschlossen. Das Interesse an ihm hat man u.a. dadurch erklärt, dass seine Rezeption eine Möglichkeit des ‚Austestens’ neuer kultureller Muster ermöglichte: Wurde die Artikulation adligen Selbstwertgefühls von der Kirche stets mit Misstrauen betrachtet, so konnte die Präsentation antiker Stoffe wegen deren Bindung an die ‚heidnische’ Kultur durch ihren gleichsam historischen Charakter exkulpiert werden, aber über ihre Inhalte das adlige Interesse an Themen wie Liebe, Kampf, Prunkentfaltung befriedigen. Die frz. Epik wird in Deutschland aber nicht nur als Vermittlerin antiker Stoffe funktionalisiert; sie liefert auch ihre eigenen Stoffe, vor allem die (über England?) aus dem Keltischen stammende sog. matière de Bretagne (‚Stoff aus der Bretagne’). Dazu gehört auch der Tristan-Stoff, vor allem aber die Artussage, über die Ritter der Tafelrunde mit dem Grals-Stoff verbunden, inklusive ihrer durch Anlagerung von Handlung an einzelne Ritter der Tafelrunde entstandenen Verästelungen.

Höfische ‚Tugenden’

Die erste deutsche Bearbeitung des Tristan-Stoffes ist Eilharts von Oberg Tristrant (um 1170). Prägend für die Rezeption des Artus-Stoffs war Hartmann von Aue mit den Epen Erec (um oder nach 1185) und Iwein (um oder nach 1200), beide verfasst nach Epen Chrétiens de Troyes. Dabei hat der Erec insofern eine besondere Stellung, als in ihm erstmals das neue personale Leitbild adligen Selbstwertgefühls erscheint – der Ritter. Das Wort bezeichnete ursprünglich einen im Adelsdienst stehenden Unfreien. Im Erec werden nun auch Adlige als Ritter bezeichnet, was ohne eine Bedeutungsverbesserung unlogisch wäre. ‚Ritter’ verdrängt nicht nur allmählich ältere Heldentermini wie degen, wîgant, guot kneht, sondern gewinnt zusätzliches Profil durch die Übernahme von Attributen des frz. chevalier; der neue Ritter-Held ist nicht nur tapferer Kämpfer, sondern engagiert bei der Hilfe für Bedrängte, schön, höfisch gebildet, höflich, elegant, sprachlich-kommunikativ versiert, zuvorkommend gegenüber den Damen, staete (beständig und zuverlässig), der mâze verpflichtet (Ausgewogenheit im Wollen und Verhalten) und triuwe (‚treu’ in einem umfassenden, gleichsam juristischen Sinn der Einhaltung von Verpflichtungen). All dies gipfelt in der ‚Leit-Tugend’ des (nicht übersetzbaren, sondern nur zu paraphrasierenden) hôhen muotes, einer permanenten ‚Hochgestimmtheit’. Schon die Bündelung all dieser Tugenden verweist darauf, dass es hier um literarische Stilisierungen geht, nicht um die Abbildung von Realität. Gleichwohl hatten Bestandteile der Realität Einfluss auf das Ideal. In Bezug auf die Kirche ist etwa auf Versuche der Pazifizierung des Kriegeradels hinzuweisen; die gesellschaftlichen Ideale wurden geformt von den Ansprüchen des o.a. neuen Hof-Typus.

Das Bild der literarischen Szenerie der Großepik vor und zur Zeit Gottfrieds wird komplettiert durch schriftliterarische Bearbeitung von Stoffen aus im weitesten Sinn einheimischer Tradition. Zu nennen sind hier vor allem die Anonyma Herzog Ernst (deutsche Reichsgeschichte) und König Rother (langobardischer Stoff?). Und um 1200 wird mit der Verschriftlichung des Nibelungenlieds auch die sog. Heldenepik für die neue Literatur erschlossen. Die Verschriftlichung mündlicher Stoffe war wohl ebenfalls Folge einer zunehmenden Bewusstwerdung der Möglichkeiten des Mediums Schrift, das potenziell geeignet ist, die Gesamtheit des kulturellen Wissens zusammenzufassen, abzuspeichern und präsent zu halten.

Wenn man in Bezug auf das Mittelalter von ‚deutscher’ Literatur redet, ist das missverständlich: Es gab nicht wie heute eine Literaturproduktion, die flächendeckend für alle deutschen Sprachteilhaber gedacht und von diesen erreichbar gewesen wäre. Immerhin gibt es Ansätze zu einer Regionalisierung, zu einer Vernetzung, deren ‚Knoten’ die o.a. Zentralhöfe darstellen. Die Autoren stellen sich sogar schon auf die Möglichkeit überregionaler Rezeption ein, indem sie sich nämlich z.T. um Reime bemühen, die in allen deutschen Dialekten rein sind. Bemerkenswert ist, dass die mhd. Literatur mit der ‚höfischen Dichtersprache’ ein Phänomen hervorgebracht hat, das man in der Linguistik ‚Funktiolekt’ oder ‚Register’ nennt. Dabei handelt es sich um eine (hier schriftsprachliche) Ausprägung, die nur für einen ganz bestimmten Bereich der Kommunikation gedacht ist. Die höfische Dichtersprache ist also kein Soziolekt (auch der Adel spricht im Alltag nicht so, wie in den Texten gesprochen wird), und sie kann auch nicht als Fachsprache gekennzeichnet werden (dazu ist der allgemeinsprachliche Anteil zu groß). Als eine ‚situative Varietät’ ist dieser höfische Funktiolekt nur für die literarische Kommunikation am Hof gedacht und darauf zugeschnitten. Neben Wortentlehnungen und Lehnprägungen lassen sich als Spezifika dieser Varietät auch Stilistika beobachten (Personifikationen, passivische Konstruktionen, Nominalstil). Ferner kommt es durch den Einfluss einzelner Autoren dazu, dass aus deren heimischem Dialekt Wörter in die allgemeine Dichtersprache übernommen werden.

