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Politische Horizonte des Neuen Testaments. Perspektiven einer neuen Fragestellung

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In den politischen Debatten unserer Gegenwart geht es um Entscheidungsfragen, die meist weit über die Tagespolitik hinausreichen. Dabei spielen Wertvorstellungen, Menschenbilder, Gesellschaftsmodelle eine entscheidende Rolle. Sie werden meist in ihrer Gültigkeit und Schlüssigkeit vorausgesetzt, ohne eigens diskutiert und auf ihre Herkunft, Plausibilität oder Bedeutung hin befragt zu werden. Ob Gentechnik oder Embryonenschutz, ob Energiepolitik oder Atomausstieg, ob Fragen des Alters oder der Menschenwürde, des Wirtschaftswachstums oder der Nachhaltigkeit, des Klimawandels oder militärischer Auslandsengagements – keine der konkret zu fällenden Entscheidungen ist, von der politischen Machtverteilung und den Stimmenverhältnissen abgesehen, wirklich vorprogrammiert, und jede der Problemlagen hat ihre eigene Vor- und Nachgeschichte.

Auch die Wertvorstellungen, die in die öffentlichen Diskussionen solcher Themen eingehen, haben ihre eigene Geschichte. Manche reichen zurück bis in die Schriften des Neuen Testaments. Diese Schriften haben unsere Vorstellungen von Gleichheit und Menschenwürde, von Freiheit und Selbstbestimmtheit, von sozialem Ausgleich und Solidarität, von Fürsorge und Gewaltverzicht auf dem langen und widersprüchlichen Weg ihrer Wirkungsgeschichten entscheidend geprägt. Immer wieder dienten sie da, wo es um Menschlichkeit und gesellschaftlichen Fortschritt ging, als entscheidende Referenztexte, auch da, wo staatliche und kirchliche Repressionen dies zu verhindern suchten. Immer wieder wurden diese Texte als autorisierte Markierungen eines humanum gelesen und argumentativ gegen die Deutungsmacht hegemonialer Interpretationsansprüche in Anschlag gebracht.

Immer wieder wurde auf diesem Weg deutlich, wie problematisch, ja menschenfeindlich jede politisch instrumentalisierte Auslegung ist. Texte des Neuen Testaments wurden zur Rechtfertigung allen erdenklichen gesellschaftlichen und politischen, militärischen und wirtschaftlichen Unrechts missbraucht. Das Zutrauen in ihre humanisierende Kraft ist jedoch nicht erloschen.

Dieses Zutrauen weiß um die Instrumentalisierbarkeit der Texte, ihren Missbrauch in der Geschichte, ihren Autoritätsschwund und die Ohnmacht ihrer Argumente. Dennoch setzt es darauf, in ihnen immer neue Impulse für ein zukunftsfähiges politisches Handeln zu entdecken. Die Lesarten, die hier zu entwickeln sind, setzen die Freiheit und Selbstbestimmtheit der Lesenden voraus. Sie erfordern den Mut, in der Vielstimmigkeit der Interpretationen auf die Vielstimmigkeit des Neuen Testaments zu hören, seinem Autoritätsanspruch standzuhalten und sich mit der antiken Fremdheit dieser Texte auseinanderzusetzen. Eine solche Interpretationspraxis bedarf nicht nur der öffentlichen und institutionalisierten Unterstützung in schulischem Unterricht und kirchlicher Auslegung, sondern auch wissenschaftlicher Grundierung und Reflexion.

Blicken wir auf die politischen Debatten unserer Gegenwart, so haben die beiden Stichworte Politik und Neues Testament auf den ersten Blick jedoch nicht viel miteinander zu tun. Gehört das Neue Testament nach allgemeiner Auffassung in den Bereich von Religion und Kirche, so meint man mit ‚Politik’ gesellschaftliche Praxis, Umgang mit Macht, Konfliktlösung. Jedoch hat jede politische Praxis ihre Theorie, und in diesem Feld stellen sich Fragen ganz grundsätzlicher Art ein. Was sind die Kriterien guter Politik, auf welche Voraussetzungen bezieht sich politisches Handeln, wie sind die Bedingungen zu diskutieren, unter denen politische Entscheidungen fallen, welche Auffassungen von Gesellschaft oder gar Menschsein, von gutem Leben, werden jeweils berührt? Fragen wie diese gehen weit über die je konkrete politische Praxis hinaus – und schlagen sich doch in ihr nieder. Die Denkarbeit der politischen Theorie bzw. Philosophie1 ist deshalb unerlässlich. Sie wird umso dringender, je mehr die Akzeptanz politischer Entscheidungen schwindet, je weniger ihr Sinn öffentlich diskutiert oder von politischer Beteiligung getragen wird, und je mehr zukunftsfähige Orientierungen in Frage stehen.2

Auch die neutestamentliche Wissenschaft reflektiert eine Praxis – die Interpretationspraxis des Neuen Testaments. Die Aufgabe dieser Wissenschaft ist es, die Interpretation dieser antiken Schriftensammlung, die bis heute ein anhaltendes Leseinteresse weckt und eine – den religiösen Gebrauch weit übersteigende – Lesepraxis veranlasst, wissenschaftlich zu reflektieren und in den öffentlichen Diskurs der Wissenschaften einzubringen.

Das Neue Testament ist überdies in unserer Gesellschaft in unendlich vielen Formen, Derivaten, Transformationen, in Bildern, Wertvorstellungen und Symbolen präsent – kulturellen Gestalten, die in ihrer alltäglich selbstverständlichen Gegenwart kaum noch an ihre Herkunft aus diesen antiken Texten erinnern. Deshalb gehört es ebenso zum gesellschaftlichen Auftrag der neutestamentlichen Wissenschaft, diese Herkünfte offen zu legen, kritisch zu befragen und gegenwärtigen Fragen und Problemen zu erschließen.3

Die Texte und Themen des Neuen Testaments sind keineswegs nur religiöser Natur, sondern beanspruchen gesellschaftliche Relevanz. Das ergibt sich bereits aus dem universalen Geltungsanspruch, den diese Schriften erheben. Sie behaupten, dass ihre Sicht der Dinge Anspruch auf öffentliche Wahrnehmung erheben darf, ja muss, weil sie sich einem Wahrheitsanspruch verpflichtet sehen, der nicht in erster Linie die Kirchen oder religiösen Gemeinschaften, sondern die Menschen und ihre Welt, ihre Gesellschaft und ihre Politik betrifft.

