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32 Oberst a.D. Vater Nikolai – Mönch im Höhlenkloster Nishnij Nowgorod

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Des späten Vormittags fuhren Oie und Nussbaum, im aufgeziegelt-verchromten, aber klapprigen Nissan des Nachbarn von Konstantin Petrow, Oleg Kusmitch, einem älteren unscheinbaren Herrn, von Serpuchow nach Nishnij Nowgorod.

Auf dem südlichen Moskauer Ring und dann vierhundert Kilometer nach Osten kamen sie zügig voran. Vorn schwatzte Nussbaum mit dem Fahrer auf Russisch über Wetter, Land und Leute, – hinten, im aufgeweichten Sitz dösend, versuchte Oie die Erkenntnisse der letzten Tage zu ordnen.

Der Geschwindigkeit vorbei fliegender Landschaftsbilder entsprach seine bis hierher fassbare Bilanz, – ihrer Ausfahrt in Sachen Antonow-Denkmal. Stationen der bisherigen Reise durch den Osten flatterten vorbei wie bunte Plakate, auf denen nur Bilder und Überschriften wahrnehmbar sind, die in Format, Technik und Haltung - mit einer unverkennbaren Handschrift - auf ein Großereignis verweisen, das elektrisiert und Neugier weckt, auch die anderen, unzweifelhaft vorhandenen Bilder zum Ereignis zu sehen.

Alles schien einfach, klar und logisch: Die nun durch die Aussagen offenkundige Strategie der Abwehr, mit einer Palette von Kreml-Flug-Operationen die Perestroika zu retten, zeigte sich ebenso klar wie die ernüchternde Bilanz eines gescheiterten wirtschaftlichen Experimentes, – auch wenn es nicht unwesentlich dem repressiven Druck der verschworenen äußeren Feinde dieses alternativem Gesellschaftsentwurfs zuzurechnen war.

Die politische Einordnung der Frieden fördernden Rückzugsstrategie – im Kampf mit den Imperien der Herren des Geldes, durch Konstantin Petrow, am Vorabend – klang ebenfalls erhellend und plausibel.

Das alles setzte für Oie eindeutige und zielführende Markierungen bei der Entschlüsselung des Puzzles zu den Hintergründen der Wende im Osten, – besonders der Deutschen Einheit.

Im Großen und Ganzen war jetzt Klarheit, und sie konnten es dabei bewenden lassen, denn eigentlich zog es sie zurück in die Heimat, in die Freuden der Alltäglichkeit, – in ihre Arbeit und in ihre Familien. Auch ging der hintergründige Dauerstress ihrer Reise schon fühlbar an die Substanz mäßig trainierter alter Männer, das hatte Oie bei der nächtlichen Attacke in Lettland verspürt, – doch das beunruhigte ihn weniger, weil Durchhalten und Drannbleiben zu seinen erfolgreich erprobten Verhaltensmustern zählten.

Damit sah er eine Chance, denn gleichzeitig war – wie bei einem Puzzle – mit jedem neuen Teil des Bildes die Hoffnung gewachsen, auch den Rest, – die Intelligenz und Schönheit der gesamten Komposition mit den Details zu ergründen.

Der abendliche Verweis Konstantin Petrows auf die Rolle Nikolai Ossipows als Stabschef in der Abwehr, wirkte wie ein Schuss Adrenalin, – bei allen Unwägbarkeiten und Gefahren, die auch dort noch lauern konnten. Er wirkte wie eine elektrisierende Verheißung, denn dort konnten sie, wenn er sich so aufgeschlossen zeigen würde wie ihre bisherigen Gesprächspartner, weitere Hintergründe der Operationen in Ost-Europa erfahren.

Hintergründe, wie sie wohl auch ihr Fahrer suchte, denn unterwegs fiel Oie auf, wie ausdauernd Oleg Kusmitch Nussbaum im Gespräch hielt, und dabei auf freundliche Weise ausfragte. Zum Schutz hatten sie die dritte Haut von Ottomar Krüger und Ferdinand Spengler übergestreift, Nussbaum ließ sich auf nichts ein und mehr als touristische Hintergründe ihrer Reise gaben sie nicht preis.

Als Oleg am Höhlenkloster auf den Wolgahügeln vorfuhr, dachten sie schon, sie hätten es geschafft, – aber Oleg ging, während sie noch die müden Knochen streckten, auf einen Pilger zu, der nahe dabei stand und neugierig auf das aufgetüvt-verwelkte Auto schaute. Mit dem kam er zurück und bat die Freunde zu einem Gruppenfoto vor dem Kloster-Ensemble.

Ehe Samuel noch irgendeine Ausrede parat hatte, ließen sie ein Foto über sich ergehen, dankten Oleg und verabschiedeten sich. Vergeblich hatten sie versucht, Oleg Geld für seine Dienste zu geben. Der lehnte lachend aber bestimmt ab, – denn das sei in Konstantin Petrows Sinne.

Als er fortgefahren war, kratzte sich Nussbaum am Kopf: »Schnüffel-Gen. – Irgend so ein komisches Gefühl habe ich bei Oleg. Der zeigt dieses Schnüffel-Gen der Wasserträger in den Diensten, – wenn der mal nicht mit falschen Karten spielt.«

»Wir doch auch, mein Lieber. – Hast du vergessen, was wir hier machen, Samuel? Was bleibt uns anderes, als dieses Risiko einzugehen? Außerdem, – schau dich um, wie pittoresk-schön dieses Kloster in der Landschaft steht. So was Einmaliges würden wir doch auch fotografieren, das hat wirklich eine Aura wie Bayerns Neuschwanstein.«

Ein junger Mönch vom Eingang brachte sie zum Vorsteher der Beherbergung, der sie freundlich empfing und nicht nach Dokumenten fragte: »Sie sind die angekündigten Pilger aus Deutschland? Herzlich willkommen! Vater Nikolai bat mich, ihnen ihre Klause zu zeigen. Später am Abend wird er sie treffen. Jetzt ist er in der Seelsorge, abends ist Messe, – danach sind Sie dann seine Gäste.«

Er führte sie über verschlungene Gänge durch mehrere Flügel des Klostergebäudes zu einer weiß gekalkten Zelle, mit schwerer, schwarzer Balkendecke, einem knarzigen Dielenboden und nur einem schmalen, schießschartenartigen Fenster. Im Raum standen zwei Betten, ein Schrank, Tisch und Stühle. Die Wände trugen kleine Ikonen in dicken, vergoldeten Rahmen.

»Wenn Sie abgelegt haben, können Sie da vorne, am Ende des Ganges über die Treppe und eine Etage höher, auf die Terrasse gehen. Da gibt es einen fantastischen Blick über die Wolga-Landschaft. Dort finden Sie auch einen Kühlschrank mit Getränken.«

Von der Reise erschöpft, begaben sie sich dorthin und saßen dann in der Sonne, – mit dem angekündigten herrlichen Blick: linker Hand in die grünen Hügel die Stadt-Silhouette, rechter Hand in die eindrucksvoll geschwungene Uferlandschaft, hinunter zum großen Russischen Strom.




Als sie, in Erwartung schweigend, so eine Weile beeindruckt geschaut hatten, öffnete sich die Tür zum Gang und ein bärtiger Mönch, in schwarzer Kutte, hoher, schwarzer, zylindrischer Kopfbedeckung und einem silbernen Kreuz vor der Brust, trat zu ihnen.

»Guten Tag und herzlich willkommen meine Herren! Konstantin Iwanowitsch Petrow hat Sie angekündigt. Schön, dass Sie da sind – aus Deutschland – von so weit her. Ich bin Vater Nikolai, alle Freunde von Konstantin von damals sagen aber Bruder, denn wir sind ja alle fast gleich alt. Früher hieß ich Ossipow, – falls Sie den suchen.«

Bruder Nikolai war von großer hagerer Statur, die von der Mönchskutte vorteilhaft gefasst wurde. Ein lebhaftes, fein geschnittenes Gesicht, mit langem, gepflegtem, weißem Bart und lebendigen, wassergrünenAugen unter buschigen Augenbrauen, ließ die siebzig Jahre vergessen, die er sicher schon hinter sich hatte.

Die Freunde stellten sich vor, überbrachten Grüße und erzählten, als der Mönch sich gesetzt hatte, von ihren wunderbaren Begegnungen bei Kusnezows in Sankt Petersburg, – und bei Konstantin Petrow am gestrigen Abend.

»Von Kusnezow, dem Wirtschaftswissenschaftler, habe ich lange nichts gehört, aber Konstantin Petrow ist ein enger Freund geblieben, auch nach zwanzig Jahren und besonders seit Igor Antonow starb. Wir sind die letzten aus der Mannschaft, die noch was sagen können, zu dem Thema, das Konstantin angedeutet hat. Ich habe gehört, Igor hat ihnen unsere Listen vererbt?«, sagte er lächelnd an Oie gewandt. – »Das war zwar gegen alle Vorschriften von damals, aber die Geschichte hat ja die Weichen gestellt. Das Imperium, die große Sowjetunion, gibt es nicht mehr, nun kann man über alles reden, – nur will es hier keiner mehr wissen. Ehrlich gesagt, – ich versuche auch, es zu vergessen.

Eines aber liegt mir besonders am Herzen, Herr van Oie. Es ist ihr Bruder Otto, – sein Tod in Moskau, dessen Umstände mir immer noch ein Rätsel sind. Es ist so lange her, – mein herzliches Beileid!

Die Ungewissheit muss schrecklich gewesen sein, für Sie und ihre Familie. Gleich, nachdem Sie Konstantin Petrow angekündigt hat, habe ich meine Notizen von damals noch mal angesehen – als mich Igor Antonow in der Sache um Hilfe bat –, denn ich weiß noch, dass ihres Bruders Verschwinden ein Rätsel war, das wir in den Wirren der untergehenden Sowjetunion nicht lösen konnten.

Dass sich Igor Antonow da verantwortlich fühlte, verstehe ich, denn er hat die verdeckte Operation gegen die KGB-Zentrale angeordnet, – und ich habe sie geplant. Es ging um Unterlagen zu Putschplänen gegen Gorbatschow, – das war damals eine virulente Plage. Unsere Agenten haben die Pläne zu Putsch-Szenarien noch übermitteln können, die uns auf die November-Ereignisse in Deutschland vorbereiteten, – dann aber misslang ihr Rückzug und wir mussten in Deckung gehen.

Ich habe in der neuen Zeit noch Akteure des ehemaligen KGB befragen können, die hierher ins Kloster kamen, und die bemühten sich bei ausgeschiedenen Mitgliedern ihrer alten Organisation Informationen zu bekommen. Bisher war nur zu erfahren, dass unser Topograf, so lautete sein Deckname, am zehnten Oktober, zusammen mit einer unserer Mitarbeiterinnen vom KGB liquidiert wurde.

In dieser Zeit damals war alles möglich. Besonders wenn man gegen die Stalinisten an der Europäischen Perestroika gearbeitet hat. Mehr gaben die Datenbanken und Aussagen aber nicht her.«

»War das die Gräfin, diese Mitarbeiterin?«, zuckte Nussbaum nervös verspannt.

»Ja, das war ihr Deckname«, bestätigte der Mönch.

»Dann war es Swetlana, Oie, – jetzt wissen wir es sicher.«

»Details zum Schicksal der Offiziere habe ich damals nicht erfahren, denn der Vorgang war, als die Operation aufflog und wir in Deckung gehen mussten, absolute Chefsache. Im Augenblick kann ich auch kaum Hoffnung machen, mehr zu erfahren, denn wenn etwas gegen Recht und Gesetz gelaufen ist, dann wurden schon damals alle Unterlagen vernichtet.

Heute am Morgen habe ich aber noch mal meine Fühler ins Moskauer Militärarchiv, nach Podolsk, ausgestreckt, – da habe ich eine alte Quelle. Die verwahren dort auch Asservaten und Teile vom Archivgut des vordigitalen Zeitalters der Dienste. Vielleicht erfahren wir auf diese Weise noch was?«

Oie hörte es, aber saß wie benommen, – wie in einem schlecht verfilmten Traum, denn die grandiose Kulisse, von Kloster und Wolgalandschaft, passte in diesem Augenblick so überhaupt nicht in seine Gefühlslage. Wie sollte er das seiner trauernden Schwester beibringen, – einfach so erschossen und irgendwo verscharrt?

»Danke!«, hörte er sich sagen, »für Ihre Bemühungen Bruder Nikolai, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Es ist zwar kein Trost, aber ein Stückchen mehr Gewissheit ist wichtig für meine Familie. Auch für jetzt, – und für das, was wir vorhaben. Danke!«

»Ich werde mich bemühen, mehr zu erfahren«, seufzte der Mönch. »Wir schließen Ihren Bruder Otto in unsere Gebete ein und werden zum Todestag hier im Kloster, Panichiden, das sind Totengedächtnis- Andachten, für ihr Seelen-Heil lesen, – das verspreche ich ihnen. Wir würden uns freuen, wenn Sie und ihre Familie zu diesem Anlass hierher kämen. Es sind meist mehrere Personen, derer wir an so einem Tag gedenken. Sie müssen sich also nicht wundern, wenn Sie noch Menschen aus anderen Familien treffen, die an diesem Tag einen Toten beklagen.

Wir wollen mit den Panichiden den Familien zu ihrem Seelenfrieden verhelfen, – im Jetzt vor allem. Das Jetzt, die Menschen in dieser harten Zeit, sind wichtig! Wir wollen sie stark machen und ihre Seelen retten vor der Zersetzung, in die sie zu fallen drohen, in dieser oberflächlichen, bösartigen Welt unter der wuchernden Herrschaft des Geldes.

Ich will helfen, sie zu retten, wie auch ich Rettung erfahren habe durch unsere heilige Mutter Kirche, nachdem ich in Depressionen gefallen war, damals in der Jelzin-Ära, – aus Hoffnungslosigkeit im Angesicht des überbordenden Verfalls von Recht und Ordnung, Moral und Sitten.

Das hat mich krank gemacht. Dann haben sie mich in einem Armee- Hospital mit Medikamenten vollgepumpt, denn ich war damals zum Sterben verzweifelt. Vor allem über die Zustände in der zerfallenden Armee, – und meine Machtlosigkeit. Irgendetwas in mir wollte nicht mitmachen, in diesem verächtlich korrupten Theater und ließ mich in tiefe Depressionen stürzen. Vielleicht aber auch fühlte ich mich mitschuldig daran, dass es soweit gekommen war, – dass wir den Putsch gegen Gorbatschow nicht verhindern konnten, den Anfang allen nachfolgenden Übels?«

Die Freunde schwiegen betroffen und respektvoll, wie wenn die gerade erfahrenen Offenbarungen an ein höheres Wesen gerichtet seien, – und sie nur Zuhörer. Dabei schwang die Vorahnung mit, wieder vor einer neuen geschichtlichen Pforte, zu einer anderen Dimension menschlicher Gewissheit, zu stehen.

Noch beeindruckt und verlegen, sahen sie wie sich die Miene Bruder Nikolais aufhellte und er zu schwärmen begann: »Dann aber kam eine alte Tante aus meiner Familie ins Hospital und brachte einen Mönch mit, ich nenne ihn Ivan den Sanften, – der hatte ein göttliches Feuer in den Augen, hatte Stalins Gulag überlebt, war aus diesem Kloster und hat mich durch seinen Zuspruch gerettet. Nun kann ich hier sein und anderen helfen. Ich habe die Liebe zu den Menschen wieder entdeckt und meinen Seelenfrieden gefunden an diesem schönen Ort.

Lew Tolstoi sagte in einer vergleichbaren Lebenssituation: ›Denn das liegt jetzt in meiner Macht, – meinem Leben die Richtung auf das Gute zu geben.‹

Das nur für Sie zur Erläuterung eines Bruches in der Biografie, wie er wohl nur im Russland dieser Zeit denkbar war.

Sich mit Existenzfragen beschäftigen, mit dem Verhältnis, das der Mensch zu Gott hat, mit der Frage, ob er überhaupt ohne Gott zurechtkommt, das war in Russland immer wichtig, besonders in der Zeit der größten Unterdrückungen des Glaubens. Auch heute ist es wieder wichtig, denn der Glaube braucht integre Vorbilder, sonst laufen die Gläubigen Gefahr, betrogen zu werden. Alle Gläubigen sind durch Systeme leicht zu betrügen, – nicht nur gläubige Genossen, wie man aus der Geschichte weiß.«

Oie lauschte beeindruckt und nickte bestätigend zu diesen nachvollziehbaren Gewissheiten.

»Es hilft eigentlich nur der konsequente Geist der Bergpredigt, gelebt im Vorbild, – überall wo sich ein Christen-Mensch hingestellt sieht. Dem fühle ich mich verpflichtet, seit ich mit allem Überflüssigen gebrochen habe und hier im Höhlenkloster lebe.

Was ich für Sie tun kann, glaube ich zu wissen. Das braucht vor allem Vertrauen. Konstantin sagt, ihr redet euch beim Vornamen an? Unglaublich nach so kurzer Zeit, – er ist sonst sehr reserviert und misstrauisch.«

»Es liegt wohl auch an dem bisher recherchierten Material, das wir ihnen nachher zeigen können, beginnend mit dem Kreml-Flug«, gab Oie zu bedenken, und Bruder Nikolai merkte sichtlich auf: »Ja, es liegt wohl am Thema und der gemeinsamen Vergangenheit. Das können wir dann bereden, wenn ich meine klösterlichen Pflichten erfüllt habe.

Vorerst empfehle ich ihnen Ruhe und Einkehr. Ich merke schon, sie sind beeindruckt von diesem Wolga-Panorama, das muss man jetzt – bei diesem Licht – vor allem genießen.«

Sie schwiegen eine Weile und schauten fasziniert auf die Schönheit der Wolga-Landschaft, in der noch gleißend-sommerlichen Abendsonne.

»Ich feiere in einer halben Stunde die Messe und danach sollten wir uns in meinem Büro treffen, – dort weiter hinten, in dem Flügel neben der Kathedrale. Dort können wir essen und über alles reden.«

Die Freunde erinnerten sich an die Empfehlung Petrows, die Zeit zu nutzen, um sich die Schönheiten des Klosters anzusehen, denn schon bei der Annäherung und bei den ersten Schritten auf dem Gelände, hatte sie diese imposante Wurzel russischer Kultur gefangen genommen.

Das Kloster, in den Wolga-Hügeln gelegen, war ein Ensemble von massigen, wehrhaft-fundamentstarken weißen Gebäuden verschiedener Funktionen, dass sein Zentrum in einer Kathedrale mit fünf Zwiebeltürmen hatte. Alle Gebäude und die Zwiebeltürme hatten grüne Blech-Dächer, nur einige kleine, hervor gehobene Zwiebeltürme waren schon wieder vergoldet. Das große Kloster-Gelände wurde eingefasst von einer weißen, hohen Mauer und einem verspielt-wuchtigen Torbau. Auch der trug vergoldete Zwiebeltürmchen.