Regelpoetik

Aus klerikaler Perspektive hierarchisiert, sind Deutsch und Latein im Bereich des Mediums Schrift durch einen besonderen Umstand verbunden: Wer Schreiben und Lesen lernte, konnte dies nur an einer kirchlichen Bildungseinrichtung. Gelernt wurde (mit gelegentlichen propädeutischen Ausnahmen) an lateinischen Texten – an lateinischer Fachliteratur ebenso wie an lateinischer Dichtung. Auch für die Abfassung dichterischer Texte war zuständig das Trivium, die drei ersten Fächer der septem artes liberales. Die Grammatik lehrte das sprachlich richtige, die Dialektik das logisch richtige Schreiben; der Schwerpunkt lag jedoch auf der Rhetorik, die lehrte, wie man Texte ‚schön’ gestalten konnte, so dass die Ästhetik die sachliche Richtigkeit und ‚Gutheit’ des Inhalts hervorhob. Über die Bezeichnung ars waren die artes liberales mit anderen Wissensbereichen verbunden; wie das mittelhochdeutsche kunst konnte ars auf mindestens drei Bereiche angewendet werden, die heute terminologisch getrennt sind: auf Wissenschaft, Handwerk und Kunst. Diese Nomenklatur rechtfertigte sich durch die Überzeugung, dass der Erwerb von Fähigkeiten in allen Fällen als gleich gedacht wurde: Man konnte lernen, ein guter Handwerker, ein guter Wissenschaftler und eben auch ein guter Autor zu sein. Das Lernen erfolgt nach Regeln; deren Anwendung garantierte auch für Texte Qualität. Grundlage, vor allem im Unterricht, bildeten antike Lehrschriften. Seit dem 12. Jh. entstehen neue Poetiken; sie sind ebenfalls auf Latein verfasst, bringen aber neue Impulse. Deutsche volkssprachliche Poetiken gibt es noch nicht – poetologische Vorstellungen werden jedoch in den Dichtungen selbst artikuliert, besonders in Prologen und Exkursen (vgl. den ‚Literaturexkurs’ im Tristan), und hier stößt man auch auf spezifischere Vorstellungen gegenüber der lat. Regelpoetik. Im Vergleich zum Autorkonzept des 18. Jhs., das unsere heutigen Vorstellungen noch prägt, ist also der mittelalterliche Autor einerseits im Bewusstsein des zeitgenössischen Publikums eine eher mediokre Größe: Er ist an Regeln gebunden und kein ‚Genie’ – der Topos ‚göttlicher Inspiration’ hat dazu nur vage Analogien; seinen Stoff darf der Autor nicht erfinden, sondern muss ihn finden, also bereits vorhandenen Stoff übernehmen (inventio-Lehre der Rhetorik); er sucht sich, zumindest bei umfangreicheren Texten, sein Publikum nicht selbst, sondern verfasst seine Werke im Auftrag, weswegen der Auftraggeber inhaltlich und formal beträchtlichen Einfluss hat. Aber in der Praxis entwickelt die höfische Literatur Eigengewicht und neue Vorstellungen, trifft eine Auswahl, sucht sich neue Vorbilder – und zwar eben auch in den eigenen Reihen – und verwirft andere. So lobt und kritisiert Gottfried im Literaturexkurs des Tristan deutsche Autoren und befreit sich im Prolog vom Image eines bloßen Auftragsdichters durch die Konstruktion einer idealen Rezeptionsgemeinschaft. Aber Traditionen machen sich ebenfalls geltend – im Stofflichen auch über die direkte Vorlage hinaus: In der Schilderung der Minnegrotte stellt Gottfried den Bezug zur Antike her; ferner erwähnt er Gestalten aus der antiken Mythologie und Geschichte (z.B. Apollon, Aurora, Dido, Kassandra, Orpheus, Helikon und Kythäron als Sitz der Musen, die Sirenen, Thisbe, Phyllis von Thrakien). Sein eigentlicher Stoff entstammt der matière de Bretagne; durch die Erwähnung von Artus und dessen Tafelrunde zitiert er dessen zweiten, von der Überlieferung her weitaus größeren Bereich herbei – und zwar im Sinn einer Überbietung (das Leben in der Minnegrotte übertrifft das am Artushof Vorfindbare). Eine direkte Verbindung beider Themenkreise wird dadurch hergestellt, dass der Herkunftsort des Hündchens Petitcreiu nach Avalon verlegt wird, der ebenfalls aus der Artussage bekannten Feeninsel. Gottfried flicht nicht nur einzelne französische Wörter und Wendungen in den Tristan ein, sondern kennt mindestens zwei französische Tristan-Epen. Eine vage Anspielung auf die deutsche Stofftradition und Geschichte enthält die Erwähnung von Karles lôt, d.h. des traditionell als gleichermaßen streng wie gerecht geltenden ‚Gesetzes’ Karls des Großen. Vor allem Gottfrieds unter den deutschen Autoren seiner Zeit hervorstechenden rhetorischen Fähigkeiten verraten seine intensive Vertrautheit mit den Schulrhetorikern; er scheint aber auch von den neuen zeitgenössischen lateinischen Poetiken zumindest die des Matthäus von Vendôme gekannt zu haben – und Werke deutscher Autoren. Wie diese entwickelt er im Rahmen der Tradition distinkte literarische Techniken.

Einführung in das Werk Gottfrieds von Straßburg

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