An diesem Punkt berühren sich politische Philosophie und neutestamentliche Wissenschaft. Beide Disziplinen diskutieren Wahrheitsansprüche, die sich zu einem großen Teil auf dieselben Wirklichkeitsbereiche beziehen. Schon deshalb sollten beide voneinander Notiz nehmen.

Politische Philosophie und neutestamentliche Wissenschaft stehen in einem jeweils dialektischen Verhältnis zu ihren Praxisfeldern. Das bedeutet, dass die jeweilige Praxis keineswegs von der sie reflektierenden Theorie dominiert wird – andererseits aber auch die Theorien nicht den Bedingungen jeweiliger Praxis unterliegen. Wohl aber wäre diejenige Theorie schlecht beraten, die sich nicht auf die im konkreten Handeln aufbrechenden Fragen einließe. Reflektiert die neutestamentliche Wissenschaft zunehmend den Gehalt ihrer Texte unter säkularen und postsäkularen Bedingungen, so stehen für die politische Philosophie aktuelle Fragen grundsätzlicher Orientierung auf dem Programm.

Beide Disziplinen stellen sich in wachsendem Maße den Problemen gesellschaftlicher Zukunft, suchen nach orientierenden Ressourcen und Sinnperspektiven und durchlaufen dabei Entwicklungen, die bisweilen erstaunliche Berührungen zeitigen können. Im Bereich der politischen Theorie bzw. Philosophie geht es um normative Fragestellungen und mit ihnen zugleich um anthropologische Dimensionen. Hat die jüngste Entwicklung der politischen Theorie dazu geführt, dass Fragen der Normativität, des humanum, des guten Lebens, stärker in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses rückten, so kann in vergleichbarer Weise für die neutestamentliche Wissenschaft gesagt werden, dass ihre Interpretationsarbeit sich verstärkt der Frage zuwendet, wie die gesellschaftlichen und anthropologischen Dimensionen neutestamentlicher Texte in den Kontexten der Gegenwart verstanden werden können.

Die aktuelle Entwicklung beider Wissenschaften hat somit zu einer dialogbegünstigenden Konstellation geführt. Beide Disziplinen reflektieren ihre Aufgabe, der Gesellschaft Orientierungswissen zur Verfügung zu stellen und die öffentliche Reflexionsarbeit zu bereichern. An dieser Stelle kann sich der Dialog politischer Theorie bzw. Philosophie mit der neutestamentlichen Wissenschaft als gewinnbringend erweisen. Zu erwarten sind neue Fragestellungen, die gegenwärtige Diskurskonstellationen weiterführen, unfruchtbare Alternativen überwinden und die Klärung anthropologischer, ethischer und philosophischer Grundfragen voranbringen. Das Gespräch beider Disziplinen kann die Selbstverständigung der Gesellschaft bereichern und zur öffentlichen Kommunikation der Fragen nach dem Sinn gesellschaftlichen und politischen Handelns beitragen.

Bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch auch problematische Bedingungen, die den Dialog auf beiden Seiten erschweren.

Aus neutestamentlicher Sicht sind die bislang vorwiegend von nicht-theologischer Seite getragenen Interpretationsversuche neutestamentlicher, v.a. paulinischer Texte hinsichtlich ihrer gegenwärtigen politiktheoretischen Relevanz kaum durch die wissenschaftlichen Standards der Fachexegese gedeckt. Bei dieser stehen indessen vorwiegend historisch orientierte Studien im Vordergrund, die nach der einstigen Präsenz des Politischen (s.u.) und seinen Kommunikationen im Neuen Testament fragen. Auch sie legitimieren sich zwar durch die vorausgesetzte Gegenwartsrelevanz ihrer Fragestellungen. Sie sind jedoch auf Applikationsversuche und Übersetzungsleistungen angewiesen, mit denen die aktuelle Relevanz einstiger Konstellationen aufgewiesen und eingebracht werden kann und stehen damit in der Gefahr kurzschlüssiger Aktualisierungen. Die vor Jahrzehnten möglicherweise gültige Arbeitsteilung zwischen historischer Analyse und aktueller Applikation führt kaum weiter; es ist die exegetisch-theologische Arbeit selbst, die die Relevanz ihrer Texte und Interpretationen aufzuweisen hat.

Auch auf politisch-philosophischer Seite gibt es offensichtlich Reserven, die unterschiedlich motiviert sind. Sie mögen auf Vorurteilen oder enttäuschten Erwartungen beruhen und reichen vom Verdacht der konfessionellen Introvertiertheit bis zur Ignoranz gegenüber dem aktuellen Stand neutestamentlicher Wissenschaft, ihrer historischen Orientierung und ihrer Fachsprache. Der politisch-philosophischen Position geht es letztlich mit dem Messianischen, Eschatologischen, der Auferstehung oder Inkarnation um Denkformen, die Alternativen zur politischen Routine ermöglichen sollen. Vor allem an die paulinischen Texte richtet sich die Erwartung, in den gegenwärtigen Problemlagen von Partikularität und Universalität, dem globalen Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Gesellschaften, Religionen und Politiken Perspektiven eines friedlichen Miteinanders zu entwickeln, das ohne die Negation partikularer Identitäten auskommt und die Anerkennung des Anderen, Fremden, gelingen lässt, ohne dass der Maßstab des Einen als allgemein gültig in Anschlag gebracht wird. Diesem politiktheoretischen Engagement entspricht jedoch kaum eine eindringliche Analyse der Texte, die ihre Autonomie und Fremdheit wahrt.

So gewinnen beide Disziplinen leicht der Eindruck eines tief greifenden Missverständnisses, eines Aneinander-Vorbeiredens, und es stellt sich die dringende Frage, wie entscheidende Voraussetzungen eines fruchtbaren Dialogs in interdisziplinärer Zusammenarbeit zu klären sind.