Bruder Nikolaj bezeichnete sein Kloster als eine der byzantinischen Wurzeln der Russisch-Orthodoxen Kirche – der Ostkirche – und später, so versprach er, wolle er mehr darüber erzählen.

Sie grüßten und der Mönch ging über, zu seinen klösterlichen Pflichten.


Eine Weile saßen sie noch so am Wolga-Panorama, – dann durchstreiften sie das weitläufige Klostergelände, während aus der Kathedrale liturgische Gesänge an- und abschwollen, die der Sommerwind wie einen Hauch von Poesie über die Landschaft trug.

Zur verabredeten Zeit – und wie zum Zeichen strömten die Gläubigen nach dem Gottesdienst aus der Kathedrale – begaben sie sich in den Ostflügel.

Sie fragten sich zu Bruder Nikolai durch. Der war schon in seinem Büro.

Als sie eintraten, sahen sie durch die geöffnete Tür zum Nachbarzimmer, dass sich nebenan offensichtlich auch seine Wohnung befand. Er bat sie in diese und an den schon gedeckten Tisch.

Zuerst fragte er lächelnd, ob sie dieses schöne Kloster schon ein wenig genauer besichtigt hätten, – und als sie beeindruckt bejahten, erzählte Bruder Nikolai von dem Gründungs-Mythos dieses Baues, der weit im Dunkel liege, – und von den ersten schriftlichen Überlieferungen aus dem 14. Jahrhundert. Das Innere der Kathedrale, mit ihren Kunstschätzen, wollte er sich später mit ihnen ansehen, jetzt sollten sie sich erstmal stärken.

»Um aber gleich zur Sache zu kommen«, schloss Bruder Nikolai, von der Teebereitung am Samowar aufschauend an: »Der Chef vom Sicherheitsdienst unseres Klosters hat mich gerade informiert, dass draußen vor dem Tor Personenkontrollen durchgeführt werden, – wie zu Sowjetzeiten. Das hatten wir lange nicht. Kann das mit Ihnen zusammenhängen? Weiß jemand, dass Sie hier sind?«

»Oh je«, verzog Nussbaum das Gesicht. »Nachbar. – Irgendwie dachten wir uns das schon. Der Nachbar von Konstantin Iwanowitsch Petrow, der uns kostenlos fuhr, – machte zum Abschluss noch ein gemeinsames Foto vor dem Kloster. Das ist jetzt sicher bei unseren Jägern.«

Oie erzählte dann in groben Zügen, wie sie schon länger Probleme hätten, ihre Verfolger abzuschütteln.

Bruder Nikolai zog wissend die buschigen Brauen hoch: »Bei uns sagt man, der Wolf ist immer bereit, sich ohne Lohn als Schäfer zu verdingen. Ich kann mir schon vorstellen, dass es die alten KGB-Krieger ärgert, erneut von Igor Antonows Leuten vorgeführt zu werden. Aber hier sind Sie erstmal sicher und wir können reden. Zur Abreise fällt uns dann noch was ein, – wir wissen ja, wo die stehen.«

»Wir sollten schon jetzt einen möglichen Rückzug vorbereiten, – und wir hätten da eine Variante vorbereitet«, wandte Oie ein, »mit der Überführung zu einer Bestattung nach Riga«, und er erzählte, was sie mit Hermannis für den Notfall besprochen hatten.

»Solche Überführungen haben wir hier öfter, denn der Geist alter Herrschaften, die aus dem ganzen Osten hierher pilgern, wird schon mal überraschend zu Gott gerufen. Oftmals sehe ich es den Pilgern bereits an, wenn sie kommen, – dass hier das Ende des Weges in dieser Welt sein wird. Die Farbe der Haut, der heiße Glanz der Augen und der Hauch der sanft erregten Stimme beim Eintritt in unsere heiligen Hallen, ist so ein Zeichen für die Nähe Gottes.

Für solch Ereignisse haben wir nicht nur geistlich vorgesorgt, – und extra Kühlzellen am Wirtschaftstrakt, denn die Pilger wollen ja zumeist in der Heimaterde ruhen, und das muss vorbereitet werden. Es ist also eine gute Idee, es so abzuwickeln«, bestätigte Bruder Nikolai. »Lassen Sie aber mich in Riga anrufen, – ihr deutscher Akzent beim Telefonieren zieht sonst die Aas-Geier an. Gibt es ein Code-Wort?«

»Es gibt einen Satz, den ich besser aufschreibe«, stimmte Oie zu, wobei er schon schrieb, »denn der löst die Operation aus.«


Nach dem Abendbrot, bei dem die Freunde über ihre Erlebnisse im Hause Kusnezow und Petrow berichteten, griff Bruder Nikolai zum Telefon, bekam eine direkte Verbindung zum Geschäftsführer des Rigaer Bestattungs-Unternehmens, stellte sich vor und sagte: »Die hier verstorbene russische Lieblingsoma, Olga Sokolowa, möchte bei ihren Kindern in Riga beerdigt sein. – Wann können Sie kommen, hierher zum Höhlenkloster nach Nishnij Nowgorod? Und noch einen Wunsch habe ich, – bringen Sie bitte auch hundert Bibeln in lettischer Sprache mit, für Pilger, die ein geweihtes Exemplar von hier mitnehmen möchten.«

Als Bruder Nikolai auflegte, teilte er mit, dass es über fünfzehn Stunden dauern könne, bis der Wagen hier sei, – sie hätten also morgen den halben Tag um zu reden. Jetzt, nach dem Abendbrot, solle man besser schlafen gehen, denn er müsse am Morgen, bei Sonnenaufgang, die erste Messe lesen.

Bei diesen Worten zog ein Hauch von Enttäuschung in die Gesichter der Freunde, – die Oie als erster überwand und sich entschloss, in die Offensive zu gehen.

»Bruder Nikolai, hier ist Igor Antonows letzter Brief an mich und die Listen, die er mir übermittelt hat, auf einem Daten-Stick. Vielleicht können Sie mal reinschauen, bevor wir uns morgen unterhalten, – es ist sicher von Interesse für Sie. Morgen haben wir auch noch kurze Filmsequenzen zu bieten, auf denen sich einige Mitstreiter zu den damaligen Ereignissen geäußert haben.«

Sie verabschiedeten sich und gingen in ihre Klause. Mit sich trugen sie den Zweifel, ob es aus Nikolais Hintergrund noch Informationen zum Gesamtbild geben konnte, – vor allem, ob er in seiner Seelenlage und Stellung überhaupt noch Interesse daran hätte.


In der Frühe wurden sie von einem Klosterbruder geweckt, der sie in die Trapesa, das Refektorium, zum Frühstück bat, in dem Mönche und Gäste bunt gemischt saßen.

Die feuchte Kühle des Morgens und ein feiner, für Oie in der Erinnerung irgendwie russischer Geruch von chlorierten Reinigungsmitteln lag in den weißen, schummrigen Kreuzgewölben, zwischen den bärenstarken Backstein-Pfeilern, im geduckt wirkenden Speise-Saal. Der hatte nur einige kleine, schießschartenartige Fenster, durch die eine gleißende Morgensonne schmale Rechtecke auf den Ziegelboden projizierte.

Große Pendelleuchten über den langen Tischen schufen zwischen den dort Sitzenden ein Lichtspiel klösterlicher Nähe.

Als Gäste eingewiesen, setzten sie sich auf eine der einfachen Holzbänke am mit Obstschalen und Blumen dekorierten Tisch und aßen vom spartanischen Mahl in den Schüsseln, – von Kascha, Weißbrot, Käse und Konfitüre.

Dem geschwätzigen Treiben entspannt zuhörend, tranken sie dann ausgiebig Tee, denn es gab noch keine Startzeit an diesem Morgen und Bruder Nikolai war nicht zu sehen. Nach Auskunft des Mönchs vom Weckdienst sollte er erst gegen acht Uhr wieder im Kloster sein. Wo war er? Konnten sie ihm vertrauen?

Oies straffer Optimismus bekam gerade Falten, da ging eine Tür zum Hof auf und Nikolai Ossipow stand für Sekunden, wie ein Schattenriss, in der strahlenden, noch tief stehenden Morgen-Sonne.

Er grüßte in die Runde, sah die Deutschen sitzen und kam lächelnd herüber: »Gott segne Sie an diesem schönen Morgen! Gestern Abend war ich etwas erschöpft. Sie müssen verzeihen, ich bin schon alt und das Klosterleben ist manchmal kein Zuckerschlecken, – das sagt man auch in Russland so. Wir gehen am besten in mein Büro, da sind wir ungestört.«


Im Büro angekommen, wünschte sich Bruder Nikolai erstmal die Aufzeichnungen zu sehen, die sie am Abend angeboten hatten.

Nussbaum legte seine Kamera auf den Tisch und bat um ein Kabel zum Laptop auf dem Schreibtisch. Sie setzten sich und Samuel spielte ab, was sie auf ihrer Reise mitgeschnitten hatten.

Bruder Nikolai war von Sequenz zu Sequenz mehr beeindruckt und lächelte: »Ja, so war das damals. Lasst uns reden. Dazu gibt es noch viel zu sagen, – doch wo fangen wir an?

Und übrigens, den Brief an Sie, Albrecht – und damit biete ich euch das Du an –, den Brief von Igor habe ich gestern noch mit Erstaunen und Rührung gelesen. Ich teile und respektiere seinen Wunsch, die Sache nun transparent zu machen, denn nur die Wahrheit macht die Menschen besser und weniger anfällig für die Verlockungen der Teufel dieser Welt. Mit dem Neuen Testament: Ihr könnt nicht den Menschen und Gott dienen, – und zugleich der Macht des Mammon.

Mach deine Kamera bereit Samuel, wir sollten sehen, dass es ein würdiger Beitrag wird, – wie bei unseren Mitstreitern von damals.«

Nussbaum zwinkerte Oie beim Aufbau hoffnungsvoll zu, und brachte sein Reise-Stativ in Position, – sie rückten die Sessel an den Schreibtisch und redeten.



»Ja was lief damals im Hintergrund? Das ist die Frage, die man mir oft stellt, wenn das Gespräch unter Eingeweihten darauf kommt. Alle kennen mehr oder weniger die Ereignisse und ein paar Zusammenhänge aus ihrer kleinen Rolle der offiziellen Geschichtsschreibung oder aus Biographien einzelner Akteure. – Am lautesten aber hört man von Leuten, die so tun als hätten sie Einfluss genommen.

All das ist bisher nur die Oberfläche, kann ich hier sagen.

Erstmal und grundsätzlich: Nichts ist so undurchdringlich, wie eine gut geplante und organisierte Verschwörung. Das durchzieht die Geschichte, wissen die Kenner, – da gibt es genügend Beispiele. Die Militär-Historiker würden das bis zu den alten Persern, den Griechen oder Caesar zurückführen, – und aktueller zum elften September in New York.

Der Militär-Geheimdienst-MGD war der Geheimdienst der Geheimdienste, – der MGD der Sowjetunion war der im Osten wichtigste und auch global handelnde militärische Aufklärungsdienst, mit zuletzt fünfzehntausend Mitarbeitern. Wir hatten sechsmal mehr Agenten im Auslandseinsatz als der KGB. Dazu kamen die Militär-Geheimdienste in den Ostblock-Staaten, bei denen wir, im System der militärischen Sicherheit, immer das volle Durchgriffsrecht, die Kommando-Hoheit, beanspruchen konnten, – bis zuletzt.

Bei der, nun auch in euren Aufzeichnungen sichtbar werdenden, historisch gewachsenen Rivalität zwischen KGB und unserem MGD in der Sowjetunion, die fast nie an die Öffentlichkeit gelangte, ging es angeblich und ideologisch verbrämt um die Kommando-Hoheit bei der Sicherung der Roten Macht im Staate. Die beanspruchte traditionell der KGB, – denn der KGB-Chef saß als Zerberus der Kommunistischen Ideologie im Politbüro. In Wirklichkeit aber ging es auf allen Ebenen, um Macht und Pfründe eines privilegierten und korrupten Apparates der Partei, des KGB und der Generalität in der Mangelwirtschaft.«

Oie und Nussbaum waren über diese erste Breitseite, auf Geheimdienst-Interna des sowjetischen Großreiches, so überrascht, dass sie sich mit großen Ohren und heißem Blick nicht zu rühren wagten.

Bruder Nikolai war sich seiner Worte bewusst und schenkte, wie rituell, mit ruhiger Hand Tee ein.

Lächelnd fuhr er fort: »Der KGB war übrigens zu der Zeit – wie die CIA – eine permanent alkoholisierte Trinker-Organisation, was uns bei unseren Operationen taktisch entgegen kam. Auch deshalb hat man den KGB in der neuen Zeit aufgelöst und einen staatlichen Geheimdienst-RSG gegründet. Russland musste sich konsequent von der Amoralität, der Blutspur und den Machenschaften des KGB nach innen und außen distanzieren, wenn es die Glaubwürdigkeit wiedererlangen, und an der Zukunft Europas teilhaben wollte.

In der Sowjetzeit, für die sowjetische Öffentlichkeit, standen Militär-Geheimdienst und KGB wie ein Mann, – im Innern aber kratzten sich die Bürokraten der Dienste gegenseitig die Augen aus. Im Geiste der Tscheka erzogen, vergaß der KGB niemals, – schon gar keine Niederlage gegen uns.

Unser Militär-Geheimdienst war da anders. Einfach leidenschaftsloser, weil er sich seiner Natur nach, bis zum Machtantritt Gorbatschows, nur darum kümmerte, worum sich alle militärischen Nachrichtendienste kümmern. Die Spionage-Attacken gegnerischer Dienste abzuwehren – also den Abfluss von militärischen Geheimnissen zu verhindern – und gleichzeitig den potentiellen Gegner möglichst umfassend aufzuklären.

Wir mussten allerdings oft zusehen, wie durch verfehlte militärpolitische Zielstellungen, Unfähigkeit und Korruption der Militärführung unser Land und der ganze Ostblock nach und nach wirtschaftlich ausbluteten. Das Einzige, was noch halbwegs funktionierte, als der neue Parteichef Gorbatschow dann antrat, war die Oboronka, – die Rüstungsindustrie, die strategischen Raketentruppen und der militärische Sicherheitsapparat.

Etwa achthunderttausend Soldaten, Ausbilder und Berater der Sowjet-Armee waren bis dahin im Ausland, – außerhalb der Rubelzone und mit immensen Kosten. Welch ein Wahnsinn.

Mit einer halben Million Soldaten waren wir in Afghanistan, und trotzdem haben wir den Kampf verloren. Dreizehntausend Tote und fünfzigtausend Kriegsinvalide waren, neben gigantischen volkswirtschaftlichen Verlusten, der Preis für diesen zehnjährigen Krieg. In Asien sagt man übrigens: Wen Gott bestrafen will, den lässt er in Afghanistan einmarschieren, – denn diese über Jahrtausende gewachsene Stammesgesellschaft widersteht jedem Umsturzversuch bis heute. Der uns dorthin nachfolgende Westen wird das noch bitter bezahlen, – so wie wir damals, in unserem kommunistischen Weltbeglückungswahn.

Weshalb sage ich das?

Wir hatten die Klassiker der Militärgeschichte, von Cäsar bis Friedrich dem Großen studiert – in letzter Konsequenz aber nicht begriffen. Friedrich der II: Seine überragende Planung und perfekte Logistik von Feldzügen, die auf der Kraft einer effektiv organisierten Wirtschaft basierte, war nur Kennern schon in der Ausbildung an der Militär-Akademie ein Beispiel. Dieses Wissen war ohne Konsequenz im anhaltenden Siegestaumel der Ideologie benebelten russischen Nachkriegsgesellschaft, denn die Bedeutung einer erfolgreich funktionierenden Wirtschaft für die Landesverteidigung – und darum ging es erklärtermaßen immer zuerst in unserer Militärdoktrin – wurde katastrophal unterschätzt.

Auch General von Clausewitz mit seinem Standardwerk Vom Kriege und über den Rückzug als schwierigste aller Operationen, war bis Afghanistan in Vergessenheit geraten. Der geordnete Rückzug aus einer unhaltbaren Position, das ist die Königsdisziplin, wies Clausewitz nach.

Was das bedeutete, wurde uns erst klar, als die Probleme aussichtslos kulminierten, die Zahlen zum wirtschaftlichen Niedergang auf dem Tisch lagen, – und von der Führung endlich zur Kenntnis genommen wurden. Das war erst unter Gorbatschow möglich, – und als Antwort auf diese Herausforderung planten wir, unter strengster Geheimhaltung, die Licht Operationen zur Absicherung der Europäischen Perestroika und zur Rettung der Sowjetunion.

Aber die bedeutete militärisch Rückzug, – die Königsdisziplin, denn bis dahin eskalierte die Konfrontation der Blöcke regelmäßig und drohte uns alle in einem Dritten Weltkrieg zu vernichten.«

»Aussagen. – Eindrucksvolle Aussagen dazu haben wir ja schon, wie du sehen konntest, aufzeichnen können, Nikolaj. Wie hast du das erlebt, in deiner Position?«

»Nervenzerreißend möchte ich diese Jahre der Eskalation beschreiben, aber konkret: Der NATO-Doppelbeschluss, Anfang der Achtzigerjahre, schien uns Russen wie der ultimative Antritt zum letzten Gefecht. Da begann unter den paranoiden Weltkriegs-Helden in unserem Land, eine obsessive Suche nach Anzeichen dafür, dass der Feind den finalen Enthauptungsschlag vorbereitet, – mit der überraschend ins Spiel gekommenen Neutronenbombe, die den angloamerikanischen Kriegstreibern Hoffnung machte, den verhassten kommunistischen Gegner zu eliminieren, ohne gleich eine unbewohnbare Wüste zu hinterlassen.«

»Eskalation. – Aber war die große Sowjetunion nicht auch an dieser permanenten Eskalation mitschuldig?«, provozierte Nussbaum.

»Natürlich, – vor allem die ständig präsente, konventionelle Übermacht, mit über fünf Millionen Soldaten unter Waffen, besonders im Zentrum Europas, musste diesen Eindruck erwecken. Auch die Neustationierung von SS-20 Mittelstrecken-Raketen, unter Breschnew, ließ keinen andern Schluss zu. Auf der anderen Seite: Der Anschlag auf die Amerikanische Flotte in Beirut, war natürlich nicht von uns unterstützt, – das brauchten wir gar nicht, denn sie hatten sich, durch ihre Politik im Nahen Osten, zahllose Feinde selbst herangezüchtet. Auch der Boeing-Abschuss, im September dreiundachtzig bei Sachalin, war eine unglückliche Folge der Kalten-Kriegs-Psychose auf beiden Seiten.

Die Grenada-Invasion der Amerikaner im Oktober und die sechstägige Nato-Stabsübung Able-Archer im November, alarmierten allerdings den Kreml aufs höchste. Im Nachhinein war das Erschrecken auf beiden Seiten groß, denn in diesem Jahr wurde mehrfach die Schwelle zum Atomkrieg ereicht. Diese eben geschilderte Kette von Ereignissen, die eigentlich nichts miteinander zu tun hatten, heizte damals die Konfrontation der Blöcke immer weiter an.

Wie vom Teufel bestellt, musste dann die mehrfache Blendung unserer Frühwarn-Spionagesatelliten – durch dubiose Sonnen-Reflektionen an amerikanischen Raketen-Basen – im September dreiundachtzig, als Start von fünf Interkontinental-Raketen gedeutet werden. Nur durch die Besonnenheit eines Offiziers im Raketen-Frühwarnsystem OKO, in Serpuchow-15, der die technischen Defizite seines Aufklärungs-Systems kannte, wurde die todbringende Befehlskette verzögert, – bis klar war, dass es kein Angriff ist.

Das war damals entscheidend, denn General Tschebrikow, der KGB-Chef, war NATO-Paranoiker, Marschall Ustinow, der Verteidigungsminister, ein kalter Krieger, – wie Andropow, der Parteichef, der noch dazu todkrank war. Die hätten unter exzessivem Zeitdruck und im Angesicht der vermeintlichen Fakten, sicher den Befehl zum Gegenschlag erteilt.

Oberstleutnant Stanislaw Petrow sollte man deshalb ein Denkmal errichten, denn er hat die Menschheit gerettet, indem er, in ahnungsvoller Gewissensnot, Dienstvorschriften verletzte, – das nur am Rande.«

»Quellen? – Wie konnte es überhaupt dazu kommen, wenn ihr doch überall, in allen westlichen Diensten eure präventiv agierenden Quellen hattet, – wie Konstantin Petrow es am Rande unseres Gespräches erwähnte?« – zeigte sich Nussbaum hinter der Kamera erstaunt.

»Eben da lag das Problem Samuel: Der KGB und auch unser Militär-Geheimdienst litten, wie eigentlich weltweit alle Dienste, unter einer grundsätzlichen Analyseschwäche, – denn es fanden bei der Vielzahl der Informationen und Lage-Analysen, die aus aller Welt herein kamen, kaum Gegenprüfungen statt.

In diesem Herbst dreiundachtzig lag, aufgrund der großen Anzahl von Agenten, ihrer Meldungen und ihres Aufblasens von Mücken zu Elefanten, der Schluss nahe, die Nato plane nunmehr, im Verlauf der Stabsübung Able-Archer vom zweiten bis elften November, für den siebenten November den finalen Erstschlag. Das war bei uns der Tag der Revolution und ein hoher Feiertag. An einem solchen Tag erwartete die sowjetische Militär-Philosophie den finalen Angriff. Das war dann auch der Anlass – das erste und einzige Mal –, wo wir umfassend mit dem KGB kooperieren mussten.

Der Warschauer Vertrag bezog, unter dem Druck dieser Informationen, schon Tage zuvor alle strategischen Einsatzpositionen. Über dreihundert Interkontinental-Raketen wurden für den geplanten atomaren Gegenschlag RJaN startklar gemacht, ebenso fünfundsiebzig mobile SS-20 Mittelstreckenraketen mit Mehrfach-Sprengköpfen. Die riesige Anzahl taktischer Atomwaffen – über Zehntausend, bei unseren in Bereitschaft stehenden Truppenteilen in Europa – und die einsatzbereiten Chemiewaffen zähle ich da gar nicht. Das war auch nötig, denn die NATO konnte im Nuklearbereich etwa das gleiche Potential entgegenstellen.«

Der Mönch machte eine Pause, trank mit zitternden Händen, blickte sie an und sagte: »Schaut bei Gelegenheit, wenn ihr wieder zu Hause seid nach, was ihr an dem Tag gemacht habt und stellt euch vor, es wäre der letzte im Leben gewesen, – für euch und eure Familien.«

Bruder Nikolai straffte sich: »Nur zwei Agenten verhinderten die Katastrophe. Euer deutscher Topas im Hauptquartier der Nato und unser Doppel-Agent in London. Die beide berichteten übereinstimmend und im letzten Augenblick, – die Stabsübung sei abgeschlossen und alle Generalstäbler seien ins Wochenende verschwunden.

Zwei Monate später starb Generalsekretär Andropow.

Die Analyse durch Gorbatschow und seine Vertrauten, die unter dem neuen Generalsekretär Tschernenkow dienten, ergab ein großes Erschrecken. Besonders aber dann, Jahre später, auf amerikanischer Seite – auf diesem Gipfel von Reykjavik – wo Reagan nach ausführlicher, persönlicher Information durch Gorbatschow erkennen musste, dass man haarscharf am alles vernichtenden Dritten Weltkrieg vorbeigerauscht war, – mit etwa hundertfünfzig Millionen Opfern, nur in der ersten Angriffswelle, allein in den USA.

Vor allem im dicht besiedelten Europa sollten im Verteidigungsfall, in der ersten Stufe, vierhundert Atomsprengköpfe präventiv auf die Bereitstellungsräume und Basen der Nato niedergehen. Der Gegenschlag der anderen Seite wäre damit aber nur theoretisch zu begrenzen. Schon bei Konstantin Petrow habt ihr es sicher gehört: Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter, – das war schon eine fundamentale Erkenntnis, die jedoch von der Politik vor Gorbatschow völlig ignoriert wurde.

Man stelle sich vor: Alle Städte der Sowjetunion über fünfzigtausend Einwohner, die Städte Mitteleuropas und die Zentren Amerikas wären in Schutt und Asche gelegt worden, – mit voraussichtlich einer halben Milliarde direkter Opfer.«

Bruder Nikolai bekreuzigte sich und hielt lange die Augen geschlossen. Dann blickte er mit tränenverschleiertem Blick, wie abwesend, auf die Gäste.

»Unvorstellbar. – Eigentlich unvorstellbar!«, stöhnte Nussbaum. »Wir alle, unsere Familien, unsere Freunde, – alle wären jetzt tot.«

»Ja, es gäbe diese Welt wohl nicht mehr, so wie wir sie kennen!«, warf Oie erschüttert ein.

»Das ist so, – und das ist ein fürchterlicher Gedanke, der mich noch heute umtreibt«, entwickelte Bruder Nikolai den spannungsvollen Faden weiter: »Mit dieser für die Mächtigen bildhaften Bedrohung, dem gerade noch einmal Davongekommensein, war der Weg frei für den nüchternen Dialog zwischen den großen weltpolitischen Kontrahenten, für den allerdings erst noch Parteichef Tschernenkow versterben musste. Entgegen anderslautenden Gerüchten mussten wir da nicht nachhelfen. Der war schon am Start gesundheitlich so ruiniert, dass er bald darauf um seine Ablösung nachsuchte, die ihm die Gerontokraten des Politbüros aus Zukunftsangst verweigerten.

Wir nutzten die Zeit und entwickelten parallel erste strategische Pläne, die sich abzeichnenden inneren Hindernisse für die Beendigung des Kalten Krieges aus dem Weg zu räumen. Das taten wir, muss ich zugeben, ohne dass uns damals schon die volle Tragweite unserer Planspiele in ihren gesellschaftlichen Konsequenzen überschaubar sein konnte.

Die von uns neu geschaffene Organisation der Abwehr im sowjetischen Militär-Geheimdienst, wurde zum konspirativen Kern der Planungen. Methodisch war es für die Handvoll eingeweihter Strategen eine Verschwörung zum Guten, aber zum Rückzug, – der Königsdisziplin. Heute möchte ich es die Achse des Guten nennen, wenn ich die Ergebnisse bilanziere, für die Völker Europas und der Welt. Damals fühlte ich mich glücklich – kaum zu glauben, aber wahr, – denn wir arbeiteten, erstmals offensiv für eine Hoffnung auf Frieden.«

Der Mönch Nikolai, der einst ein Oberst war, straffte sich in seinem Sessel und bekam einen festen Blick, dem man ansah, dass grundsätzliches zu Protokoll gegeben würde: »Ich hatte schon lange Zweifel am Sinn der Konfrontationspolitik, denn nach meinem Einsatz für den Militär-Geheimdienst in Afghanistan sah ich die amoralische Ausweglosigkeit unserer Strategie. Da wurde mir und anderen klar: Eine Staatsraison erwächst immer aus dem Respekt vor den Menschen, dem Gesetz, der Kultur der Bürger und vor Gott, – nicht aus Rache und Vergeltung gegenüber vermeintlichen Terroristen, die sich gegen Fremdbestimmung und Besetzung ihres Landes wehren. Von den Regierungen bezahlte Auftragsmörder, auch uniformierte, widersprechen jeder Rechtstaatlichkeit fundamental. Sie sind im christlichen Sinne durch nichts zu rechtfertigen. Es sind vor Gott politische und juristische Verbrechen, – und ihre Geheimhaltung ist es nicht weniger.

In der neuen Situation, bei allen dann folgenden Licht Operationen, widerstrebte es deshalb unserem IQ, uns in so genannte Nasse Sachen verwickeln zu lassen, – oder sie auch nur für unsere Ziele ins Kalkül zu ziehen.«

»Nasse Sachen?«

»Oie, so nannte man in den Diensten Aktionen, bei denen Menschen zu Schaden kommen und Opfer zynisch einkalkuliert werden. Aber ein Menschenleben ist heilig, – und so etwas dann auszuschließen machte den Unterschied aus, der sich in der neu formierten Abwehr als gravierend erwies, denn dadurch waren wir weniger berechenbar. Seit Generationen von verdeckten, geheimdienstlichen Operationen war dies, so hatte ich das Gefühl, ein Ansatz von Lauterkeit in Zielen und Mitteln. Natürlich war es auch Sportsgeist damals, aus dem heraus wir handelten. Auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, auch ihr zu dienen, – im Preußischen Sinne, würde man bei euch wohl sagen.

Wir waren in diesen Operationen eben nicht theoriefrei, trostlos und uninspiriert, wie die korrumpierbaren Dienste des Westens, die bestenfalls die Nationale Identität, ihr Eid und das Geld zusammenhalten. Obwohl wir dort, in der Zeit des Kalten Krieges, fast jeden herauskaufen konnten, der uns nützlich erschien, – es war ja nur eine Frage des Preises.

Wir hatten auch Bundestags-Abgeordnete und Politiker quer durch Europa auf unserer Gehaltsliste. Schaut euch die Rosenholz-Dateien an, die Karteien F16 und F22. Über vierzig IM und IMA der Stasi, des KGB und unseres Militär- Geheimdienstes hatte der Bundestag seit seiner Gründung als Mitglieder, das waren aber nur halb so viel – und die kannten wir namentlich – wie die westlichen Geheimdienste, denn Deutschland war ein besetztes Land, das um jeden Preis unter Kontrolle zu halten war.

Schwerpunkt bei Rosenholz, muss man allerdings sagen, war die Wirtschaftsspionage, – um die katastrophalen Auswirkungen der CoCom-Listen, für die technologische Entwicklung des Ostens, zu lindern.

Das war die äußere Situation und die der Dienste vor Gorbatschows Zeit. Dann änderte sich für uns fast alles.

In der neu formierten Abwehr des Militär-Geheimdienstes, in der beginnenden Perestroika, waren wir wie Artisten in der Zirkuskuppel, mit dem Wunsch, diesen Augenblick ohne Schwerkraft zu erleben, der sich immer dann einstellte, wenn eine Operation perfekt, nach Plan lief und erfolgreich war, – vor allem wenn unsere Gegner im Apparat und im KGB ins Leere liefen.

Das machte es uns leicht, uns aber manchmal auch anfällig für Angriffe dieser omnipräsenten, Macht benebelten Hydra der Partei, des KGB und auch der anderen Staats-Sicherheitsdienste der Ostblock- Länder. Die verfolgten uns seit dem Kreml-Flug mit ihrer Operation Freunde hartnäckig.

Diese Staats-Sicherheitsdienste waren die am meisten ideologisierten und willfährigen Organe einer untergehenden Kaste. Sie waren unsere Hauptgegner, aber auch eingeschränkt in ihren Möglichkeiten, denn die konnten konsequent und effektiv nur auf der zivilen Ebene operieren, – beim Militärischen hörte ihre Operationsfähigkeit absolut auf.«

»Was war dann euer konkreter Auftrag in der Perestroika?«, hakte Oie nach.

»Wir kannten die militärische Notwendigkeit unseres Rückzuges aufgrund der kulminierenden wirtschaftlichen Probleme. Daraus resultierten das übergeordnete politische Ziel der Europäischen Perestroika und der Auftrag, alles zu unternehmen, was der Herrschaft der Oboronka ein Ende bereitet, – die diesem Ziel naturgemäß feindlich gegenüberstand.

Es war oftmals wie bei einem Schachspiel, besser, wie bei Simultan-Partien. Auf jedem Brett immer einen Zug voraus, mit einer klaren Strategie, um die absehbaren Schachzüge der inneren und äußeren Gegner zu durchkreuzen und möglichst viele Figuren zu schlagen, – die Potentiale unserer Feinde.

Das hieß dann praktisch vor allem deren strategische Pläne aufdecken, taktische Hindernisse abräumen und Widerstände der Apparate, auf den entscheidenden Ebenen, konspirativ aushebeln. In Konsequenz mussten wir alles dafür tun, die gewünschte Unabhängigkeit der Ostblock-Staaten friedlich auf den Weg zu bringen und insbesondere den Weg zur Deutschen Einheit ebnen. Der uns gesetzte Zeitrahmen war dabei eng bemessen, denn die ersten zwei Jahre der Perestroika hatten wir in dieser Frage fast auf der Stelle getreten.«

»Fjodor. – Ja, das ist uns erst in den Gesprächen mit Fjodor Kusnezow so richtig bewusst geworden«, warf Nussbaum ein, – und Oie ergänzte: »Auch als Konstantin Petrow erzählte, welche Widerstände gegen die Perestroika in Partei und Nomenklatura zu überwinden waren, wurde uns klar, welch dicke Bretter da im Hintergrund gebohrt werden mussten, – obwohl man damals aus den Zeitungen den Eindruck haben konnte, alles in der Sowjetunion Verkündete, sei in gewohnt großer Einmütigkeit, planmäßig in der Umsetzung.«

Nikolai lächelte verträumt: »Bei uns in Russland sagt man, wir sind immer langsam am Start, dafür aber schnell beim Ankommen!

Anfangs ging es wirklich schleppend, weil es so grundsätzlich angelegt war, in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen, uns gleichzeitig aber eine bewaffnete Macht gegenüberstand, die jedwede Reformen aus Eigeninteresse zu verhindern suchte. Abrüstung hieß für diese Leute vor allem Machtverlust, – und Verlust an Privilegien. Verbrämt wurde das durch die angebliche Alternativlosigkeit des herrschenden, so erfolgreichen Gesellschaftsmodells und die Bedrohung durch die NATO.

Was ich sagen will: Wir mussten handeln, um unsere im Inneren bedrohten Ziele einer wirtschaftlichen Reorganisation durch umfassende Abrüstung zu befördern, – das heißt, die äußeren Verstrickungen und Bedrohungen mit einer Europäischen Perestroika beenden, um mit den frei werdenden Mitteln im Innern voranzukommen.

Heute höre ich unter Fachleuten, besonders des Westens, Zweifel, wie das hat gehen können in dieser Konsequenz, ohne dass die Satelliten des Ostblocks, deren Dienste oder auch der Westen etwas von dieser strategischen Dimension mitbekommen haben?«

Nikolai streckte sich in seinem Sessel wie zum Sprung und warf selbstbewusst den Kopf in den Nacken: »Alle westlichen Dienste waren ja bis zur Maueröffnung ahnungslos und wurden, nach eigenem Bekunden, von Verlauf, Tempo und Konsequenz der Wende vollkommen überrascht.

Zum ersten Mal, als es uns gelang, die Propaganda-Barrikaden des Westens, vom Reich des Bösen, gegen ihn selbst zu nutzen.«

»Hebel. – Konstantin Petrow hat den Hebel angedeutet, – diese Operation, den Journalisten Daniloff von U.S. News and World Report, einen der schlimmsten medialen Scharfmacher vor dem Herrn, in eine Falle zu locken.«

»Ja, Samuel, damit bekamen wir den zähneknirschenden Schwert-Engel des Westens, Ronald Reagan, an den Verhandlungstisch in Reykjavik, – und quasi den Einstieg in die atomare Abrüstung, mit dem Washingtoner Vertrag über die Reduzierung der Mittelstrecken-Raketen, ein Jahr später. Da war der Führer der westlichen Welt mental geläutert, denn er hatte durch unsere pragmatischen Lösungsvorschläge und Gorbatschows Glaubwürdigkeit Vertrauen gewonnen.

Unsere inneren Gegner in Politik und Oboronka wurden dadurch aber alarmiert und dieses Abkommen wäre nicht möglich gewesen, hätten wir nicht im Sommer die Reißleine gezogen und diese alles beherrschende Hydra der Oboronka mit dem Kreml-Flug vollständig enthauptet. –Vollständig heißt, über dreihundert der führenden Generäle aller Waffengattungen und des KGB auf einen Schlag.«

»Ich verstehe jetzt die großen Fragezeichen des Westens, denn er kennt ja bisher diese unglaublichen Zusammenhänge nicht, die du uns hier schilderst. – Perfekte Zusammenhänge, und doch mit so vielen Fragen, wie das im Detail denn gehen konnte«, zweifelte Oie.

»Hat der Westen unsere übermächtige Militärpräsenz und unsere Kommando-Hoheit im Ostblock vergessen? Hat der Westen, wie nominal seit einiger Zeit bekannt, die neuntausend auf ihn angesetzten Topagenten und Schläfer der Militär-Geheimdienste in West-Europa und den USA vergessen, – die perfekt getarnt, bis zum Schluss unentdeckt blieben?

Hat er die siebzehnhundert strategischen Objekte in der Bundesrepublik vergessen, die wir lückenlos in Beobachtung hatten, darunter auch alle Provinzflugplätze, mit jedem großmäuligen Fliegerhelden? So stießen wir übrigens auf den Flieger Rust und andere – unsere fliegenden Trojanischen Pferde, wie wir sie scherzhaft nannten –,denn das war unser Paukenschlag in der Ouvertüre. Damit haben wir unsere Gegner im Innern völlig überrascht und die strategische Initiative für Gorbatschows Perestroika wieder gewonnen.

Mit den Vorbereitungen dafür hatten wir schon im Sommer nach der Katastrophe von Tschernobyl begonnen. Für die finale Entmachtung unserer allmächtigen Militärführung habe ich einer Luft Operation den Vorzug gegeben, da derartige Szenarien am besten medial sichtbar zu machen waren, – vor allem auch im Ausland, mit gleichzeitig durchschlagenden Konsequenzen für das Ansehen und die Potentiale unserer inneren Gegner gegenüber ihren eigenen Genossen.

Die mediale Komponente war die neue strategische Dimension, bei allen weiteren Operationen im Ostblock, – besonders dann in Ungarn, auch bei der Samtenen Revolution in Prag und, als Höhepunkt, bei der Maueröffnung in Berlin, wo wir jeweils West-Journalisten mit konkreten Aufträgen für unsere medialen Ziele einspannten.«

»Fäden. – Ihr habt also wirklich überall die Fäden gezogen?«, brummte Nussbaum halb fragend, halb bestätigend.