Als hilfreich dürften sich hier die metawissenschaftlichen und transdisziplinären Entwicklungen erweisen, die in beiden Disziplinen wahrgenommen werden und zu verbesserten Dialogbedingungen führen. Datiert man den Beginn der neueren politischen Philosophie mit dem Erscheinen der ‚Theory of Justice’ von John Rawls im Jahr 1971,4 so lassen sich entsprechende neue Entwicklungen in den Nachbardisziplinen leicht nachzeichnen. Ihre Wirkungen sind sowohl in der politischen Theorie als auch in der neutestamentlichen Wissenschaft aufweisbar – arbeiten doch beide Wissenschaften in engem Kontakt zu jeweils mehreren Disziplinen. Ist es bei der neutestamentlichen Wissenschaft neben den Geistes- bzw. Kulturwissenschaften v.a. die altphilologische und historische Forschung, so sind es bei der Politiktheorie v.a. die Sozialwissenschaften und ebenfalls die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften.

Der letztlich unscharfe Begriff des Politischen bietet hier eine hinlängliche gemeinsame Schnittmenge. Es geht mit ihm im Unterschied zur praktischen Politik, zu administrativen Entscheidungen oder dem Handeln von Führungspersonen und -gruppen allgemein um alle Erscheinungsformen, in denen Macht oder Herrschaft kommuniziert werden.5 Die Kommunikation des Politischen findet folglich in allen Diskursen statt, in denen Herrschaft reflektiert, ausgehandelt, verteilt, hinterfragt, etabliert wird.6 Das schließt ihre symbolischen und kulturellen Dimensionen ein (s.u.).

Im Bereich der Kulturwissenschaften ist die Reflexion des Politischen zu einem neuen Aufgabenfeld geworden.7 Aber auch die politische Theorie reflektiert intensiv die Bedeutung der diskursiven Verfasstheit gesellschaftlicher Wirklichkeit für die Grundlagen politischen Handelns.8

Dabei sind Forschungen zur ‚political culture’9, die sich überwiegend mit Einstellungsforschung beschäftigt, 10 von denen zu unterscheiden, die in kulturwissenschaftlicher Perspektive die Kommunikation des Politischen erforschen und sich mit der Narrativität und Diskursivität des Politischen, der Medialität seiner Kommunikation, mit vorpolitischen Prägungen, hegemonialen Begründungsmustern usw. beschäftigen – immer unter der Voraussetzung, die Deuteprozesse zu analysieren, die zu einem je gültigen Verständnis von ‚Politik’ führen.11 Hier geht es immer auch um die „symbolische Dimension des Gesellschaftlichen“.12 Hier werden Perspektiven auf das Politische entwickelt, bei denen es weniger um die Ereignishaftigkeit des Politischen als um seine Interpretationen, handlungsleitende Impulse, Imaginationen, Narrationen usw. geht. Es wird also grundlegend die Relation berücksichtigt, die mit der Unterscheidung zwischen deutendem und praktisch politischem Handeln gegeben ist. Das Forschungsinteresse richtet sich in diesem Zusammenhang auf kulturelle Phänomene, mit denen das Politische kommuniziert wird und Orientierungen, Handlungsimpulse, Werte ausgehandelt werden, die in politischer Praxis handlungsleitend sein können. Der gesellschaftliche Diskurs des Politischen ist keineswegs auf politiktheoretische oder politische Reflexionen begrenzt.

Neu an der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Forschungslage ist, dass nun wissenssoziologische, diskurstheoretische, narratologische, ikonologische und kommunikations- und medientheoretische Zugriffe auf das Präpolitische (z.B. Ordnung, Wahrheit, Recht, Rationalität, individuelle Autonomie) oder Imaginäre (z.B. Gründungsmythen, Metaphernbestände, Bildarsenale) der Politik erfolgen. Diese Zugriffe verbindet das Ziel, die Denkmöglichkeiten des Politischen zu erweitern, die Selbstbestimmtheit politisch handelnder Kollektive und Einzelner zu stärken, die Differenz von Partikularität und Universalität weiterzudenken sowie aporetische Diskussionskonstellationen und alternativlose Problemlagen zu überwinden.

Ist der gesellschaftliche Diskurs des Politischen nicht auf politik-theoretische oder politische Reflexionen begrenzt, so ist sein Ort die Kultur einer Gesellschaft, also kein ausgrenzbarer Sonderbereich, sondern die Fülle menschlicher Selbstverständigung, die sich in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen niederschlägt.13 Es sind die Selbstauslegungen von Gesellschaften, die so zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher Politikforschung werden können.

Auch die neutestamentliche Wissenschaft steht vor der Aufgabe, eigenständige Interpretationsmodelle zu entwickeln, die vor dem Horizont kulturwissenschaftlicher Methodik kommunikationsfähig und im gesamtgesellschaftlichen Kontext verständlich sind.14

Sie nimmt Aufgaben einer kulturwissenschaftlichen Disziplin wahr, indem sie ihre Traditionen sichtet, weitergibt und in gesellschaftliche Wirklichkeit überträgt. Damit beteiligt sie sich am öffentlichen Diskurs um Orientierungen, Werte und Voraussetzungen, und sie greift dazu auf das breite Arsenal kulturwissenschaftlicher Methodik zurück. Gerade so entwickelt sie dabei ihr eigenes Profil, das sie in der Pluralität der Wissenschaften unverwechselbar und unersetzbar macht. Deshalb ist der Verdacht oder gar Vorwurf, dass theologische bzw. biblische Beiträge in der politischen Diskussion oft genug in der Sache nichts Neues einbringen, dafür aber Gesagtes mit biblisch-theologischen Argumenten lediglich wiederholen,15 zurückzuweisen. Gerade da, wo theologische Textinterpretation das unverwechselbar Eigene der Texte aufspürt, wird sie selbst im kulturwissenschaftlichen Diskurs unersetzbar.

Exemplarisch ist in diesem Zusammenhang auf die breite Rezeption diskurstheoretischer Ansätze und Modelle in den Kulturwissenschaften zu verweisen. Mit dem Forschungsansatz der kritischen Diskurstheorie, der sich in wesentlichen Anstößen den Arbeiten von Michel Foucault verdankt,16 kann es gelingen, die Diskursivität der neutestamentlichen Texte und ihre Partizipation an den zeitgenössischen Diskursen zu erfassen. Zielt die zentrale Fragestellung der Historischen Diskursanalyse17 auf „das Bemühen, die Wissens-, Wirklichkeits- und Rationalitätsstrukturen vergangener Gesellschaften aufzudecken“18, so geht es darum, die diskursiv verfassten Weltkonstrukte unterschiedlicher Zeiten und Kulturen zu erforschen, also “diejenigen Gegebenheiten ..., die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als ‚wahr’ und ‚wirklich’ gewusst wurden“.19 Dabei geht es nicht nur um das jeweils explizite, sondern auch und vor allem um das ‚stumme’, selbstverständliche Wissen einer Zeit.

Ein diskurstheoretischer Zugriff ermöglicht es, diese Texte im Blick auf ihre Entstehungskontexte als Fragmente zu erfassen, die die Komplexität frühchristlicher Diskurse (in ihrer antiken Interdiskursivität) voraussetzen und sich auf sie beziehen. Wir sehen in diesen Texten Fragmente von Diskussionsprozessen, in denen es – in einer Situation vollständiger Machtlosigkeit – mit der Deutung eines Gottes, der in der Ohnmacht eines Gekreuzigten ansichtig wurde, um die Kommunikation von Macht ging, um die Begründung von Werten, um die Reflexion von Integration und Exklusion, um die Begründung von Sozialität und Gemeinschaft, und nicht zuletzt um die ständige Differenzierung zwischen autonomer Rationalität und der Vorgängigkeit normierter Voraussetzungen und Adressierungen. Diese Methodik setzt einen konsequent literaturwissenschaftlichen Textbegriff voraus.

Zwar ist trotz des klassisch gewordenen Plädoyers von Rudolf Bultmann – „Die Interpretation der biblischen Schriften unterliegt nicht anderen Bedingungen des Verstehens als jede andere Literatur“20 – ein literaturwissenschaftlich begründeter Umgang mit biblischen Texten, ihre Kommunikation als Literatur im Kontext anderer, auch gegenwärtiger Literaturen, noch keine methodologisch begründete und hermeneutisch abgesicherte Selbstverständlichkeit. Trotz der hohen Bedeutung literatur-theoretischer Voraussetzungen für die Entwicklung der historisch-kritischen Methodologie ist der Hauptakzent zumindest neutestamentlicher Interpretationsarbeit traditionell historisch bestimmt, sind literarkritische, form- und redaktionsgeschichtliche Methoden dem dominanten Paradigma der historischen Rückfrage nach der hinter den Texten liegenden Geschichte integriert. Ein wachsendes exegetisches Problembewusstsein führt jedoch zu einer zunehmenden Rezeption literaturtheoretischer Modelle und zu inspirierenden Ergebnissen ihrer Anwendung.

Im Gefolge dieser Wahrnehmungen und Eindrücke stellt sich nun die Frage nach der politiktheoretischen Relevanz des Neuen Testaments als interdisziplinäre Aufgabe neu: Was ist – aus der Sicht politischer Theorie bzw. Philosophie – substantiell von einer Lektüre dieser Texte zu erwarten? Lassen sich trans- und interdisziplinäre Lektüren dieser Texte entwickeln, die sich ihrem Geltungsanspruch stellen, ihre Aktualität diskutieren und ihre Interpretationen dem gesellschaftlichen Diskurs des Politischen zur Verfügung stellen?

Dabei dürfte deutlich geworden sein, dass es nicht darum gehen kann, diese Texte als alternativlos vorbildliche Orientierungsmuster oder nicht hinterfragbare Grundlagenprogramme zu diskutieren. Ebenso ist jedem Versuch, einer direkten politisch-theoretischen Anwendbarkeit neutestamentlicher Texte das Wort zu reden, eine Absage zu erteilen. Es geht vielmehr um einen Dialog mit diesen ursprünglich fremden Sinnressourcen, aus dem sich neue Perspektiven, Anregungen und Orientierungen entwickeln können.

Die neutestamentlichen Texte partizipieren wie jede Literatur an der kollektiven Welterschließung der Gesellschaft, in der sie gelesen und interpretiert werden. Die Interpretation dieser Texte, die der falschen Alternative einer historistischen oder fundamentalistischen Textauslegung entgehen und nicht einer kulturalistischen Vergleichgültigung dieser Texte zuarbeiten will, ist deshalb neben der historischen auf solide literaturtheoretische und damit z. B. auch rezeptionsästhetische, narratologische, argumentationstheoretische und metaphorologische Grundierung angewiesen.

Dabei ist grundlegend zu berücksichtigen, dass erst die konsequent gestellte historische Frage es ermöglicht, die kulturelle Kontextualität eines Textes zu erhellen und seiner intendierten Kommunikation auf die Spur zu kommen. Das schließt die Erforschung historischer Fakten (einschließlich z. B. der historischen Jesusforschung) ein. Hier gibt es keine Einschränkungen. Dennoch ist es damit nicht genug. Weder Wirkungsgeschichten noch klassische Erbschaften haben in der öffentlichen Diskussion des Politischen legitimierende Funktion. Sie fragen lediglich nach Restbeständen des Theologischen in der politischen Moderne und versuchen aufzuweisen, „dass die Neuzeit bei allen Absetzungs- und Neugründungsversuchen immer noch durch das bestimmt sei, was sie zu überwinden glaubt: durch theologische Muster nämlich.“21 Mit der Frage nach der Geschichte ist die Frage nach der Geltung der Texte nicht beantwortet. Diese Frage ist nie ein für allemal beantwortet; sie stellt sich immer von neuem.

Keiner der neutestamentlichen Texte wurde als politische Programmschrift oder als ein Manifest politischer Philosophie geschrieben. Diese Texte erlebten zwar eine Wirkungsgeschichte, die mit einer zur Herrschaft gelangenden Kirche verbunden war und ihnen entsprechende Begründungsleistungen abverlangte – sie selbst aber kann man zunächst durchaus als unpolitische Texte bezeichnen. Das eigentlich Politische der Texte wird erst sichtbar, wenn sie ihrer wirkungsgeschichtlich bedingten Machtposition entkleidet werden.