»Ja, das war so. – Für den Kreml-Flug hatten wir schon im Herbst sechsundachtzig drei strategisch-fliegerische Optionen, sodass wir sicher waren, auf alles vorbereitet zu sein, wenn die politische Ebene ihre Termine plant.

Oberst Kiparsky, in Lettland, hat Details in eurem Interview so schön bildhaft zu Protokoll gegeben. Trotzdem noch mal der strategische Hintergrund zur Übersicht: Schon Anfang April siebenundachtzig hatten wir unsere Gegner in der Oboronka überrascht, als Parteichef Gorbatschow, vor versammelten Parteichefs des Ostens und den Militärführern in Prag, zum ersten Mal konkret das Ende der militärischen Konfrontationspolitik und die Aufhebung der Breschnew-Doktrin thematisierte. Diese Doktrin suggerierte ja deren Überlebensgarantie, den imaginären Schutzschirm für die ewige Herrschaft der Partei und der Militärs in ihren Ländern.

Alle Ost-Parteiführer waren damals entsetzt über derlei Ideen. Besonders verärgert über diesen Prager Vorstoß war der oberste Heerführer der Sowjetunion, der ruhmreiche und tolle Hecht, Verteidigungsminister Marschall Sokolow, – ähnlich dem Papst, ein lebenslang unkündbares Fossil.

Zweiter Teil unserer politischen Provokation, war eine dementsprechend ausformulierte, neue Militärdoktrin des Warschauer Paktes, die am achtundzwanzigsten Mai, auf einer Tagung der Parteichefs und Verteidigungsminister in Ost-Berlin, abgesegnet werden sollte. Das war synchronisiert der Stichtag unserer Start-Inszenierung der Europäischen Perestroika, – mit dem Kreml-Flug. An einem Freitag und Feiertag, – dem Tag der Sowjetischen Grenztruppen.

Für die vorbereitenden Flüge im Mai nach Finnland hatten wir anfangs, wie aufgezeichnet, von Deutschland drei gesicherte Planvarianten. Von Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. In Finnland war die erste Operation von Lahti geplant, die Ersatzoperation von Helsinki und dann noch eine Reserve-Operation vom Finnischen Provinz-Flugplatz Kuopio, – der von euch aufgezeichneten Plan-C.

Wir hatten, wie immer in der Vorbereitung, dreifach genäht. Nachdem unsere geplante Vorzugslösung von Lahti nicht funktionierte weil, wie ich später erfuhr und ihr es auch in eurem Film- Dokument habt, der Pilot nicht einsatzfähig war, operierten wir von Helsinki. Da stand ja der später berühmt gewordene Flieger Rust mit seiner Cessna bereit. Er hatte sie zu einem Nordseeflug gemietet und ist schon Anfang Mai nach Reykjavik geflogen, weil er den Ort besuchen sollte, wo die Hoffnung auf Frieden – beim Gipfel zwischen Reagan und Gorbatschow – so ernüchternd gescheitert zu sein schien.

Wir kannten und förderten damit seine jugendlich-idealistischen Phantasien von Lagonia – der Welt des Friedens und der Gerechtigkeit, die er zu Papier brachte, wovon er einige Druckexemplare dabei hatte, und sie im Kreml persönlich überreichen wollte. Das passte in unsere Entspannungs-Strategie, – und dieses ambitionierte Unternehmen haben wir dann abschirmend begleitet, damit er sein Ziel Moskau erreicht und unterwegs keinen Schaden nimmt.

Von Island ist er mit viel zeitlicher Reserve über Norwegen nach Finnland geflogen, – und in Helsinki-Malmi gelandet. Dort bekam er weitere Informationen, denn nach Stunden des Fluges über weite, wenig markante russische Regionen, musste er Moskau sicher finden. Das war das Problem, denn nur so konnten wir ihn beobachten, Abwehrmaßnahmen der Luftverteidigung unterbinden und seine Sicherheit gewährleisten.

Hauptproblem bei derartigen verdeckten Operationen ist aber eine stabile Psyche des Akteurs, der, einer Billard-Kugel gleich, sein Ziel finden muss.«

»Billard-Kugel? – Was meinst du mit Billard-Kugel?«

»Wie beim Dreiband-Billard, Samuel, bei dem klar ist, welche Bande du in welcher Reihenfolge touchieren musst, um einen Treffer sicher zu landen. Die Billard-Bande für den Kreml-Flieger waren unsere abschirmenden Agenten in der Luftabwehr und am Boden, – die den Erfolg der Operation absichern mussten.

Unser Verbindungsoffizier in Helsinki bekam das Einsatzsignal erst, als die Aktion von Lahti behindert war. Rust flog nach Moskau, wo er am Abend auf der Großen Moskwa-Brücke am Roten Platz landete. An dem Platz, wo die russische Seele wohnt, wie die im Westen schon richtig bemerkt haben.«

Bruder Nikolai stieg lächelnde Genugtuung ins Gesicht.

»Das klang bei Oberst Kiparsky sehr einfach«, zweifelte Oie listig, »und wir haben auch nicht weiter nachgefragt. Aber ich stell mir das schon sehr komplex vor, wenn man eine derart weit greifende Operation, gegen die sprungbereite Luftverteidigung, erfolgreich abschließen muss.«

»Das war es auch, – beileibe. Doch Oberst Kiparsky kannte damals auch nur seinen unmittelbaren Part. Alles war von uns sorgfältig vorbereitet, bis ins Detail, – denn nichts durfte schief gehen.

Erstes Problem waren die finnischen Fluglotsen und deren Luftüberwachung. Die war durchsetzt von KGB-Agenten, weil Finnland quasi unser Puffer-Territorium gegenüber Norwegen und der NATO war. Im Westen heißt das glaube ich Vorwärtsverteidigung, – so was hatten wir auch in Finnland.

Jedenfalls war das ein Problem, denn in dem Augenblick als Rust von seiner gemeldeten Strecke nach Stockholm abwich, und über dem finnischen Meerbusen nach Süden einschwenkte, liefen wir Gefahr, dass eine Meldung darüber, von den KGB-Agenten unter den Fluglotsen, nach Moskau durchgesteckt wird.«

»Und wie habt ihr das Problem gelöst?«, schüttelte Nussbaum den Kopf.

»Wie immer, – gut vorbereitet, denn Rust bewegte sich über der See im Tieflug. Fluglotsen deuteten damit das plötzliche Verschwinden des Flugzeuges vom Radarschirm und die von uns verordnete Funkstille als Absturz. Sie alarmierten die finnische Küstenwache zu einer Suchaktion. Für diesen absehbaren Fall hatten wir vorgesorgt und - zur Tarnung – ein U-Boot der Abwehr auf Sehrohr-Tiefe. Das ließ beim Überflug von Rust eine große Benzinlache ab, um damit den Absturz zu bestätigen. Der Such-Hubschrauber fiel dann, wie geplant, darauf herein.

Rust hatte damit die Einstiegs-Hürde überwunden und Oberst Kiparsky erklärte ihn, beim Auftauchen auf den estnischen Radar-Schirmen, Kraft seiner Autorität in der Zentrale, zur Übung mit Objekt-Nummer.

Ein weiteres, schwer kalkulierbares Problem war die, nach dem Jumbo-Abschuss bei Sachalin organisatorisch umstrukturierte, relativ autonome Luftabwehr der drei durchflogenen Militärbezirke.

Die ersten Abfangjäger, die Rust im Baltikum aufspürten und kurzzeitig begleiteten, wurden durch Kiparsky am Abschuss gehindert, – weil er den Funk-Kontakt untersagte und den Flieger zur Übung erklärte. Dann wurde der Rust mit seiner Überwachungsnummer in den russischen Luftraum weitergereicht, da er, wie geplant, jetzt immer hoch genug flog.

In diesem Militärbezirk, als erneut Jäger aufstiegen, um im Rahmen der Übung Sichtkontakt zum Flugobjekt herzustellen, fanden die das Flugzeug in den Wolken-Haufen nicht mehr. Aber auch da stand einer unserer Offiziere bereit, erklärte Radarsignale zu Vogelschwärmen, und beendete die Suche.

Das ging als Sichtflug relativ gerade und problemlos weiter, bis ihn ein karrieresüchtiger Radar-Offizier aus dem Zweiten Korps der Luft-Verteidigung entdeckte. Der diensteifrige Genosse hatte in unserer Gefährdungsanalyse ein dickes Ausrufezeichen, und wir hatten deshalb vorsorglich für diesen Tag eine Abschaltung seines Radars, zu Service-Zwecken, befohlen. Bloß das verzögerte sich überraschend, und dann – als er das Flugzeug von Rust entdeckte, wurde er hektisch. Er wollte Alarm schlagen, – aber dazu kam es nicht, denn ein Vorgesetzter, ein Offizier unserer Abwehr, stand schon hinter ihm. Der eifrige Genosse wurde sofort abgelöst und nach Hause geschickt.

Rust flog damit erstmal ungestört weiter Richtung Moskau, bis es noch einmal heikel wurde, denn der Moskauer Luftraum galt ja als der heilige Gral der Luft-Verteidigung der Sowjet-Armee, als ein Hochsicherheits-Trakt, gespickt mit über tausend Raketen-Stellungen und zehnmal soviel Raketen. Die hätten zeitgleich eine Armada von Flugzeugen abschießen können, – aber sie taten es nicht.

Auch die haben wir mit der Objekt- und Übungsnummer ausgebremst. Die Genossen glaubten auch, wenn so ein kleines Flugzeug, ohne Probleme, soweit gekommen ist, die anderen wachsamen Genossen es passieren ließen, – dann wird es schon seine Richtigkeit haben, mit dem Flugzeug und der Übung. Außerdem drohten bei uns immer harte Strafen, wenn Offiziere was Falsches taten, meistens im Suff, – da tat man lieber nichts und außerdem war Feiertag.«

Bruder Nikolai lächelte, zapfte Wasser für Tee aus dem Samowar und freute sich an den glänzenden Augen seiner Gäste. Sie hingen an seinen Lippen, obwohl es im Großen nicht neu war, – aber die nun zu hörenden Details klangen perfekt.

»Schwierigster Teil war die Landung, – für Rust, und auch für uns in der Vorbereitung.«

»Wie das?«, warf Oie ein, »der Rote Platz ist doch groß genug und so eine kleine Mühle braucht doch höchstens zweihundert Meter Landebahn.«

»Du hast recht, aber der Platz ist gewöhnlich voller Touristen und wir durften nichts riskieren, – also gerade dort nicht landen. Das hätte den beabsichtigten Effekt, als harmloser Friedensflug, in den Augen der Bevölkerung konterkariert. Deshalb hatten wir als Landepiste eine breite Spur der großen Moskwa-Brücke freigesperrt, auf der er landen konnte, um dann auf dem Parkplatz vor der Basilius-Kathedrale auszurollen. Quasi nur am Roten Platz, – näher ging nicht, ohne einen Unfall zu riskieren oder im Vorfeld, durch Absperrungen auf dem Platz, Verdacht zu erregen.«

»Brücke? – Die Brücke konntet ihr freisperren? – Wie muss man sich das vorstellen, wenn in der Zivilgesellschaft überall der KGB lauerte?«, zweifelte Nussbaum.

»Eigentlich ziemlich einfach – ganz harmlos –, als planmäßigen Service an der Oberleitung der Trolleybus-Strecke in diesem Abschnitt.

Auf verdeckte Anweisung unserer Leute wurde abgesperrt und die Leitung genau für diesen Tag heruntergenommen, um sie am nächsten oder übernächsten Tag durch eine neue zu ersetzen, – sonst hätte Rust nicht landen können. Nirgendwo sonst in der Nähe des Kreml gab es einen sicheren Landeplatz.

Den übrigen Auto-Verkehr, auf diesem Teil der Brücke, hat dann ein von uns vorbereiteter Milizionär spontan gestoppt, als der Kreml- Flieger – nach langem, publikumswirksamem Tiefflug über dem Roten Platz – zur Landung ansetzte.«



Den Freunden hatte es sichtlich die Sprache verschlagen, – Nikolai, der sich sicher war, noch einen draufsetzen zu können, lächelte verschmitzt und reichte ostentativ-gemächlich russisches Konfekt aus einer schwarzen Ebenholz-Schachtel.

»Schon zwei Stunden vor der Landung hatte ich für die freundlichste Begrüßung gesorgt, – und die kam dann und brachte dem verdutzten Kreml-Flieger Brot und Salz.«

»Was sagst du, – wie hast du das denn organisieren können, in dieser angespannten Situation?«

»Erstaunlich, – ihr seid die ersten die danach fragen.

Wir mussten doch für einen entspannten, freundlichen Empfang des Friedensfliegers sorgen, vor allem darum, dass der Menschenauflauf rund um die gelandete Maschine den Gast respektierte, – friedfertig blieb und ihm zuhörte. Deshalb habe ich einen Offizier unserer Organisation in Zivil abkommandiert – eine überaus nette Dame – und ihr gesagt, das da gleich ein Gast an der Basilius-Kathedrale landen wird, – und sie dafür sorgen soll, dass er begrüßt wird, wie es in Russland Sitte ist.

Bruder Nikolai genoss das Staunen der deutschen Gäste, schenkte Tee nach und erläuterte: »Aus Gründen des durchschlagenden Effektes nach innen, kann ich heute sagen, haben wir die Verhaftung des Kreml-Fliegers durch unseren Militär-Geheimdienst über eine Stunde verzögert, damit er mit Moskauer Bürgern ausgiebig Freundschaftsbekundungen austauschen konnte und Autogramme gab. Zur Absicherung, falls etwas aus dem Ruder läuft und Rust sich nicht verständlich machen kann, hatten wir aber einen Mann der Abwehr aus der DDR-Botschaft im Hintergrund.«

»Wie hieß der, – kannst du dich erinnern?«

»Ja, weil er so einen außergewöhnlich schönen Decknamen hatte, der Puppenspieler, – ein junger Mann, neu in Moskau, und von den deutschen Kameraden abkommandiert. Der brauchte jedoch nicht einzugreifen, denn ein Moskauer Schüler mit Englisch-Kenntnissen übersetzte, und die umstehenden Passanten waren alle sehr herzlich zum Friedens-Flieger, – auch gegenüber seinen ersten euphorisch-spontanen Verlautbarungen.

Zwischenzeitlich wurde es scheinbar bedrohlich für Rust, denn es kam die Ordnungsmacht vorbeigefahren – der Polizei-Präsident persönlich, in Uniform und Lametta – um nach dem Rechten zu sehen. Das war aber nur eine Formalie, denn er wusste schon bei der Anfahrt: Das ist Sache des Militär-Geheimdienstes.

Deshalb ließ er sich, zum Erstaunen der Umstehenden, nur den Pass von Rust zeigen, mokierte sich kurz darüber, dass kein Visum erteilt worden war, – und ermahnte den Flieger, zu seinem Erstaunen, beim nächsten Mal rechtzeitig einen Antrag zu stellen. Dann fuhr er wieder. Das war’s, – und noch niemand hat sich bis heute darüber gewundert.«

»Das ist ja zum Kringeln, Nikolai, wie sich das anhört«, lachte Oie, »etwa so, als hätte ein Flieger aus Nord-Korea ungehindert am Weißen Haus in Washington landen können, – und da kommt auch gleich der FBI-Direktor, schaut beim Autogramme geben zu, – und lässt Hotdogs zur Begrüßung kommen. Unglaublich die Geschichte.«

»Das war aber so, – und keiner hat sich offiziell gewundert, denn wir hielten den Deckel auf den Ermittlungen, gerade auch bei den bis heute verblüffend zufällig wirkenden Details, vor allem um die beteiligten zu schützen.

Ja, und dass es um die Welt geht, hatten wir eben auch vorbereitet: Ein Arzt aus dem Westen, der zu einem Kongress der Ärzte für Nukleare Abrüstung im Hotel Rossija am Roten Platz war und von dem wir wussten, dass er mit einer neuartigen Video-Kamera eingereist war, bekam von uns einen Tipp und eine unmissverständliche Aufforderung sich bereitzuhalten, denn er könne einem bedeutenden Ereignis beiwohnen. Aber erst als wir ihm steckten, dass er damit Geschichte schreiben könne und viel Geld zu verdienen sei, fasste er Mut und vertraute unserem Mittelsmann.

Er stand dann bereit, filmte die Landung und wurde von uns dabei – und natürlich bei der Ausreise am gleichen Tag – abgeschirmt. Dieser Film-Schnipsel wurde von ihm wohl für sehr viele Dollars an die Amerikanische NBC verkauft und ging, als Sensation des Jahres, wie ein Lauffeuer um die Welt.«

»Verhaftung, – und wie habt ihr den Kreml-Flieger vor dem Zugriff des KGB bewahrt, er war ja eure Trumpf-Karte wie es klingt.«

»Ganz einfach, denn er war schon seit seinem ersten Auffassen im Luftraum Estlands und seiner Identifikation, eine Sache des Militärs, – also unseres Militär-Geheimdienstes. Der KGB war da in keinem Augenblick mit befasst, sonst wäre es – vor allem für Rust – völlig anders und nicht gut ausgegangen.

Die von mir persönlich erlebte, und später auch von Rust so beschriebene, gute Stimmung im vollgepfropften Auto nach seiner Verhaftung, trotz seines Husarenstückes gegen die erklärt beste Luft-Verteidigung aller Zeiten, ist symptomatisch für das Hochgefühl unserer Abwehr um Igor Antonow an diesem Tag.

Wir brachten Rust ins Lefertowo-Gefängnis, wo er dann von unseren Leuten sehr milde verhört wurde. Alle waren eingeschworen ihn freundlich zu behandeln, denn wir wollten vermeiden, dass er weiche Knie bekam und vielleicht Details zu den wenigen, von ihm zu erahnenden Hintergründen preisgab, – die unsere Beteiligung an der strategischen Operation auffliegen lassen würden. Er war dann der best behandelte Gefangene in der russischen Geschichte glaube ich. Vor allem, weil wir ihn vor Rache-Engeln schützen mussten, denn er hatte vielen Generälen und Aparatschicks in Militär und KGB die Karriere versaut, – so würde ich es mal drastisch formulieren.

Die verloren nicht nur Posten, Dienstränge und Privilegien, sondern bekamen, als Genossen, in der Regel auch ein entwürdigendes Parteiverfahren an den Hals, das auch mit einem Partei-Ausschluss enden konnte, – und da wurde man in Kreisen der Machtelite schnell so was wie ein Aussätziger.