Zu den erwähnten Begründungsleistungen gehörten machtförmige Interpretationsprozesse, in denen die Bildsprache des Neuen Testaments und die in ihr sich äußernden Selbstverständnisse gleichsam ontologisiert wurden.

Aus gewagten Verstehensversuchen wurden Aussagen über Sachverhalte, aus Autorisierungsstrategien garantierte Autoritäten, aus Zeugnissen des Vertrauens wurden Beweise, aus Metaphern wurden Fakten.22 Auf diese Weise wurde die ursprüngliche Diskursivität der neutestamentlichen Texte transformiert und einem instrumentalisierten Gebrauch zugeführt, der die politische Macht eines zur Herrschaft gelangten Glaubens absicherte.

Lösen wir uns jedoch von einem wirkungsgeschichtlich bedingten Vorverständnis, das christliche Religion mit – wenn auch überwundener – Macht, mit Einflussnahme, Indoktrination und Intoleranz verbindet, so führt die Wahrnehmung der neutestamentlichen Texte als antike Literatur zu einem anderen Eindruck. Die Kommunikation des Politischen erfolgt im frühen Christentum aus einer Position der Machtlosigkeit heraus. Seine Schriften zielen im Ganzen nicht, allenfalls punktuell direkt auf das Politische, enthalten aber eine Vielzahl politischer Implikationen. Hier, in den Ursprungssituationen dieser Texte, sehen wir Gruppen, Gemeindeverbände und Einzelpersonen, die nicht mit dem Anspruch politischer Macht auftreten konnten und es, soweit wir ihre Motive verstehen, auch nicht wollten.

Die Autoren, Tradenten und Trägergruppen des Neuen Testaments sahen sich religiös-politischen Geltungsansprüchen gegenüber, die alle gesellschaftlichen Lebensbereiche dominierten. Die Artikulationen frühchristlichen Glaubens schlossen sich nach damaliger allgemeiner Auffassung selbst von den herrschenden Diskursen aus. Sie standen in dem Verdacht, gegenreligiös zu sein, die hegemonialen Strukturen zu unterminieren und zur Illoyalität gegenüber der religiös-politischen Gemeinschaft zu verleiten.

Die Spannungen, Gegensätze und Polaritäten, in denen sich das frühe Christentum zu orientieren hatte und zu seiner Sprache fand, sind kaum zu überschätzen. Der Gegensatz zwischen herkömmlicher und neuer Lebensweise führte meist zur Kappung wichtiger sozialer Bezüge, war aber gleichzeitig mit dem Problem gekoppelt, weiterhin im sozialen Verband zu leben. Dazu kam die ungeheure Aufgabe, die Erfahrungen der Spannung zwischen Heilserwartung und Ausgrenzung oder Verfolgung, zwischen Emanzipation und Regelungsbedarf, zwischen Einheit und Verschiedenheit zu bestehen und zu verarbeiten.

Die Menschen, die im Neuen Testament zu Wort kommen, agierten also in Situationen der Machtlosigkeit, waren Ohnmachts- und Verfolgungserfahrungen ausgesetzt und nahmen in Kauf, dass ihr Glaube und ihre Hoffnung als öffentlicher Skandal, also gottlos und verstiegen wahrgenommen wurde.

Dass es dazu kam, liegt am Kern ihres Bekenntnisses. Wollen wir also die spezielle Prägung verstehen, die die Kommunikation des Politischen im Neuen Testament kennzeichnet, müssen wir nach dem Grundimpuls fragen, dem sich diese Schriften verdanken.

Diese Texte setzen sich je auf ihre Weise mit der Geschichte des Menschen Jesus aus Nazareth auseinander und begreifen ihn als Christus, also als Identifikationsfigur Gottes. Das setzt vielfältige Interpretationsversuche frei, die in den Texten ihren Niederschlag gefunden haben. Im Zuge dieser Interpretationsversuche wird menschliche Wirklichkeit perspektiviert, und diesem Vorgang verdankt sich auch die Kommunikation des Politischen im Neuen Testament.

Die Frage nach dem Kern des Neuen Testaments zielt also auf die ursprünglichen Interpretationsprozesse, die zum Werden dieser Texte führten. Es handelt sich um konkrete Rezeptions- und Produktions-vorgänge, in denen die Kenntnisse, Nachrichten und Traditionen über die Geschichte Jesu Christi jeweils aufgenommen und in ihrer aktuellen Bedeutung erschlossen wurden. Es geht mit dieser Geschichte folglich zugleich um die Grundvoraussetzung aller neutestamentlichen Texte, um den ausschlaggebenden Impuls, dem sie sich verdanken, und um die sachliche Mitte, der sie sich in all ihrer Verschiedenheit verpflichtet sehen.

Die Umrisse dieser Geschichte umgreifen nach der grundlegenden Überzeugung des frühen Christentums nicht nur die antike Biographie eines Jesus aus Nazareth, sie waren vielmehr mit der Geschichte Gottes, wie sie in den biblischen Schriften Israels dokumentiert war, vorgegeben. Wurde die Geschichte Jesu Christi als Geschichte dieses Gottes verstanden, so musste sie in den Dimensionen dieser Geschichte interpretiert werden und universale, transhistorische Größen wie Schöpfung und Ende dieser Welt umfassen. Der Grund für diese atemberaubende Interpretationsleistung lag allein darin, dass das frühe Christentum diesen hingerichteten Jesus aus Nazareth als Auferweckten, Auferstandenen oder Erhöhten bekannte. Ostern ist der einzig ausschlaggebende Grund dafür, dass die Geschichte Jesu Christi erzählt und in den genannten Dimensionen überliefert wurde. Es ist zugleich der Grundimpuls seiner politischen Implikationen.

War der Glaube an die Auferstehung Jesu Christi ein Skandal, weil er Gott, den Gott Israels, mit dem Tod eines Verbrechers verband,23 so sah dieser Glaube den Gekreuzigten zugleich in höchster Machtposition. Dieser Glaube konnte für die politischen Machtverhältnisse nicht folgenlos bleiben.24

Die politischen Konsequenzen der Jesus-Christus-Geschichte werden im Neuen Testament deshalb weder spekulativ noch empirisch, historisch oder rechtsphilosophisch begründet. Sie bleiben in diesem Sinne sogar unbegründet, weil sie sich mit dem Glauben an den Auferstandenen auf die Vorgängigkeit eines Handelns beziehen, das jeder Begründbarkeit seitens des Menschen entzogen ist. Diese Schriften behaupten damit auf ihre Weise die Einsicht, dass menschliches Sein sich nicht selbst begründen kann. Sie stellen vielmehr – scheinbar paradox – die konkrete und kontingente Geschichte Jesu aus Nazareth als des Christus Gottes in den Mittelpunkt.