Der Kreml-Flug hatte für den gesamten, sklerotisch-korrupten Militärapparat der Sowjetunion die exemplarischen Konsequenzen, auf die wir hingearbeitet hatten. Nach einer eilig einberufenen Politbüro-Sitzung trat der machtbesoffene Kopf unserer Gegner, der eigentlich unabsetzbare Verteidigungsminister Marschall Sokolow, der ja gerade Parteichef Gorbatschow, in Berlin, in die Parade seiner neuen Abrüstungspolitik gefahren war, freiwillig zurück. Ebenso der Luftabwehr-Chef, General Alexander Koldunow und zwanzig weitere höchste Offiziere.«

»Widerstand. – Gab es keinen Widerstand bei diesen mächtigen Genossen?«

»Nein, Samuel, die waren völlig überrascht und begriffen es erst, als es zu spät war. Manche der Generäle in der zweiten Reihe schauten auch erstmal schadenfroh zu, denn sie hofften, nach den bis dahin praktizierten Spielregeln, sie kämen jetzt selbst zum Zuge.

Von den wichtigsten Genossen im Offiziers-Korps kam deshalb kein Widerstand, – bis es sie selbst erwischte, – denn wir schnitten die Generalität innerhalb weniger Tage quasi von oben herunter, bis auf die gesunden Wurzeln. Auf diese Weise folgten hundert der bis dahin wichtigsten Heerführer, darunter alle Stellvertreter der Chefs, alle Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte und alle Oberkommandierenden unserer in den sozialistischen Ländern stationierten Armeen, – alles Gorbatschow-Gegner und Feinde der Perestroika. Insgesamt dreihundert ranghohe Militärs und KGB-Führer, – und nach Abschluss der zu dem Zeitpunkt schon laufenden Militär-Reform waren tausendzweihundert Generale ausgewechselt.

Ausgewechselt wurde auch unser noch in der Breshnew-Ära eingesetzter Chef des Militär-Geheimdienstes Iwaschutin, der als ehemaliger KGB-General natürlich nicht in unsere Kreml-Flug-Operation eingeweiht war und aus allen wohligen Funktionärs-Wolken fiel.

Beim Prozess gegen den Kreml-Flieger in Moskau, den ein Richter führte, der von uns auf Milde eingeschworen war, ermittelten Gutachter übrigens eindeutige Anzeichen von spätpubertärem Schwachsinn bei Rust, – was aber unter den Teppich gekehrt wurde, da die Sowjetunion mit dem Ruf politischer Psychiatrie belastet war.

Rust bekam über die monatelange Einzel-Haft nach der Verurteilung große psychische Probleme, aß wenig und war bei seiner Entlassung mächtig abgemagert, – denn er hatte wohl bis zum Schluss Angst, man würde ihn eher beseitigen als freilassen. Aber, wie schon gesagt, wir planten und machten bei den Licht-Operationen keine Nassen Sachen. Wir haben alles versucht, ihn mit Vergünstigungen bei den Haftbedingungen psychisch zu stabilisieren, vor allem, indem wir mehrfach Wachpersonal abzogen, das versuchte, ihn subtil zu schikanieren. Einige Leute im KGB, die wir bei der großen Säuberung nicht erwischt hatten, versuchten über Mittelsmänner auf diese Weise, mit ihren Kraken-Armen, wenigstens ein bisschen Rache zu nehmen, an diesem Zerstörer ihrer eingebrannten Selbstgewissheiten

In den Augen der sowjetischen Öffentlichkeit war dieser Kreml-Flieger ein Teufelskerl, der es diesen unfähigen, täglich erlebten, größenwahnsinnigen Apparatschicks gezeigt hatte. Gleichzeitig aber irgendwie auch der alte, besiegt geglaubte, überhebliche deutsche Feind, in seinen jungenhaften Phantasien von Unverwundbarkeit.«

»Kreml-Flieger. – Wie habt ihr die Kreml-Flieger überhaupt auf den Punkt gefunden, das stelle ich mir sehr schwierig vor?«, lockte Nussbaum hinter der Kamera.

»Das war schon schwierig. Wir haben, mit den Agenten eures Militär- Geheimdienstes, monatelang nach geeigneten Fliegern recherchiert und dann alle Optionen perfekt vorbereitet. Wir standen am Schluss unter gewaltigem Erfolgsdruck, denn alles musste passen. Die lang anberaumte Sitzung des Warschauer Paktes in Berlin, mit Gorbatschows Strategie-Reform, die seine Gegner im Ostblock offen herausfordern musste, – und das Ganze an diesem symbolträchtigen Feiertag. In der Vorbereitung fragten wir uns manchmal, ob wir da nicht zuviel auf einmal wollten, – im inszenierten Bolschoitheater. Aber es klappte. Zwar nur im zweiten Anlauf, – das war jedoch unbedeutend.«

»Was geschah dazu konkret in Deutschland?«, fasste Oie nach.

»Die Rekrutierung von ambitionierten Fliegern im Vorfeld der Operation, war, wie gesagt, das Hauptproblem. Das gelang mit unseren deutschen Partnern. Alles Weitere lief innerhalb unserer erprobten Möglichkeiten.

Die Nachricht, die wir in der Variante Rust aus Deutschland bekamen, war gut: Da ist ein junger, sehr ambitionierter, disziplinierter Flieger, hieß es, – der vom Treffen Gorbatschows mit Reagan, auf Island, sehr enttäuscht ist. Der ist geeignet, fitt, noch nicht so Flug erfahren aber umsichtig und furchtlos, war unsere abschließende Information. Viel Geld spielte natürlich auch eine Rolle. Nicht nur für die Flug-Logistik, wie eure Aufzeichnungen vom Flugplatz Kuopio, zum absichernden Plan-C, zeigen. Jeder der Fliegerhelden hatte einen, von uns gut bezahlten, persönlichen Agenten, der ihn als Hauptdarsteller im Bolschoitheater betreute.

Vom medialen Profit lebt der Rust bis heute sicher sorglos, – wenn er nicht alles verspielt hat. Dieses Spielernaturell war schon damals sein mentaler Vorteil, – und natürlich eine Hypothek zugleich. Deshalb war er nur unsere zweite Wahl und deshalb war auch der absichernde Plan-C so wichtig.«

»Vorzugsvariante. – Wie aber hättet ihr den Rust bremsen können, wenn schon die geplante Vorzugsvariante funktioniert hätte, wo der doch mental so entschlossen war?«

»Gute Frage, denn bei dem engen Zeitfenster ging es mit Abführ-Mitteln nicht mehr«, lächelte Nikolai. »Aber da hatten wir einen Schlepperfahrer auf dem Rollfeld, und der hätte dann die Cessna von Rust, aus Versehen, ein bisschen ramponiert, – dann wäre ein Start nicht mehr möglich gewesen. Eigentlich hatten wir alle Eventualitäten im Auge und trotzdem geschehen eben Dinge, die nicht auf dem Plan stehen, wie bei unserem eigentlichen Favoriten, dem volltrunkenen Flieger auf dem Flugplatz in Lahti.«

»Was geschah dann in der Folge politisch?«, lenkte Oie auf ein Gesamtbild.

»Nach dem von uns entwickelten exakten Drehbuch wurde, zum Abschluss der Kreml-Flug-Operation, der von Gorbatschow ausgewählte General Dmitri Jasow – damals schon stellvertretender Verteidigungsminister und Kommandant des Fernöstlichen Militärbezirkes – so instruiert, dass er in Moskau bereitstand und als neuer Minister ernannt werden konnte. Gorbatschow rechnete bei General Jasow, so hörte man, aufgrund landsmannschaftlicher Verbindungen, mit Loyalität, – auch weil er noch nicht zum Moskauer Militär-Klüngel gehörte. Das erwies sich aber schon bald als Fehleinschätzung. Viel wichtiger für uns war: Einer unserer neuen Chefs im Militär-Geheimdienst wurde ein General, der der Perestroika verpflichtet war, und unter dem Igor Antonow und ich die Operation Prelomlenie – den Kreml-Flug – und die anderen, dann erfolgreiche Licht -Operationen geplant haben.«

»Wie war es denn, nach dem Kreml-Flug, überhaupt möglich, eine derart komplexe Reihe von umwälzenden Operationen zu entwickeln – wie es Konstantin Petrow angedeutet hat –, ohne dass auch nur irgendjemand Verdacht schöpfte?«, warf Oie ein. »Was ich sagen will: Spätestens seit dem Kreml-Flug mussten eure Gegner in Partei, Militär und KGB doch gewarnt sein?«

»Das wurde ich, nach der Auflösung der Sowjetunion, schon mal von Kreml-Kennern der Dienste gefragt. Die Antwort ist einfach, wenn man das absolute Primat des Militärischen erinnert: Eine Organisation, die unter dem schützenden Mantel des Militär-Geheimdienstes zur Kreml-Flug-Operation in der Lage war, hatte alle Voraussetzungen, um auch im Warschauer Pakt mit langem Atem und ohne Einschränkungen zu operieren. Die ganz normalen Aufgaben im Militär-Geheimdienst änderten sich nicht und wurden von den Offizieren der Abwehr weiter wahrgenommen, – das war die beste Tarnung.

So wie die Staufenberg-Gruppe im deutschen Widerstand und bei der Operation Walküre, zur Beseitigung Hitlers, nur unter dem Schutz des Stabes im Ersatzheer der Wehrmacht agieren konnte. Das war der Mantel, – für die spezielle Tarnkappe bis zum Anschlag sorgte die Abwehr im Militär-Geheimdienst von Admiral Canaris.

Alle Licht Operationen liefen unter dem Mantel der Militär-Geheimdienste, – und unter der Tarnkappe der Abwehr. Sie waren nur einem ganz kleinen Kreis von Strategen und quasi Weichenstellern bekannt. Politiker gehörten nicht dazu, wie euch Konstantin Petrow schon erläutert hat, als er die Politik mit einem Basar verglich, auf dem wirkliche Diskretion niemals möglich ist. Das hätte die taktische Umsetzung unserer strategischen Planungen gefährdet.

Im Verhältnis der Geheimdienste zur Politik ist es gewöhnlich doch so: Die Nachrichten der Dienste sind das Eine, – was die Politiker daraus machen, das Andere. Diesmal aber war es anders herum: Die politische Strategie der neuen Führung lieferte Zielprojektionen und wir entwickelten die geheimen Pläne, um sie zu erreichen, – vor allem um sich abzeichnende, systembedingte, innere und äußere Widerstände abzuräumen.

Für die demokratische Entwicklung in Polen, die Operation Morgenlicht und für die Reformen in Ungarn, die Operation Schlaglicht.

Für die strategische Neubelebung des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei hatten wir die Operation Herbstlicht und für die Entwicklung in der DDR, als eigentlichem Finale zur Beendigung des Kalten Krieges, die Operation Lichtstrahl.«

»Diese Code-Namen haben wir schon bei Konstantin Petrow gehört, – und dass du sie aus der Taufe gehoben hast. Ich ahne, durch unser Gespräch, einen ideellen Grund dafür«, lockte Oie.

»Konstantin hat das schon richtig erfasst. Es war am Start der Operationen die inhärente Fähigkeit zur Diversifikation in noch nicht absehbarer Breite und Tiefe.

Die Entwicklung im Ostblock gab uns dann recht, denn wir konnten das in unserer strategischen Planung und taktischen Umsetzung bis ins Detail weiter entwickeln und auch begrifflich nachlegen, – vor allem intern für uns, um den Überblick und die taktische Ordnung zu gewährleisten. Ein Dutzend diskreter Operationen und noch einmal so viele Unter-Operationen, sowie jeweils eine Anzahl von Akteuren in den jeweiligen Ländern, – das ist schon die Hohe Schule.

Die relativ kleine, kurzfristig improvisierte Operation Karpaten- Licht, gegen das rumänische Regime, ist so ein Beispiel. – Wenn du aber nach dem ideellen Hintergrund fragst, ist es natürlich das Licht.

Der erste Zauber-Satz der Bibel ist doch: Es werde Licht! Eine Kultur des Lichtes ist Bestandteil aller Kulturen, in allen Zeiten und besonders der Aufklärung, der wir die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz und den mündigen Bürger verdanken. Das sollte nicht unerwähnt bleiben, denn wir waren mental zutiefst Idealisten und wild entschlossen, endlich Licht ins Dunkel der Verhältnisse bringen, – da wo es in unserer Macht lag.«

»Ansatz. – Kompliment für diesen Ansatz, von dem ich damals im Militär-Geheimdienst nur einen Bruchteil wahrnehmen konnte«, lächelte Nussbaum.

»Ja, diese Operationen entwickelten ihre eigene Dynamik, und in deren Folge fielen in nicht mal drei Jahren die alten, dominierenden Macht-Strukturen wie von selbst in sich zusammen. Wir haben uns aber, wie von Konstantin Petrow bereits eingeräumt, erst nach Tschernobyl, als nichts voranging und der Niedergang der Wirtschaft sich beschleunigte, für diese Licht Operationen zur Sicherung der Europäischen Perestroika und zur Beendigung des Kalten Krieges entschieden.

Grundlage in der Hierarchie der Operationen war unsere Schwachstellenanalyse, die zeigte, dass Ungarn die strategisch besten Voraussetzungen bietet, den symbolisch und faktisch so präsenten Eisernen Vorhang medial, und dann erstmals auch praktisch, zu beseitigen. Deshalb haben wir schon Anfang des Jahres siebenundachtzig die Lieferung von Technik für die Grenzsicherung nach Ungarn gestoppt, denn die Grenzöffnung in Ungarn war in der Strategie des Rückzuges, die mit dem größten und schnellsten Effekt. Insofern haben die Historiker recht, die behaupteten, dass das faktische Ende der Berliner Mauer in Ungarn eingeläutet wurde.«

»Kreml-Flug. – Aber ich denke, nach dem was wir hörten«, warf Nussbaum ein, »dass der Start zur Maueröffnung mit dem Kreml-Flug begann!«

»Du hast damit auch recht, - eigentlich aber, wenn man es historisch genauer anschaut, zuerst in Polen, das parallel, innenpolitisch, ein Labor für unsere Europäische Perestroika wurde, denn dort war man reifer für den Wandel, weiter fortgeschritten in der Stimmung der Bevölkerung und der Leistungsträger, – auch an der Spitze der damals regierenden Militärs. Polen war aber leider ohne Westgrenze und deshalb zur so wichtigen, symbolträchtigen Überwindung des Eisernen-Vorhang nicht geeignet. Vor allem auch weil es, als Erbe der Breschnew-Ära, de facto noch unter einem Militärregime stand und die verfeindeten Seiten immer noch wie angeknockte Boxer durch den politischen Ring torkelten. Auch deshalb war es dort noch nicht möglich.

Gorbatschows Mannschaft entwickelte die übergreifende politische Strategie für die Europäische Perestroika. In deren Zentrum stand das Ende der Konfrontation, mit unserem Rückzug aus Mitteleuropa, die demokratische Unabhängigkeit der Ostblock-Länder und vordringlich – als primär geheime Zielprojektion – der Fall der Wirtschaftsblockaden mit den CoCom-Listen, um damit zügig in eine weltweite, umfassende technologische Kooperation zu ermöglichen.

Die strategische Umsetzung war das Werk von Igor Antonow und meiner Person als Planungschef. Mehr Leute wussten nicht davon, es gab nichts Schriftliches und alles lief über spezielle Kommunikationsstränge der Abwehr, oder persönliche Kuriere, – denn Papier plaudert, heißt es bei uns. Unbedingt notwendige schriftliche Informationen trugen – als Dokumente des Militär-Geheimdienstes – neben dem Vermerk strengster Geheimhaltung, den Stempel: Nach Kenntnisnahme vernichten!«

»Wie kann man sich das konkret vorstellen, wo doch dem allmächtigen KGB noch heute so eine gewaltige Bedeutung zugemessen wird, in dieser Zeit«, wollte es Oie genau wissen.

Bruder Nikolai strich sich wie in Zeitlupe den Bart und schaute altersmilde auf den deutschen Freund.

»Ja, das muss man erläutern: Mentale Grundlage, die uns zunutze kam, war die traditionelle Rivalität zwischen Staatsicherheitsdiensten und Militär-Geheimdiensten im Ostblock, – exemplarisch zwischen dem KGB und uns. Unser Militär-Geheimdienst hielt den KGB für eine Organisation korrupter, degenerierte Schnüffler, – die einem Offizier auch schon mal privat nachstellten. Das hatte in der Geschichte der Sowjetunion zu unendlich vielen Opfern unter Offizieren geführt, die in der Stalin-Ära zu Zehntausenden liquidiert wurden. Das haben unsere Leute niemals vergessen.

Der KGB dagegen – als politische Polizei – hielt sich für die eigentliche, die unverzichtbare Statik des Systems, suchte in seiner krebsartigen Entwicklung ständig nach neuen Zuständigkeiten und hielt Offiziere, besonders die des Militär-Geheimdienstes, für hochnäsige Fachidioten, die in Sicherheitsfragen eigentlich überflüssig sind. Eine Zusammenarbeit gab es deshalb höchst selten und wenn schon, dann nur punktuell und nur auf Befehl. Das kam uns entgegen.

Wir ignorierten die nervösen Nachstellungen und hatten dabei immer Einblick in die Kommunikation des KGB und der anderen Staatssicherheitsdienste im Ostblock. Natürlich hatten wir auch unsere eigenen abgeschirmten Kommunikationsstränge, die wir nur sparsam einsetzten, um möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Die wichtigsten Träger unserer Kommunikation waren – wenn man so will – quasi reitende Boten. Hochrangige, uniformierte Kuriere, die sich als Truppen-Offiziere und so getarnte Mitarbeiter des Militär-Geheimdienstes, im ganzen Ostblock mit den turnusgemäßen Militär-Versorgungs-Flügen und als deren Begleiter frei bewegen konnten. Das war ein großer Vorteil, wenn man weiß, welche Legitimations- Probleme Grenz-Übertritte auch für die Dienste entwickeln können, – und welche untilgbaren Spuren sie hinterlassen.

Wenn unsere Leute beschattet wurden, verschwanden sie hinter Kasernentoren, – das war ein entscheidender Vorteil, – wurden sie aber hartnäckig verfolgt und liefen Gefahr festgesetzt zu werden, gab es noch die so genannte Rochade, – wie beim Schach. Ein Abtauchen durch einen radikalen Identitäts- und Ortswechsel an einen weit entfernten Einsatzort wie Kuba oder Angola, – bis Gras über die Sache gewachsen war.

Oberst Kiparsky, den Hauptakteur an der Bühnenrampe des Theaters – im Licht der Scheinwerfer, nach dem Kreml-Flug –, konnten wir so verschwinden lassen, bis der Umbau im Sicherheitsapparat vollzogen, sowie die KGB- und Militärführung ausgewechselt war, – so würde ich es heute beschreiben.

Für die weitere Absicherung der Europäischen Perestroika hatten wir dann in Reihen aller Staatssicherheitsdienste des Ostens hochrangige Agenten, die uns verpflichtet waren und uns rechtzeitig warnten, wer unseren Leuten nachstellte oder querschießen wollte. Dass es aber der anderen Seite gelang, jemanden bei uns platzieren, ist mir bis heute nicht bekannt.«

Bruder Nikolai lehnte sich Tee trinkend, mit zufriedenem Lächeln zurück.

»Konsequenz. – Das heißt in Konsequenz, wenn man die Macht des KGB, als politische Polizei, bis ins Politbüro bedenkt, dann hatte dieser Teil und euer geheimdienstlicher Teil keinerlei Kommunikation. – Was wusste Parteichef Gorbatschow von euren konkreten Plänen?«, setzte Nussbaum nach.

»Entschuldige, nimm es nicht persönlich, – aber das sind die typischen Fragen der ahnungslosen Spezialisten, die in die Strategie-Entwicklung nicht eingeweiht werden. Die Antwort ist: Konkret nichts! Nur der am Zuge ist, kennt seine Figuren und ihre Möglichkeiten. Nur den Stand der sicherheitspolitischen Entwicklung erfuhr der Kreml-Chef als erster, – wenn es möglich war und für die weiteren politischen Planungen absehbar von Belang. Niemals aber Details der Operationen, – schon gar nicht in der Vorbereitung.

Es ist doch immer so, bei allen Diensten, überall auf der Welt. Du hast freie Hand in deinen Operationen, – in Mitteln und Methoden. Einzige Verpflichtung ist das Ziel, – das wird vorgegeben. Erreichst du es, wirst du gelegentlich befördert. Geht es aber daneben, kennt dich keiner mehr, bist du tot oder bestenfalls – wie damals bei uns – für ein paar Jahre der Bewährung, Sicherheits-Offizier an einem Raketen-Silo mitten in Sibirien.

Bei Stalin hieß das allerdings noch: Erfolg oder Genickschuss!

Bei allen Operationen im Rahmen der Europäischen Perestroika war die Geheimhaltung nur so zu sichern. Sobald ein Politiker davon Wind bekommt, wird die Operation doch benutzt und gerät, über kurz oder lang, außer Kontrolle. Auch wussten wir, dass die neuen Führungsfiguren des KGB, nach dem Kreml-Flug, nicht lange zögerten, und verstärkte Anstrengungen unternahm, sowohl Gorbatschows Mannschaft als auch uns im Militär-Geheimdienst aufzuklären.

Der volle Umfang wurde allerdings erst in der Jelzin-Ära bekannt, denn Gorbatschows Büros und Privaträume waren damals verwanzt. Noch dazu wurde das Personal – die einfachen, dienstbaren Geister im Umfeld der Machtelite – nach Belieben vom KGB rekrutiert. Wir ahnten so was, kannten auch Details, – konnten jedoch nichts dagegen unternehmen ohne uns verdächtig zu machen.

Die wichtigsten strategischen Informationen wurden deshalb nur bei Spaziergängen in der Natur oder an zufällig ausgewählten, geräuschintensiven Orten ausgetauscht. So war das, und das war gut so, – weiß ich heute.

Natürlich verhinderten diese konspirativen Spielregeln, dass die Einen von den Anderen, und dem was, sie taten, wussten. Deshalb ist die Frage, was wirklich geschehen ist, nur durch damals Beteiligte plausibel zu klären. Das war auch Igor Antonow klar, Oie, – als er dich auf den Weg der Erkenntnis lockte, – so würde ich es beschreiben.

Eure bisherigen Aufzeichnungen zu den Licht Operationen zeigen es und enthalten auch für mich eine Fülle von Details, die mich noch nach über zwanzig Jahren in Erstaunen versetzen. So die Umstände von Plan-C in Finnland oder der präventive Einbruch in Kusnezows Institut, um das Belastungs-Material gegen die Oboronka zu retten.

Es gab eine Vielzahl von Aktionen im ganzen Ostblock – nicht selten taktisch improvisiert –, um Gorbatschows großes Ziel der inneren Reformen und geopolitischen Entspannung möglich zu machen. Dazu mussten wir, als Antwort auf überraschende konkrete Entwicklungen, ständig weitere verdeckten Operationen entwickeln, um die Gerontokraten und die Oboronka zu täuschen und zu entmachten.

Als Reaktion auf eine Vielzahl rätselhafter Ereignisse, in der Zeit nach Machtantritt Gorbatschows, versuchten uns die Staatssicherheitsdienste der Ostblock-Staaten hartnäckig mit dieser schon erwähnten Operation Freunde aufzuklären, was ihnen bis zum Zwei-plus-Vier-Vertrag zur Deutschen Einheit aber nicht gelang, denn wir nutzten die oberste Stufe der militärischen Geheimhaltung zur Abschirmung aller Operationen und der wichtigsten Protagonisten des Wandels.

Viele Menschen fragen sich noch heute, wie so wichtige Persönlichkeiten der Veränderungen in Ost-Europa, wie der polnische Gewerkschaftschef, der ungarischen Staatsminister, sowie der tschechische Schriftsteller und spätere Präsident Vaclav Havel in dieser heißen Phase der Konfrontation überleben konnten? Die standen ja seit Jahren unter Beobachtung ihrer Staats-Sicherheitsdienste, – und auf einmal konnten sie ungestört agieren? Ohne repressive Folgen?

Ganz einfach: Da hatten wir die Hand drüber, um sie vor Drangsalierungen und Mordaktionen zu schützen, – wie sie zuletzt dem populären Danziger Pater Jerzy Popiełuszko in Polen widerfahren waren.

Unsere Anweisung von oben – aus Moskau – in die Chefetagen der Staats-Sicherheitsdienste der betreffenden Länder war: Haltet die Füße still, das sind unsere Leute, – Teil einer verdeckten Operation des Militär-Geheimdienstes der Sowjetunion! Schluss! Aus! Feierabend! – So ging es und nicht anders, und da traute sich dann niemand mehr an unsere Schützlinge heran!«

»Und das funktionierte bis in die unterste Ebene?«, schüttelte Nussbaum ungläubig sein Haupt.

»Natürlich, – erinnerst du dich nicht mehr an die Parteidisziplin, diesen unbedingten Gehorsam der Genossen gegenüber der Partei, besonders in Fragen der Geheimhaltung? Das traf beim Militär dann mit dem Eid und dem Ehrenkodex zusammen, – bei der Staatssicherheit mit dem Eid auf das System und ihrer ideologischen Verblendung. Das schloss eigentlich aus, dass irgendwer querschoss. Einzig unberechenbare Zivilisten, also paranoide Genossen in Endkampfstimmung, waren ein schwer kalkulierbares Risiko. Ihr wisst doch, – die mit Zorn im Bauch und Mutters Brotmesser. Deshalb hatten wir für die wichtigsten Wende-Protagonisten, in diesen Zeiten, immer einen diskreten Personenschutz aus dem Hintergrund organisiert.

Der Dichter Vaclav Havel und seine Biographen wunderten sich, wie das gut gehen konnte, im stürmischen Prag der Wendezeit. Das ging nur gut, weil wir auch da auf der Bremse standen. Wir haben Havel über seinen Freund – der dann unter unserem Schirm war, weil wir ihn nach der zerschlagenen Prager Groß-Demonstration aus der Haft holten – die Nachricht zukommen lassen, dass er entführt und liquidiert werden sollte. Durch dessen persönliche Intervention begriff Havel den Ernst der Lage und war dann mit einem massiven, offenen Personenschutz einverstanden, – den wir organisierten.«


Bruder Nikolai, Mönch und Oberst a.D. wirkte erschöpft und am Ende seiner Ausführungen angekommen. Der brennend-heiße russische Sommer war über die Stunden des Vormittags durch die Mauern des Klosters gewandert, wie wenn er die Brisanz des Vorgetragenen steigern wolle.

Nikolai trank eine halbe Flasche Mineralwasser in einem Zuge und lehnte sich sichtlich zufrieden zurück.

»Wie ging das aber in der DDR voran, im Jahr der Wende?«, suchte Oie den Faden nicht abreißen zu lassen.

Der Mönch öffnete den oberen Knopf seiner Kutte, streckte sich und suchte den Einstieg, wobei er mehrfach ansetzte und abbrach: »Wo anfangen? Das war damals wohl der schwierigste Punkt in unserer Strategieund taktisch vermintes Gelände, bei einer halben Million Sowjet-Soldaten, Nationaler Volksarmee, Kampfgruppen, Staats-Sicherheit und KGB, – das könnt ihr euch denken.

Aber es funktionierte dort ebenso, denn wir hielten die Hand über wichtige Leute, von denen wir wussten, dass sie die Sache der Europäischen Perestroika befördern und betreiben. Dafür, so entsinne ich mich, wurde 3-B im Militär-Geheimdienst an die als Befehl ausgegeben, die nicht in unsere Operationen eingeweiht waren und ihren gewöhnlichen Dienst versahen.«

»3-B, – was war das?«, verwunderte es Oie.

»Das war eine Erfindung der Deutschen und hieß: Beschützen – Begleiten – Befördern, soviel ich weiß, – und meinte das auch so.

Schaue ich auf die deutsche Liste, so sehe ich, dass auch ihr beide unter diesem Schirm gewesen seid.«

»Sicher. – Natürlich, Igor Antonow hat es mir rechtzeitig zu verstehen gegeben«, bestätigte Nussbaum. »Ich fühlte mich in der Zeit sicher, weil mir nie jemand in die Quere kam. Weder von meinen Vorgesetzten beim Militär-Geheimdienst noch privat, obwohl ich im Freundes- und Bekanntenkreis Klartext redete über die zu erwartende, weil von uns gewünschte Entwicklung. Als Privatmeinung getarnt, gegenüber unsicheren Kantonisten, – für einen Offizier aber – wenn auch immer in Zivil – sicher außergewöhnlich, das muss man zugeben. Wut. – Eigentlich erstaunlich im Nachhinein, wenn man bedenkt, welche Wut sich bei den Bonzen und ihren Zuträgern aufgebaut haben musste, – so sie davon Wind bekamen, da sie fühlten, wie ihnen das Heft des Handelns entglitt, und dass ihre ideologisierte Herrschaft absehbar im Mülleimer der Geschichte landen würde.«

»Bei mir verhielt es sich ähnlich«, schloss Oie an. »Umstellt von einem halben Dutzend Stasi-Schnüfflern in der Provinz, und noch mal so vielen in der Zentrale des Künstler-Verbandes, habe ich mich erst sicher gefühlt, als mich Igor Antonow warnte, die Klarnamen dieser Spitzel mitteilte, und den Schutz der Abwehr zusicherte. Dann bin ich offensiv in jedes Gespräch gegangen, in dem sich Künstler-Kollegen über die Entwicklung besorgt zeigten und nach einer Perestroika in der DDR riefen.

Das war vor allem auf dem letzten Verbandskongress des Künstlerverbandes im Jahr achtundachtzig so, – und ich glaube, auch deshalb wurde ich von meinen Kollegen in den Vorstand gewählt.

Da waren dann in der Folge Termine, jede Woche woanders im Lande, – und immer gab es am Rande der fachlichen Probleme besorgte Gespräche: Wie geht es weiter, wo ist Hoffnung, was kann man konkret unternehmen, um das Gemeinsame, den notwendigen Wandel, in dieser Situation zu stärken?«

»Es ist interessant für mich, davon jetzt im Detail zu hören, von diesem mentalen Aufbruch, parallel zu unseren Operationen, – denn auch darauf hatten wir in unserer Strategie gehofft. Aber, wie gesagt«, erläuterte Bruder Nikolai, »die konspirativen Spielregeln verhinderten, dass die Einen von den Anderen wussten. Deshalb ist eure hintergründige Frage, was Fremdsteuerung war, und was aus eigenem Antrieb geschehen ist, eben nur durch Zeitzeugen sichtbar zu machen, – und dabei will ich euch nach Kräften unterstützen.«

»Was müssen wir dazu wissen, Bruder Nikolai, über die vorliegenden Listen von Igor Antonow hinaus?«, verspürte Oie Wind in den Segeln, bei der weiteren Aufklärung der noch immer kryptischen Hinterlassenschaft des Generals.

»Prinzip war, jeder kennt nur jeweils ein bis zwei weitere Partner in der Abwehr, gewinnt aber möglichst viele fachlich hochkarätige Sympathisanten, mit denen unsere als Zivilisten getarnten Offiziere Kontakt hielten. Die wurden dann auf allen Ebenen zu Einflussagenten der Europäischen Perestroika. Die Listen mit den Kontakt-Adressen sind der einzige Überblick über alle, die dabei waren und – so denke ich – noch lebten, als Igor sie vor seinem Tode zusammengestellt hat. Zu diesen Personen findet ihr nähere Angaben, – Tote sind nur mit Namen verzeichnet.

Wenn ihr genau hinschaut, entdeckt ihr da auch noch die Systematik und die kommunikativen Verbindungen. Nachbarschaft auf der Liste und in den Blöcken heißt gewöhnlich, – sie haben zusammengearbeitet. Die Handvoll Kommandeure natürlich ausgenommen, die wirkten übergreifend.

Genaueres für den deutschen Teil kann euch dann sicher der Oberst der Abwehr, Herbert Gros, berichten. Der lebt meines Wissens noch in Berlin. Er war unter dem Decknamen Gärtner der wichtigste Mann auf eurer Seite und der Partner von Igor Antonow bei der finalen Operation Lichtstrahl, – mit dem Mauerfall am neunten November.

Oberst Gros gehörte übrigens – als Militär in Uniform – auch zu unserer Delegation, die Ende Juli neunundachtzig, mit der ungarischen Abwehr, den optimalen Abschnitt für die Grenzöffnung beim Paneuropäischen-Picknick aussuchte, – damit nichts schief geht. Auch Igor Antonow und ich waren als Zivilisten dabei.

Über den Besuch der deutschen Offiziere, zu diesem Zeitpunkt, an diesem Ort, wundert sich das offizielle Ungarn heute noch.«

»Strategisch. – Erstaunlich, auch das zu hören, – aber was hattet ihr dann in der DDR strategisch geplant und was gelang euch umzusetzen?«, witterte Nussbaum Schlüssel-Informationen.

»Alles stand im Herbst unter Zeitdruck. Wir hatten mit der Grenzöffnung in Ungarn sowie der Abreise der Botschaftsflüchtlinge aus Prag und Warschau die Sache erfolgreich beschleunigt. Die Anweisung an die Militärführung sowie den KGB, sich in die Verhältnisse in den Bruderländern und besonders der DDR nicht mehr einzumischen, war dabei in unserem strategischen Sinne entscheidend.

Einzige Ausnahme, die sich unbeherrschbar zeigte, war Rumänien: Die schon erwähnte, improvisierte Operation Karpaten-Licht gegen den paranoiden, durchdrehenden rumänischen Kondukator Ceausescu, – das war ein nicht friedlich zu beherrschender Sonderfall und ist eine bedauerliche, blutige Ausnahme. Das Problem mit diesem postkommunistischen Neurotiker begann aber schon vor dem Kreml-Flug.«

»Ceausescu. – Was war mit Ceausescu, der ja mit seinem monarchistisch angehauchten, totalitären System, extrem aus der Art schlug?«, lockte Nussbaum, weil er an Nikolai’s Tonlage fühlte, dass es ihm nicht behagte, über das Thema zu sprechen, denn er winkte auch ab, – doch fing er sich und wurde hart in den Gesichtszügen.

»Der Anfang war harmlos, – so schien es. Wir hatten, aufgrund von Warnungen, zum offiziellen Staatsbesuch Gorbatschows siebenundachtzig in Bukarest, eine eigene gepanzerte Limousine mitgebracht. Das war unter Freunden unüblich und dies verärgerte den Kondukator – den gelernten Schuster – der ja ein hinterhältiger Feind der Perestroika von Anfang an war, heftig. Da war aber sein geschustertes Königreich noch halbwegs in Ordnung, das heißt zahlungsfähig. Er war beleidigt, – vor allem wohl auch, weil er ahnte, dass wir etwas ahnten.

Als Ceausescu dann, abgewirtschaftet und überschuldet, im September des Wendejahres, als Bettler in Moskau antrat und ihm der Parteichef die bisherigen Vergünstigungen bei den Rohstofflieferungen verweigerte, rastete der Kondukator in dem Vier-Augen-Gespräch aus, brüllte rum, bezichtigte Gorbatschow des Verrats an der kommunistischen Idee und warf mit einer Champagner-Flasche, sodass sich die Sicherheitsoffiziere auf dem Sprung befanden.

Als er rauschend abreiste, wurde er von uns observiert und fluchte, dass er Gorbatschow schon damals, beim Staatsbesuch, hätte abknallen lassen sollen. Das machte uns sicher, dass damals in Bukarest wirklich ein Anschlag geplant war, um die stalinistisch-kommunistische Weltbewegung zu retten.

Unsere Führung kommentierte diese Nachricht mit der Prognose, dass es wohl ein schlimmes Ende nehmen werde mit Ceaucescu. Die Abwehr in Rumänien, die darüber informiert wurde, verstand das dann wohl als Aufforderung, – muss ich mit Bedauern feststellen.«

Bruder Nikolai bekreuzigte sich bei diesem Resümee mehrfach.

»Den Rest kennt ihr wahrscheinlich. Unsere Leute fädelten mit der starken, aber unterdrückten Minderheit der Ungarn in Rumänien, den Aufstand in Timisoare und Bukarest ein. Am Weihnachtstag wurden der Kondukator und seine Königin von den eigenen Leuten, die ihre Spuren verwischen wollten, liquidiert.

So war das, - alles hängt miteinander zusammen, – die große Geschichte und die kleinen Geschichten, das Schicksal großer Männer und kleiner Leute –, um mit Tolstoi zu sprechen.

Aber verzeih, ich schweife ab Samuel, von deiner Frage nach den Vorgängen bei euch. Entschuldige bitte, aber es war wichtig, weil es der einzige Fall war, der blutig endete, – der in Rumänien.

Berlin, Ostdeutschland, stand nach den wilden, massiven Ausreisen über Ungarn, Prag und Warschau sowie den anhaltenden, sich zuspitzenden, aber friedlichen Montags-Demonstrationen in Leipzig – wo wir ebenfalls die gewaltbereiten Stalinisten ausbremsen mussten – von Woche zu Woche unter höherem Druck. Auch dort war unser Ziel nicht frontal anzugehen, sondern nur konspirativ, – über die Abwehr und unsere Einfluss-Agenten in den fachlichen Eliten des Landes.

Die sechs prominenten Leipziger – unter ihnen dieser berühmte Dirigent – wurden durch einen in der Gruppe, der unser Mann war, zum Aufruf Keine Gewalt geführt, der am Nachmittag über die Lautsprecher der Stadt verlesen wurde.

Die Demonstranten, die bis dahin einen blutigen Rundumschlag nach chinesischem Muster befürchten mussten, – denn das wankende Regime hatte sich massiv darauf vorbereitet, schöpften wieder Hoffnung und verhielten sich absolut friedlich, – und das trotz der sichtbar sprungbereiten, bis an die Zähne bewaffneten Einsatzkräfte. Damit war an diesem neuralgischen Punkt die Luft raus für die Stalinisten, – der blutige Platz des Himmlischen Friedens, der bis dahin drohte, war für Leipzig dann ausgeschlossen.