Diese Überlegung führt zur grundsätzlichen Einsicht in die Grundierung des Politischen in einem Jenseits menschlicher Begründbarkeit, die sich mit politisch-philosophischen und diskurstheoretischen Überlegungen deckt.25 Hier steckt ein theologisches Dialogangebot, das ich mit Thomas Rentsch ‚Biblische Aufklärung’ nennen möchte.26 In ihrem Zentrum sieht Rentsch „die Einsicht in die transpragmatischen Sinnbedingungen von Vernunft und aller unserer Praxis.“27 Sind die politischen Horizonte des Neuen Testaments nur sachgemäß zu erfassen, wenn der entscheidende Impuls, dem diese Schriften sich verdanken, in Rechnung gestellt wird, so bedeutet das, dass sie ein Jenseits politischer Rationalisierbarkeit zur Diskussion stellen, die Frage nach dem Sinn des Politischen thematisieren und die Bestimmtheit dieses Sinns durch ihre Bezogenheit auf diese Geschichte behaupten.

Die Frage nach dem Politischen im Neuen Testament ist vor diesem Hintergrund nicht auf diejenigen Texte zu reduzieren, die das Politische explizit thematisieren. Sie ist vielmehr ganz grundsätzlich zu stellen. Soweit ich sehe, haben bisherige Rückfragen nach dem Neuen Testament in der Perspektive ‚Politischer Theologie’ stets nach expliziten Thematisierungen des Politischen und ihrer Anschlussfähigkeit an entsprechende Systematisierungen gefragt. Daneben gibt es ideengeschichtliche, biblizistische und weitere Ansätze, die die skizzierte Aufgabe kaum weiter-führen. Gebraucht wird eine neue Fragestellung, die sowohl der Autonomie, dem Eigensinn der neutestamentlichen Texte gerecht wird, als auch den Diskurslagen, in denen das Politische gegenwärtig reflektiert wird.

Die Interpretationsarbeit am Neuen Testament beteiligt sich in jeder ihrer Erscheinungsformen am gesellschaftlichen Streit um die Deutung unserer Wirklichkeit. Das Neue Testament als Literatur wahrzunehmen bedeutet, diese Texte in ihrer gegenwärtigen Zeitgenossenschaft zu lesen und sich an den Lektüren und Interpretationen zu beteiligen, die sich auf diese Texte beziehen. Ihr primärer Kontext ist Literatur; gemeint ist damit nicht lediglich der Kontext einer vergangenen Situation, sondern die Intertextualität unserer Gegenwartskultur. Geschieht die Arbeit der Textinterpretation und ihre wissenschaftliche Reflexion in dieser Intertextualität, so ist sie gerade deshalb dazu verpflichtet, die Geschichtlichkeit der Texte berücksichtigen und zu zeigen, welchen Anstößen und Intentionen sie sich verdanken.

Das Neue Testament als Literatur wahrzunehmen bedeutet also zugleich, seine geschichtliche Verortung und Bezogenheit in den Rezeptions- und Produktionsprozessen, die zu diesen Texten führten, zu berücksichtigen. Auch im theoretischen Diskurs des Politischen ist deutlich geworden, dass der Dialog mit antiken Quellen konstruktiv und lohnend sein kann. Im Hintergrund steht hier das Bedürfnis, die Texte politischer Theorie an die gesellschaftliche Erfahrungswirklichkeit zu binden. Dafür bietet sich die Reflexion literarischer und v.a. klassischer antiker Texte an. Wird an solchen erzählenden Texten politische Theorie entwickelt, so wird von der Einsicht in die grundlegende anthropologische Bedeutung des Erzählens Gebrauch gemacht: Grundlegende Erfahrungen des Menschseins werden narrativ komprimiert und kommuniziert. Aus solchen Erfahrungen lassen sich orientierende Optionen für politisches Handeln entwickeln. Das liegt zum einen daran, dass es sich immer um Erzählungen handelt, in denen auch die Erfahrung des Politischen ihren Niederschlag fand, zum anderen im Wesen der Erzählung selbst. In ihr kommen Wertvorstellungen von gutem und gerechtem Leben zum Zuge.

Nicht nur im Bereich philosophischer Ethik, sondern auch z.B. der Bioethik, der Ökologie oder der politischen Philosophie zeichnen sich Entwicklungen ab, die die fundamentale Bedeutung des Narrativen unterstreichen, und zwar keineswegs in lediglich ornamentaler, also exemplifizierender, plausibilisierender Hinsicht, sondern in seiner theoretisch grundlegenden, prägenden und bestimmenden Funktion.28 Diese Entwicklung hängt – nach dem postmodern deklarierten Ende der großen Erzählungen – offensichtlich mit der erneuten Rückfrage nach dem künftigen Stellenwert theoriebildender Funktionen des Narrativen zusammen. Diese derzeit offene diskursive Situation lädt m.E. auch die neutestamentliche Textarbeit zur Partizipation ein. Für sie ergeben sich vor diesem Horizont neue Aufgaben, die in interdisziplinärer Kommunikation verfolgt werden können. Die Weise, wie z.B. Martha Nussbaum die Tragödie Agamemnon von Aischylos interpretiert,29 ist eine Herausforderung für diejenige Interpretationsarbeit, die nach der politik-theoretischen Gegenwartsrelevanz neutestamentlicher Texte fragt.