Ein weiterer Höhepunkt der Ouvertüre, der Lichtstrahl Operation, im eigentlichen Brennpunkt, in der Hauptstadt des Kalten Krieges Berlin, von der wir witzelten, dass es dort mal - nach dem Krieg – mehr Agenten als Fahrräder gab, war die Groß-Kundgebung auf dem Alexanderplatz am vierten November.

Igor Antonow, der damals wegen der Explosivität der Lage im Aufklärungszentrum Karlshorst war, übermittelte uns eine zivile und uniformierte Bereitschaft in allen Behörden Ost-Berlins. Mit starken Kampf-Verbänden der Bereitschaftspolizei, die in der Nacht zuvor in die Bauten der Ministerien, in der Nähe des Brandenburger Tores und unter den Linden eingesickert waren. Sie sollten bereitstehen, falls sich die Masse der Demonstranten nach der Kundgebung in Richtung Mauer bewegen würde. Nach unseren Informationen hoffte die Stalinisten-Fraktion sehr darauf. Sie hätte mit dem Ausnahmezustand, einer allgemeinen Mobilmachung und der Internierung so genannter Feindlich-Negativen-Kräfte reagiert.

Die Internierungsliste der Staatssicherheit umfasste in der DDR über hunderttausend Bürger und an der Umsetzung dieses Planes – bei Ausrufung des Ausnahmezustandes – hätte sie Gorbatschow erst mal nicht hindern können. Das Kind wäre damit in den Brunnen gefallen, in Berlin, – mit ihm die Europäische Perestroika. Zwanzig weitere Jahre Kalter Krieg oder das Ende der Zivilisation in einem dritten Weltkrieg wären die absehbaren Folgen gewesen!«

»Unheil: Nicht auszudenken, was dann an Unheil geschehen wäre!«, warf Nussbaum ein.

»Ja, auf dieser Liste der Feindlich-Negativen Kräfte stand auch ich«, erinnerte sich Oie, »und die Informationen von Igor, der von den Internierungs-Vorbereitungen wusste, bereiteten mich, für den Fall der Fälle, mental auf ein Abtauchen vor.«

»Die Demonstranten auf eurem Alexanderplatz taten den lauernden Einsatzkräften aber nicht den Gefallen«, fuhr Nikolai fort. »Sie verhielten sich, bis in die Nacht, heiter-friedlich, gingen nach Hause und hinterließen die sprungbereiten Stalinisten in kulminierender Ratlosigkeit.

Ein paar Tage zuvor war – wie schon in euren Aufzeichnungen erwähnt – der neue Parteichef Krenz in Moskau und bettelte wohl bei Gorbatschow, weil er die Raten seiner Devisen-Schulden im Westen nicht bezahlen konnte. Höhepunkt war die pikante Aufforderung: Wann verteidigen Sie endlich die DDR, – die große ruhmreiche Sowjetunion sei doch deren Vater? Worauf der Generalsekretär wohl nur antwortete, dass er sich jetzt um die Sowjetunion kümmern müsse.

Er warnte die DDR-Führung aber vor der Beteiligung an einem Putsch, von dessen Vorbereitung in Moskau zu hören war, – zu diesem Zeitpunkt schon eine von der Vermutung zur Gewissheit gewordene Lage. Sie resultierte aus abgefangenen Nachrichten, Truppen-Verschiebungen, Militär-Übungen und einem regen Verkehr der Kuriere unserer Gegner.

Strategisch war uns klar, dass der Auslöser für einen Putsch gegen Gorbatschows Europäische Perestroika innere Unruhen in Ost- Deutschland und Grenzkonflikte an den Grenzen zu West-Berlin sein würden. Die Alt-Stalinisten, in den Kommando-Strukturen der Armeen und Sicherheitsdienste im Ostblock – vor allem der Sowjetunion – warteten auf ein derart auslösendes Ereignis.

Krenz war wohl überrascht, versicherte seine Unschuld, flog aufgeregt zurück, – und versuchte zu retten, was zu retten war. Eine Gewaltlösung hatte ihm Gorbatschow quasi verboten: Das würde ihm und seinen Getreuen, die es gerade an die Fleischtöpfe der Macht geschafft hatten, einen Aufenthalt in Sibirien verschaffen oder Schlimmeres.

Abwarten, dass andere putschen, ging aber auch nicht, – da würde er in einem DDR-Straflager sitzen oder vielleicht gelyncht werden, wenn es schief ging.

Was sollten Krenz und sein Politbüro also tun? Es blieb nur, die innere Lage zu entspannen, indem auf Vorschlag von Gorbatschows Beratern eine bescheidene Reisefreiheit für alle Bürger in Aussicht gestellt wurde, – die gleichzeitig die Kreditbereitschaft der Bundesrepublik befeuern sollte. Da waren sich die DDR-Partei-Fürsten einig und sicher, – so sollte es eigentlich gehen.

Die erste, schnell veröffentlichte Gesetzes-Vorlage wurde aber, aufgrund ihres restriktiven, obrigkeitsstaatlichen Charakters, von den Bürgern in der Luft zerrissen, – und die Zeit lief davon, auch uns in der Europäischen Perestroika. Deshalb hatten wir wieder eine zielführende Beschleunigung in Vorbereitung.

Igor Antonows Abwehr lancierte, über die vertraulichen Kanäle der sowjetischen Botschaft in Berlin, absichtsvoll neue, brisante Information. Er berichtete, um das verunsichert-orientierungslose Politbüro der DDR im Interesse der Europäischen Perestroika weiter voranzutreiben, und nur darum ging es in diesem Augenblick, von konkreten Vorbereitungen zu einem Putsch.

Die ersten, noch diffusen Informationen zum Plan, den der Militär-Geheimdienst aufklärte, lauteten aus meiner Erinnerung so: Eine Fraktion der Staatssicherheit, mit Teilen des Militärs, die der konterrevolutionären Entwicklung ein Ende setzen wollen, wird durch zivile, bewaffnete Provokateure, in der Nacht vom neunten zum zehnten November, Grenzverletzungen und einen Angriff auf die Sowjetische Garnison in Karlshorst starten. Das soll zur Ausrufung des Ausnahme-Zustandes in Berlin und der gesamten DDR führen.

Daraufhin werden das Grenzregiment und das Wachregiment der Staatssicherheit, in Berlin, das Kommando übernehmen, verstärkt durch Spezial-Einheiten der Bereitschafts-Polizei. In der ganzen DDR, besonders in den wichtigen Bezirksstädten, sollen vorbereitete Spezialkräfte der Armee die Bereitschaftspolizei unterstützen, um in der heißen Phase keine regulären Truppen einsetzen zu müssen. Der Anschein eines Militärputsches – wie in Polen – sollte um jeden Preis vermieden werden.

Ähnliches planten zur gleichen Zeit Staatssicherheits- und Militärkomitees in Ungarn, in Polen und der CSSR, für die die Aktionen in Berlin das Startsignal sein sollten. In diesen Ländern stationierten Truppen der Sowjet-Armee sollten dann – medienwirksam und deeskalierend – als Retter des Friedens und des Sozialismus eingesetzt werden, – auch um endlich einen Vorwand zu haben, Gorbatschow durch einen Marschall der Sowjet-Armee abzulösen.«


Was das für die letzten zwanzig Jahre in Deutschland bedeutet hätte, huschte in diesem Augenblick wie eine elektrische Entladung schreckhaft durch die Gehirne der Freunde, und Nussbaum bekam seinen Flatterblick, sodass Bruder Nikolai besorgt Tee nachschenkte und dann fortfuhr: »Der Putschplan war – im Kalten Krieg und im Gleichgewicht des Schreckens – die von Konstantin Petrow angesprochene Sicherung des Status quo mit dem Knüppel, mit dem sich auch die Westmächte sehr schnell abgefunden hätten, – denn die Deutsche Einheit hielt damals niemand für wünschenswert und der Verlust des Zugriffes auf Deutschland und seine technologischen Ressourcen, in der Mitte Europas, war eine Horrorvision dieser Politiker.

Ihr könnt euch vorstellen, dass auch viele Funktionäre im SED -Zentralkomitee, die auf ihren Parteikanälen diskrete Informationen zu dem bevorstehenden Umsturz bekamen, frohlockten. Endlich! – Ein derartiges Ereignis wäre allen Erz-Kommunisten im Ostblock gerade recht gekommen. Viele im KGB, in der sowjetischen Generalität und Nomenklatura bereiteten sich auf derartige Szenarien vor, – sie lauerten darauf, Gorbatschow und seine Perestroika damit zu Fall zu bringen. Das lag seit dem Sommer in der Luft, wir hatten nur noch keine konkreten Beweise, denn ihr wisst, – nichts ist so undurchdringlich wie eine gut organisierte Verschwörung. Aber wir brachten alle Kräfte, die uns zur Verfügung standen, in Stellung, weil wir allem zuvor kommen mussten, – nichts sonst!«

»Der neunte November war dann wirklich das ultimative Datum eurer Gegner, wie es Konstantin Petrow mit der Kanzler-Visite in Warschau politisch eingeordnet hat?« warf Nussbaum ein.

»Ja so war es, – über das Zeitfenster für den Putsch, haben wir seit dem Sommer gerätselt. Das Heft des Handelns ist ja immer in Händen derer, die angreifen und damit den offensiven Vorteil nutzen. Auf diesen Angriff musst du vorbereitet sein, – egal, wann die starten.

Aber dann ergab sich doch eine verblüffend logische Kette geschichtlicher und diplomatischer Indizien, die uns sicher machte, dass es dieser Tag sein würde. Eine deutsche Kette gewissermaßen, denn in Berlin sollte die Aktion ja starten und quasi die Initialzündung für den Umsturz im Ostblock werden, – soviel war klar.

Die ostdeutschen Genossen Putschisten wollten strategisch, so sah ich es anfangs, – für den Fall, dass es gelingt, und auch dass was schief geht – in der deutschen Geschichte abtauchen. Jeder Putsch gegen das Volk ist ja a priori anrüchig. Dieser neunte November soll so ein bedeutungsschwerer Tag sein bei euch – die Reichs-Pogromnacht ist wohl so ein Ereignis?«

»Republik. – Auch die Gründung der Republik nach dem Ersten Weltkrieg«, warf Nussbaum ein.

»Und die Ausrufung der sozialistischen Republik durch Liebknecht, am gleichen Tag, – und auch der Putschversuch von Adolf dem Letzten, dem Österreicher, in München, – fünf Jahre später«, ergänzte Oie. »Da liegen einige Wurzeln, die zu Ausgangspunkten späteren Unheils wurden. – Das hätte den Putschisten eigentlich zu denken geben müssen, Nikolai.«

»Ja, wenn alle so abergläubisch gewesen wären, wie wir Russen. Da war aber noch etwas viel Wichtigeres. Der damit korrelierende, strategische Hauptgrund war wirklich ein anderer«, spann der Mönch den Faden aus. »Es war dieser von Konstantin Petrow erwähnte Staats-Besuch des Deutschen Kanzlers, mit großem Tross, in Polen, der am neunten November startete und wie jeder Staats-Termin langfristig festgezurrt war.

Damit haben unsere Gegner kalkuliert, denn bei jedem blutigen, erfolgreichen Putsch in der Geschichte, geht es um die ersten Stunden und Tage: Da wird durchgegriffen, da gibt es das große Blut-Bad, da werden die Fakten geschaffen, – im Lande und diplomatisch.

Und gerade da befindet sich Kanzler Kohl, der Haupt-Betroffene, der nach eigenem Verständnis Vertreter aller Deutschen, der Repräsentant und Regierungschef des wichtigsten NATO-Partners am Eisernen Vorhang, quasi unter Hausarrest in Warschau. Natürlich nur zu seiner eigenen Sicherheit. Natürlich auch, weil der Luftraum gesperrt ist und alle Kommunikationsverbindungen gekappt sind, – so hätten es die Putschisten diplomatisch begründen können.

Auch der polnische Präsident Jaruzelski wäre dann als Ansprechpartner nicht mehr vorhanden gewesen, denn er war ja, als ein Freund Gorbatschows, der Kopf des polnischen Wandels und auch der Operation Morgenlicht in dieser Europäischen Perestroika. Der wäre sofort, blutig oder unblutig, von der Bildfläche verschwunden.

Kanzler Kohl im Vakuum – als Faustpfand zum Vorteil der Putschisten –, das sollte der konspirative Geniestreich sein. Alles auf Null, das war der Plan der Gorbatschow-Gegner. Ein Marschall wird sowjetischer Partei-Chef, und die Komitees zur Rettung des Friedens und des Sozialismus hätten im ganzen Ostblock mit dem Ausnahmezustand durchregiert, – eine weitere Eskalation des Kalten Krieges zwischen Ost und West in Kauf nehmend.

Der Westen hätte – wie immer – mit weiteren Sanktionen gedroht, wäre aber froh gewesen, dass die Lage nicht eskaliert und er seinen Vasallen-Kanzler Kohl unbeschadet wieder bekommt, – nach ein paar Tagen, ausgereist über Schweden.

Niemand wäre inzwischen aufmarschiert und hätte einen Krieg begonnen, denn alle Machthaber liebten den Status quo und ihre gesicherten Rollen im Spiel der Mächte. Vor allem fürchteten alle Politiker und Strategen unkontrollierbare Ereignisse, besonders den ganz großen atomaren Knall.«

»Das klingt ungeheuerlich, aber strategisch perfekt, muss man sagen. Du hast recht Nikolai, – die NATO wäre sicher nicht losgeflogen, nur um den Bundeskanzler rauszuhauen.

Doch wie konntet ihr dem begegnen, wie lief es dann in Berlin weiter?«, versuchte Oie den Spannungen dieser Tage nachzufühlen.

»Mit unseren streng geheimen, jeden Tag präziseren Informationen aus der Sowjetischen Botschaft zum drohenden Putsch, erzeugten wir das mentale Klima im regierenden, verunsicherten Funktionärsapparat des Politbüros in Berlin.

Wir sorgten auf den Punkt dafür, dass auf der abendlichen Pressekonferenz in Berlin die Notbremse gezogen wird, indem die Grenzübergänge als sofort und unverzüglich offen erklärt werden, – bevor die Mauerspringer oder irgendwer ein Unheil auslösen konnten. Dafür sahen einige Genossen des Politbüros, durch unsere Warnungen, ein letztes, ultimatives Zeitfenster, – eben in dieser Nacht des neunten November.

Als wir dann, mithilfe manch ahnungsloser Grenz-Offiziere, die Schranken der Übergänge öffnen ließen, war es geschafft. Jeder möglichen Provokation, jedem Umsturz, jedem Zurückdrehen des Rades der Geschichte war der Initial-Zünder gezogen.

Vor allem hatten wir mit dieser Aktion die gewünschte Beschleunigung der Europäischen Perestroika erreicht, – und deren Unumkehrbarkeit durch die friedlich feiernden Besucher, bei ihren deutschen Landsleuten hinter Mauer und Stacheldraht.«

»Druck. – Das klingt schon faszinierend, aber gab es keine Sorge, dass Gorbatschow durch Hilferufe aus Ostberlin noch mal politisch unter Druck gerät?«, zweifelte Nussbaum.

»Nein, Moskau, die Führung um Gorbatschow, war in diesen Stunden natürlich nicht zu erreichen, denn was sollte man noch bereden? Außerdem, – die wichtigsten Leute im DDR-Politbüro wussten, worum es ging und die Führung von KGB und Staatssicherheit hätte als Letzte im Kreml angerufen, – denn sie mussten sich ertappt fühlen.

Auch hatten wir die zum Putsch und für den Marsch auf Berlin vorgesehenen Sonder-Einheiten, die seit Anfang November in Alarmbereitschaft lagen, durch Spezialeinsatzkräfte unseres Militär-Geheimdienstes blockieren lassen. Unsere fliegende Kavallerie, das Hubschrauber-Geschwader REB, in Rechlin-Lärz an der Müritz, und unsere Spezialeinheit Speznas, der zwölften Verwaltung Spionageabwehr, standen zur Niederschlagung von Blitz-Aktionen unserer Gegner bereit.

Auch damit war die Luft raus aus der explosiven Lage, – und die Welt am nächsten Tag in der euphorischen Hoffnung, wie wir es uns für die Europäische Perestroika immer gewünscht hatten, – und auch so dringend brauchten.«

»Ja, ich erinnere mich an diesen Tag und kann mir damit jetzt Igors Verhalten erklären«, fügte Oie nachdenklich hinzu. »Als Kopf der Aktion hatte er sicher einen Restzweifel, ob die Beschleunigung funktioniert, und schickte mich deshalb am neunten November in mein Atelier nach Mecklenburg. Dort sollte ich Verbindungen zu einem Offizier der Abwehr, einem Oberst im Stab des Militärbezirkes Nord aufnehmen, – der sich sehr beunruhigt über die Lage zeigte, denn er kannte die Vorbereitungen der Sonder-Einheiten für den Marsch auf Berlin. Dem übermittelte ich als Kurier letzte Informationen und Codes Igor Antonows.

Auf meiner Fahrt entlang der Fernverkehrsstraße von Berlin nach Norden schaute übrigens, zwischen Fürstenberg und Neustrelitz, aus jedem Waldweg ein Panzer der Sowjet-Armee heraus. Das stimmte mich und den Offizier der Abwehr, dem ich davon berichten konnte, etwas ruhiger. Später erfuhr ich, dass alle wichtigen Straßen nach Berlin in dieser Weise vorbeugend überwacht wurden, um sie notfalls vor nach Berlin kommandierten Sonder-Einheiten blockieren zu können.

Für den Fall, dass die Ereignisse bei der Maueröffnung aus dem Ruder laufen sollten, und die Mobilmachung verkündet wurde, hatte ich, unter anderem Namen, den Einberufungsbefehl-M nach Alt-Rehse am Tollense-See in der Tasche, um von der Bildfläche zu verschwinden und der Internierung zu entgehen. Dort war ein Terrain geheimster Stabsbunker der Kommandostruktur des Militärbezirkes-Nord mit dem Decknamen Sadownik, – habe ich viele Jahre später erfahren. Warum Igor mich gerade in einer Höhle des Löwen verschwinden lassen wollte, ist mir allerdings bis heute ein Rätsel.«

»Vielleicht weil die Schakale der Stasi immer einen großen Bogen um Löwenhöhlen machten, Oie«, warf Nussbaum ein.

»Endspiel. – Mich hat er schon Tage vor dem Endspiel der Maueröffnung in seinen Dienstsitz nach Karlshorst kommandieren lassen. Da war Hektik und ein Betrieb wie beim Herbstmanöver. Ich hatte rund um die Uhr Verbindungen zu Einheiten der Militär-Geheimdienste in allen Ländern, in denen Sowjet-Truppen stationiert waren, zu sichern.