Denn auch in ihnen werden auf unverwechselbare Weise menschliche Erfahrungen reflektiert. Die neutestamentlichen Erzähltexte sind gerade nicht auf das reduzierbar, was sie berichten. So wollen etwa die Evangelien kein historischer Sachbericht über Jesus aus Nazareth sein. In ihnen schlägt sich vielmehr nieder, wie Menschsein, auch in seinen gesellschaftlichen und politischen Dimensionen, sich angesichts seiner Geschichte verstehen konnte. So werden etwa in den Passionsgeschichten der Evangelien Fragen politischer Macht und Ohnmacht, des Scheiterns und der Gewaltlosigkeit dekliniert. In den Gleichnissen geht es um die Präsenz einer völlig neuen Herrschaft, die sich menschlich und unmittelbar realisieren kann, und die neue Gemeinschaft stiftet. Heilungsgeschichten erzählen von der Überwindung dessen, was Menschen unfreiwillig in Besitz nimmt und bindet, und sie reflektieren dabei gesellschaftlich sedimentierte Zwangslagen wie unerwartete Befreiungserfahrungen.

Auch die argumentativen Texte des Neuen Testaments reflektieren die Geschichte Jesu Christi vor dem Hintergrund menschlicher Erfahrungen und tragen sie in die konkreten Kontexte des frühen Christentums ein. Die Problemfelder und konkreten Auseinandersetzungen, um die es in diesen Texten geht, haben immer auch politische Dimensionen. Wie begründet sich Gemeinschaft, wie Subjektivität, wie ist das Verhältnis von unentgeltlicher Gabe und wechselseitigem Tausch zu bestimmen, von Gnade und Gerechtigkeit, Befreiung und praktischem Handeln, Partikularität und Universalität? Das sind Themen und Fragestellungen, die in der Briefliteratur des Neuen Testaments anhand konkreter Situationen und Problemlagen kommuniziert werden und die – dem Selbstverständnis der Autoren gemäß – gesellschaftliche Relevanz besaßen.

Unsere Interpretationsarbeit gilt folglich den diskursiven Formationen, in denen die narrativen und argumentierenden Texte des Neuen Testaments das Politische implizit oder explizit thematisieren. In dieser genuin theologischen Perspektive kann es gelingen, die im Ganzen unpolitische Abzielung der Texte zu berücksichtigen und dennoch Impulse herauszuarbeiten, die einen sinnvollen Beitrag im gegenwärtigen Diskurs des Politischen bilden können.

Der vorliegende Band versammelt einige grundlegende Zugangsweisen, Problemstellungen und programmatische Markierungen. Am Anfang steht ein einführender Beitrag von Lukas Bormann (Bayreuth/Neues Testament), der zunächst wissenschaftsgeschichtlich orientiert ist. Bormann skizziert die Voraussetzungen des Politikverständnisses, das die deutsche akademische Fachexegese seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geprägt hat, und fragt nach dessen Nachwirkungen in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Lukas Bormann rückt damit eine spezifisch ‚deutsche Vorgeschichte’ der aktuellen Gesprächslage ins Bewusstsein und fordert zugleich eine kritische Reflexion über das politische Selbstverständnis neutestamentlicher Arbeit ein. Dieser Beitrag eröffnet mit seiner unüberhörbaren Aufgabenstellung, „das Politische in den neutestamentlichen Texten besser zu verstehen“, die Reihe der folgenden Aufsätze.

Eine erste Gruppe von Beiträgen ist den Perspektiven gewidmet, die sich aus einer politiktheoretischen Paulusinterpretation ergeben. Troels Engberg-Pedersen (Kopenhagen/Neues Testament) führt in die Thematik ein, indem er zunächst versucht, den Begriff des Politischen zu präzisieren und so auf paulinische Texte zu beziehen, dass eine kritische und befruchtende Relation sichtbar wird. Er unterscheidet dazu innerhalb der paulinischen Texte drei verschiedene Dimensionen, in denen das Politische in ganz unterschiedlicher Weise kommuniziert wird. Dabei entsteht ein differenziertes Bild, dessen Bedeutung für den interdisziplinären Dialog unübersehbar ist. Es bietet die Möglichkeit, in einen konstruktiven Dialog mit aktuellen philosophisch-politischen Paulusinterpretationen zu treten.

Diese werden im anschließenden Beitrag vorgestellt. Angela Standhartinger (Marburg/Neues Testament) skizziert die Pauluslektüren von Jacob Taubes, Alain Badiou und Giorgio Agamben aus neutestamentlicher Sicht. Dabei werden nicht nur Inhalt und Abzielung, sondern auch methodische Differenzen und substantielle Gemeinsamkeiten dieser Zugänge deutlich herausgestellt. Standhartinger formuliert sowohl kritische Anfragen als auch in fünf Punkten Hinweise darauf, was die theologische Exegese von den philosophischen Paulusinterpretationen zu lernen habe. Die ‚neuen Pauluslektüren’ von Jacob Taubes, Alain Badiou und Giorgio Agamben und weiterer Autoren bilden ein Phänomen, das von der neutestamentlichen Fachwissenschaft weder ignoriert noch vereinnahmt werden darf.

Felix Ensslin (Stuttgart/Ästhetik) geht diesem Phänomen in psychoanalytischer Perspektive nach. V.a. in der Perspektive der Theorien Jacques Lacans ergeben sich neue Einsichten in die Substrukturen und zugrunde liegenden Problemstellungen der Paulusauslegungen von Giorgio Agamben, Alain Badiou, Slavoj Zizek und Eric Santner. Ensslin sieht ihren gemeinsamen Nenner in dem von Lacan wirkungsvoll artikulierten Problem des Verhältnisses von Gesetz und Überschreitung, das mit der Lektüre paulinischer Texte seitdem unlösbar verklammert scheint. Dabei entwickelt Ensslin nicht nur eine eingehende Kritik an der Paulusauslegung Agambens, sondern auch die weiterführende These, dass die Unterschiedlichkeit der genannten Paulusinterpreten nicht im Bereich von Universalität und Universalisierbarkeit, sondern mit Blick auf das Verhältnis von Gesetz und Gnade bzw. Glaube aufbricht. Auf diese Weise werden aufschlussreiche kritische Fragen entwickelt und die ‚neuen Pauluslektüren’ ihrerseits neuen Lektüre- und Verständnismöglichkeiten zugeführt.

Mit dem Beitrag von Grit Straßenberger (Berlin/Politologie) wird ein weiterer Fragehorizont eröffnet. Wiesen die Beiträge der ersten Gruppe darauf hin, dass gegenwärtig paulinische Texte im Fokus politik-theoretischer Aufmerksamkeit stehen, so zeigt ihr Beitrag exemplarisch die Bedeutung narrativistischer Ansätze in der politischen Theorie. Dabei spielen bisher Erzähltexte des Neuen Testaments noch keine erkennbare Rolle. Straßenbergers Aufsatz enthält insofern für Neutestamentler eine weiterführende Fragestellung, als nun die Frage unumgänglich wird, wieweit narrative Elemente des Neuen Testaments unter dem Aspekt von Erfahrungswirklichkeit und Normativität reflektiert werden können. Ist das Neue Testament als Sammlung von Texten zu verstehen, in denen sich – analog etwa zu einer antiken klassischen Tragödie (s.o.) – tiefgreifende menschliche Erfahrungen niedergeschlagen haben, so stellt sich die dringende Frage, ob ihre Überführung in Formen von Normativität sinnvoll und weiterführend sein kann. Wie ist das Partikulare des Exemplarischen vor dem universalen Anspruch gesellschaftlicher Orientierungsdiskurse zu reflektieren; wo liegen seine unersetzlichen Chancen; wie ist das Verhältnis von literarischer Imagination und kritischer Rationalität zu bestimmen?

Hier eröffnet sich ein weiteres lohnendes Forschungsfeld, bei dem es nicht nur um die bekannten Erzähltexte des Neuen Testaments, also die Evangelien und die Apostelgeschichte geht. Zu berücksichtigen sind auch narrative Strukturen, Elemente und Motive in Texten mit vorwiegend argumentativem Charakter.

Damit ist der Blick auf das gesamte Spektrum der neutestamentlichen Schriften eröffnet. Vor diesem Horizont unternimmt Tine Stein (Kiel/Politologie) den Versuch, die Beziehungen zwischen Neuem Testament, Politik und Recht aus politiktheoretischer Sicht zu klären. Ihr geht es v.a. um den Nachweis, dass die Texte des Neuen Testaments weder eine Instrumentalisierung von Religion durch politische Herrschaftsansprüche noch eine Indienstnahme politischer Macht und Ordnung für religiöse Ziele oder Zwecke erlauben. Andererseits bilden diese Texte – Tine Stein belegt ihre Position mit markanten neutestamentlichen Lektüren – Inspirationsquellen und Korrekturmöglichkeiten für die Gestaltungen von Recht und Politik, die sich unbeschadet der konsequenten Säkularität des modernen Verfassungsstaates aufnehmen lassen. Hier zeichnet sich eine spannende, neue Beziehung ab, die es zu verfolgen und auszuleuchten gilt.

Ein wichtiger Beitrag zu dieser Aufgabenstellung wird von Thomas Bedorf (Hagen/Philosophie) skizziert. Er verweist auf Jean-Luc Nancys sozialphilosophisches Modell einer (Selbst-)Dekonstruktion des Christentums und seine politische Bedeutung. Nancy geht es nicht um einzelne neutestamentliche Texte, sondern um das in ihnen manifeste beständige Grundmotiv des Christentums, das zu immer neuen Transformationen führt. Die Frage nach dem Sinn des Politischen kann nur in Formationen pluraler Koexistenz offen gehalten werden, für die Alterität und Selbstüberschreitung konstitutiv sind. Hier wird die Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition zu einem strukturellen Erfordernis. Nancy geht es nicht um einen wirkungsgeschichtlichen, sondern um einen systematischen Ansatz, der das christliche Grundmotiv der ständigen Selbstüberschreitung als unaufgebbares Basiselement individueller und gesellschaftlicher, demokratischer Existenz aufdeckt.

Der Beitrag von Georg Essen (Nijmegen/Dogmatik) verdeutlicht die Frage, wie und wo die Auseinandersetzung mit der christlichen Tradition zu platzieren wäre, am bundesdeutschen Kontext und seinen verfassungs-politischen Diskursen. Dabei werden sowohl aktuelle wie klassische Lesarten Biblischer Hermeneutik (v.a. Hobbes, Spinoza) vorgeführt und hinsichtlich ihrer Kompetenzen in religionspolitischen Auseinandersetzungen einer kritischen Bewertung unterzogen. Essen entwirft vor diesem Hintergrund einen neuen Diskursraum, indem er einerseits in aller Deutlichkeit auf die religions-unabhängige Begründungsfähigkeit des modernen Verfassungsstaates hinweist, andererseits aber die „sinn-orientierende Bedeutung“ religiöser Überlieferungen herausstellt. Die politiktheoretische Relevanz neutestamentlicher Interpretationsarbeit liegt folglich darin, sich am gesellschaftlichen Diskurs über die Sinnvorgaben zu beteiligen, die – jenseits autonomer staatlicher Legitimierungsleistungen – zu den unaufgebbaren Voraussetzungen politischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Orientierungen gehören.

Rainer Anselm (Göttingen/Ethik) unterzieht die Rückfrage nach der politiktheoretischen Relevanz neutestamentlicher Texte einer kritischen Reflexion und stellt kritische und weiterführende Fragen. Sein Beitrag geht von der Neubewertung der Rolle der Religion in der Öffentlichkeit aus, die unter den Stichworten von Fundamentalismus und Desäkularisierung in den vergangenen Jahren geführt worden ist. Dabei verweist er darauf, dass der Einfluss der Religion, auch des Christentums, auf die politische Kultur keineswegs per se ein befriedender ist, sondern auch polemogener Natur sein kann. Nur wenn es gelingt, das Potenzial der Religion zu Grenzziehungen – zu einer Einflussbeschränkung des Politischen wie auch einer Selbstbegrenzung der Religionen im Bereich ihrer öffentlichen Wirksamkeit – zu mobilisieren, kann es zu den angestrebten positiven Wirkungen gerade auch der Traditionsbestände der neutestamentlichen Texte kommen. Im Dialog der Theologie mit den Politikwissenschaften, der politischen Philosophie und auch der Psychoanalyse gilt es, so sein Resümee und sein Ausblick, weiter auszuloten, welche Faktoren neben dem neuzeitspezifischen Programm einer konsequenten Historisierung religiöser Traditionen für eine solche grenzziehende Rolle der Religion förderlich sind.

Politische Horizonte des Neuen Testaments

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