Spurenbeseitigung. – Wenn ich mal ein paar Stunden auf dem Feldbett ausruhen konnte, kamen mir so meine Zweifel und ich rechnete dann schon mit allem, denn die ganze Zeit arbeitete ich allein an einem Krypto-Computer, – betreut und bewacht von einem mir unbekannten, schweigsamen Major. Der war, so sehe ich es heute, im Crash-Fall sicher für die Beseitigung aller Spuren zuständig, – und sah so aus, als würde er keinen Augenblick zögern.

Aus der Hektik und Hochspannung wurde dann aber schnell große Freude über die friedliche Entwicklung bei den Kameraden, – und ich konnte nach einer Woche glücklich zu meiner Familie zurück.

Berlin. – Ganz Berlin war damals aus dem Häuschen und meine Frau erzählte mir stundenlang, was sie so alles erfahren hatte, rund um die Maueröffnung. Das halbe Krankenhaus rannte ja in jeder freien Stunde zum Schaulaufen nach West-Berlin. Sie wunderte sich nur darüber, wie uninformiert und unbeteiligt ich mich gab, – und wie unausgeschlafen ich war.

Hintergründe. – Von der Dimension der Hintergründe, die du schilderst, Nikolai, hatte man damals keine Ahnung und erst jetzt wird klar, was das für den großen Frieden Europas bedeutet. – Alles!«

»Ja, so war das«, freute sich Oberst Nikolai Ossipow – Bruder Nikolai in Erinnerung: »Mit beherzten chirurgischen Schnitten haben wir Russland und die Länder des Ostens aus der Konfrontation befreit, die roten Machthaber abgeschüttelt und ihre Kettenhunde ausgeschaltet. Wir hatten dabei das Glück des Tüchtigen, sagte ich damals.

Heute sage ich: Wir hatten den Segen Gottes, weil wir der Menschheit die Hoffnung auf Frieden wiedergaben. Das war nach der jahrzehntelangen Kraftmeierei der Großmächte eigentlich nicht mehr denkbar. Die Welt saß ja, bis zu diesem Tag der Maueröffnung, auf einem Pulverfass mit brennender Lunte. Jetzt sahen alle Menschen, dass ihre Hoffnungen, durch Gorbatschows Politik, Realität werden konnten. Das erklärt die emotionalen Aufwallungen der Europäer bei seinen Staats-Besuchen in der Zeit danach, wenn ihr an Deutschland oder Italien denkt.

In Mailand, wo ich dann seinen Personenschutz kommandierte, feierten ihn die Bürger wie einen Erlöser, wohl, weil sie fühlten, dass bei einem großen Krieg – den er durch seine Initiativen nun ausgeschlossen hatte – auch ihr schönes Land in Schutt und Asche gesunken wäre, denn es war ja voller amerikanischer Raketen- und Bomber-Stützpunkte.«


Ein fasziniertes, beeindrucktes Schweigen lag im Raum, bis es Nussbaum hinter der Kamera aufhob: »Putin? – Eine aktuelle Frage bewegt mich noch, wenn ich die Entwicklung in den letzten fünfundzwanzig Jahren sehe, was ihr geplant habt und was letztendlich geblieben ist, – hat Putin eine Rolle gespielt?«

Bruder Nikolai nickte schweigend und sagte dann: »Gewiss doch, wenn du siehst, wie er seit Jelzin das Chaos bekämpft hat und Russland führt, – zu Recht und Gesetz. Auch wenn es da noch sehr viel zu tun gibt, denn ihr kennt ja den alten Spruch: Russland ist groß und der Zar ist weit. Westliche Maßstäbe von Demokratie waren und sind in dieser Umbruchsituation nicht hilfreich. Dazu braucht es Geduld über Generationen.

Aber du fragst nach seiner Beteiligung bei unseren Operationen damals. Nur soviel, denn über lebende Personen rede ich nicht im Detail: Er ist als erfahrener Offizier Mitte der Achtzigerjahre nach Dresden kommandiert worden, der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland zugeordnet, – das sagt alles. Quasi zur Tarnung war er noch ein Chef der Deutsch-Sowjetischen-Freundschafts-Organisation. Germanophil und ein Freund Goethes, hatte er damit beste Verbindungen in die deutsche Bevölkerung. Eine prächtige Position, um weitere Einflussagenten aus allen Kreisen der fachlichen Eliten zu gewinnen, das muss man zugeben, – und das war wichtig.

Wir suchten uns immer die fähigsten Köpfe aus, die mit Anstand, Haltung, Disziplin, strategischem Verstand und taktischer Kreativität. Wir haben ihn damals genau beobachtet, wie er agiert, mit wem er sich umgibt und was ihn sonst so beschäftigt. Er war schon eine Ausnahmeerscheinung, die ihre mentale Stärke aus einer großen Bildung und der Philosophie asiatischer Kampfkünste bezog, – Sambo, Judo und dergleichen. Ihr findet ihn jedoch nicht auf der russischen Liste Igor Antonows, – weil ihr dort keinen noch Aktiven finden werdet. Auch wäre es vergebens, im Kreml anzuklopfen und um ein Gespräch in dieser Sache nachzusuchen.

Aber soviel noch: Er organisierte damals für uns den informellen Austausch zwischen dem Chef der Auslands-Aufklärung des KGB Krjutschkow und führenden Persönlichkeiten der DDR – aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik – bei diesem berühmten Physiker auf dem Weißen Hirsch in Dresden. Damals war ein Führungswechsel in der DDR aber nur noch scheinbar eine Option. Wir suchten das Gespräch vor allem, um uns nicht hinterher vorwerfen zu lassen, die Sowjetische Seite hätte nicht nach Lösungen und Alternativen Ausschau gehalten. Aber die Mielke-Honecker-Fraktion in Berlin saß so fest im Parteisattel und die anwesenden alternativen Genossen waren so kleinmütig-zögerlich, dass das herauskam, was wir eigentlich erwarteten: - Nichts Konkretes.

Ich war in der Zeit, als die Ereignisse in der DDR kulminierten, aber weit weg in Moskau, kenne also wenig weitere Details. Sicher weiß Oberst Herbert Gros von der Liste mehr, der in Deutschland an der Seite Igor Antonows alles organisiert und hautnah erlebt hat. Den solltet ihr auf jeden Fall noch aufsuchen in dieser Sache.«

»General Wolf. – Noch eine letzte Frage, Bruder Nikolai«, ließ Nussbaum nicht locker. »Was war mit Stasi-General Wolf, der ja mit Igor Antonow befreundet war, – so habe ich gelesen. Warum war der nicht dabei?«

»Ein brisantes Thema, wie ich mich erinnere: Der Hauptgrund war, er fürchtete aufgrund der Erfahrungen seiner Familie, bei den stalinistischen Säuberungen im Moskau der Dreißigerjahre, ein blutiges Ende in der DDR und nahm rechtzeitig, im Jahr sechsundachtzig, seinen Abschied, – um sich um sein schriftstellerisches Werk und das Erbe seines Bruders, des berühmten Regisseurs, zu kümmern, – wie es hieß.

Er war schon von Interesse für die Abwehr, am Beginn der Perestroika, und sollte nach den Vorstellungen einiger ostdeutscher Genossen, in einer Perestroika-DDR Parteichef werden, – mit Modrow als Ministerpräsident. Wir schätzten seine Haltung bis dahin und seinen IQ, – sagt man wohl. Das, obwohl er lange im Verdacht stand, dass die Aufmarschpläne der Ägypter im Sechs-Tage-Krieg über ihn an die Israelis durchgesickert sind, – was man ihm aber nie beweisen konnte.

Als wir ihn dann aber, auf seiner Schwedenreise sechsundachtzig, mit einem uns bekannten Agenten des Israelischen Militär-Geheimdienstes Aman sahen, war klar, dass er ein Sicherheits-Risiko war. Was Aman oder Mossad wissen, wissen am nächsten Tag die Börsenhaie und die Amerikaner, – das wäre der Offenbarungseid gewesen, und eine hemmungslose Spekulation gegen die Wirtschaft des Ostblocks hätte einsetzen können, wenn auch nur etwas von den Licht Operationen und der damit bevorstehenden Wende, bekannt geworden wäre.

Deshalb kann man bei General Wolf, in der Erinnerung, eigentlich nur sagen: Vorsicht, – Blut ist immer dicker als Wasser! Auch wurde er nach seinem offiziellen Ausscheiden als General, aus dem Dienst bei der Staatssicherheit, von denen argwöhnisch überwacht. Wir haben ihn deshalb präventiv von allen Informationen abgeschnitten und er erlebte meines Wissens die Maueröffnung, mit Erstaunen, auf einer abendlichen Dichterlesung, in Potsdam.

Das war auch seine fühlbare Berufung, – aus dieser Familie von Künstlern stammend. Was ich von ihm so lesen konnte, hat mir gefallen, – bis auf die politische Leisetreterei und diese Plattitüde, dass Gorbatschow die DDR der NATO überlassen habe, was er eigentlich, bei seiner Intelligenz, nach der klaren Wende, nicht mehr nötig hatte. Er kannte ja den katastrophalen Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft in der DDR, aus seiner Geheimdienstzeit bestens. Er wusste, der finanzielle und wirtschaftliche Offenbarungseid ist unvermeidlich, weil all die Probleme – auch mit seiner Hilfe – solange ignoriert und verschleppt wurden. Diese finale Ausweglosigkeit des Systems ist einem jedoch nur in Konsequenz bewusst, wenn man am produktiven Leben der Gesellschaft noch teilnimmt, – nicht wenn man, ideologisch abgepolstert und privilegiert, ein Leben mit Rundumversorgung führt.

Aber mit dieser Familien-Biografie sitzt dir sicher lebenslang die Angst in den Knochen, die dann wieder Schuldkomplexe und eigenes Versagen nach sich zieht.«

Bruder Nikolai trank Tee und hatte wohl seine Müdigkeit überwunden, sodass Nussbaum erneut die Chance fühlte, nachzugraben: »Wie habt ihr die Licht-Operationen abgeschlossen und wie ging es für dich persönlich weiter?«

»Dazu habe ich ja schon gestern was gesagt, – zu meiner gesundheitlichen Krise nach dem Putsch gegen Gorbatschow und Jelzins Machtergreifung, dem Auftakt zu Chaos und Ausverkauf an die internationalen Spekulanten. Das war eine unerträglich harte Zeit.

Zuvor haben wir aber noch ganze Arbeit leisten können, möchte ich hier sagen, für alle, die daran beteiligt waren. Maßgeblich auch unser Chef und Igor Antonow. Es waren die nachrichtendienstlichen und militärischen Rahmenbedingungen für den Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland, als Eckpfeiler der Zwei-plus-Vier–Verträge zur Deutschen Einheit.

Eine wesentliche Bedingung, die wir durchsetzten, war die diskrete Auflösung eures Militär-Geheimdienstes der NVA und die vollständige Vernichtung aller personellen und operativen Unterlagen, im Sommer vor der deutschen Einheit. Wir wollten auf diese Weise keine Rückschlüsse auf Militär-Interna der Sowjetunion zulassen, – auf Struktur, Bewaffnung, Personal und operative Hintergründe in Zeiten des Kalten Krieges.«

»Das ist euch ja auch perfekt gelungen, wenn ich die letzten zwanzig Jahre sehe«, hakte Oie ein. »Ohne den Brief Igor Antonows sowie den Auskünften von Beteiligten wäre uns nichts von den Licht Operationen und diesen fundamentalen Zusammenhängen in der Europäischen Perestroika bekannt geworden.«

Bruder Nikolai reckte sich und stöhnte hörbar auf: »Ach wisst ihr, ich bin mir da nicht so sicher, ob das alles wirklich zum Frieden unter den Menschen beiträgt, – oder dem Zwist neuerlich Nahrung gibt? Die Jagd auf ehemalige Mitarbeiter und Einfluss-Agenten der Geheimdienste, besonders der Staatssicherheit, von der man aus Polen, der Tschechei oder auch bei euch hört, verheißt nichts Gutes.

Unsere Leute sind ja bisher kaum davon betroffen und eigentlich müsste es uns Genugtuung sein, wenn die ehemaligen Gegner in der politischen Polizei Rechenschaft ablegen müssen. Aber wie das geschieht – pauschal mit Verdächtigungen, Unterstellungen und Vorverurteilungen, wo jeder Einzelne für alles Unrecht des Systems in dieser Zeit verantwortlich gemacht wird –, das ist unwürdig und zutiefst unchristlich. Damit treten wir schon wieder fundamentale Grundwerte von Rechtsstaatlichkeit und menschlichem Zusammenleben mit Füßen.

Wenn man aufrichtig Bilanz zieht, so waren vertrauliche Informationen aus der Bevölkerung, unter den Bedingungen des Kalten Krieges, für beide Seiten existenziell und haben dazu beigetragen, die große Katastrophe eines Dritten Weltkrieges zu verhindern. Das war doch Teil der inneren und äußeren Stabilität, – im Gleichgewicht des Schreckens, den wir nun glücklich überwunden haben. Informationelle, vertrauliche Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten zu verteufeln, heißt dann ehrlicherweise auch die Legionen von IM des BND, des Verfassungsschutzes und der westlichen Dienste an den Pranger zu stellen.«

»Legionen?«, warf Oie erstaunt ein, »außerdem heißen die im Westen V-Leute.«

»Ja, doch, – auch wenn sie anders heißen. So war es und so haben wir im Vorfeld der Zwei-plus-Vier Verträge eine Übersicht erarbeitet, die auf Namen und Zahlen basierte, die unsere Leute in den westlichen Diensten mitgeschnitten haben. Wir hatten ja in der Spitze aller westlichen Dienste unsere Quellen. Da kamen Zahlen zusammen, die für die angeblich freieste aller Bundesrepubliken nur peinlich sein konnten, die dann unsere Verhandlungspartner aufhorchen und zurückzucken ließen.

Wir waren damals etwas blauäugig, gebe ich heute zu, wollten Frieden, Freundschaft und schnell eine umfassende wirtschaftliche Kooperation mit dem neuen, vereinigten Deutschland, – und verzichteten deshalb darauf, diesen Spaltpilz als Hebel oder gar zur mentalen Züchtigung der Bundes-Deutschen einzusetzen.«

»Transatlantisch. – Frieden und Freundschaft mit einer transatlantisch dressierten und vom Großkapital gesteuerten Herrschaftskaste? Da wart ihr wirklich naiv!«

»Ja, Samuel, aber wir hatten die langjährige deutsch-sowjetische Freundschaft im Hinterkopf und dachten die Ost-Deutschen würden das in den Einigungsprozess einbringen können. Unsere Hoffnung, dass die dann entscheidenden Politiker auf deutscher Seite das auch so sähen, hat sich leider nicht erfüllt, denn zu viele transatlantische Scharfmacher profitierten persönlich davon.«

»Gewarnt. – Ja, das war enttäuschend, und wichtige Leute haben zur Zeit der Wende davor gewarnt«, bestätigte Nussbaum. »Selbst ernannte Rache-Engel, schnell gewendete Karrieristen und Medien-Haie spalten seit zwanzig Jahren, statt unser Volk und Europa zu versöhnen, – denn in den Zeiten des Kalten Krieges wurde das Wenigste von den Deutschen oder den Bürgern der anderen besetzten Länder selbst bestimmt. Mit inquisitorischer Attitüde beherrschen diese Rache-Engel jetzt den öffentlichen Diskurs, – vor allem bei uns, im Osten Deutschlands.«

Bruder Nikolai, dem ein Anflug von Leid tiefe Falten ins Gesicht zog, seufzte: »Das haben wir nicht gewollt, und wir hätten dem einen Riegel vorschieben können, wenn wir geahnt hätten, wie sehr dieser Teil der Geschichte benutzt und aufgeblasen wird, um wieder einmal den Frieden und die Zusammenarbeit unter den gutwilligen, aufrichtigen und produktiven Menschen zu torpedieren. Das gilt vor allem für die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland, – die immer noch unter den von der Finanzmarkt-Mafia absichtsvoll gepflegten Schwarz-Weiß-Schablonen des Kalten Krieges leidet.«

»Zahlen. – Ekelhaft ist das für mich, Bruder Nikolai. Aber die von dir erwähnten Zahlen interessieren mein statistisches Gehirn dann doch«, konnte sich Nussbaum nicht verkneifen, weiter zu bohren.

»Mein Gedächtnis ist sicher nicht mehr ganz so präzise wie deines Samuel, aber die Größenordnung habe ich noch im Kopf, und die Dateien mit Namen und Adressen liegen in unserem Moskauer Militär-Archiv, – für alle Zeiten: Für BND, MAD und Verfassungsschutz der Bundesrepublik waren es in Zeiten des Kalten Krieges fast eine Million konspirativ-informelle Quellen und für die Dienste der Westmächte noch einmal etwa eine halbe Million informeller deutscher Mitarbeiter, – zur Wendezeit waren davon noch etwa eine viertel Million aktiv. Das spiegelt doch die gewaltige Angst des Westens und besonders der West-Deutschen wieder, in einem Moment der Schwäche – und derer gab es viele, in Wirtschafts- und Staatskrisen, auch der Verbündeten – vom Osten überrollt zu werden.

Aber so war das im Kalten Krieg. Jede Seite hat möglichst viele Sicherungen eingebaut, wollte alle Gegner, alle Schläfer, alle Spione und Diversanten möglichst präventiv aufklären. Wer sich gewerkschaftlich oder politisch links engagierte, Korrespondenz mit Ost-Bürgern hatte, Verwandte im Osten besuchte, Städte- Partnerschaften oder sportlichen Wettbewerb anschieben wollte, landete im Register der West-Dienste und wurde von V-Leuten intensiv bespitzelt. Letztendlich hat aber auch das dazu beigetragen, einen finalen, vernichtenden heißen Krieg zu verhindern.

Ihr Deutschen wart ja – bei allem Bündnis-Geschwafel – nichts als Faustpfand und Geiseln beider Machtblöcke. Ein menschlicher Puffer, – oder auch einkalkuliertes Kanonenfutter eines Dritten Weltkrieges, wenn man es nüchtern und zynisch betrachtet.«


Eine Weile war Schweigen, sie tranken Tee und jeder streckte sich, die Anspannung der letzten Stunde abzustreifen, – bis Nussbaum in seinem unendlichen Bedarf an Fakten erneut ansetzte:

»Geheimdienste. – Wie siehst du die künftigen Entwicklungen, Nikolai? Konstantin Petrow hat ja schon einige höchst brisante Aussagen getätigt, wie du im Film sicher bemerkt hast, – besonders, wohin driften die Geheimdienste, wenn dich das noch interessiert?«

»Ja, Samuel, davon kommt man nicht los, – ist aber froh, nicht mehr dabei zu sein. Wohin die Dienste heute driften, macht mich schaudern, wenn ich das lese, von Zeit zu Zeit.

Ich lese von Bienen in der Suchtfalle in einer deutschen Zeitschrift – über den Versuch, Bienen süchtig zu machen, als Vorstufen Richtung Mensch, – damit man sie mit wohldosierten Glücklichmachern im Futter jederzeit an der Kandare hat. Regime mit Allmachts-Fantasien brauchen sanfte Instrumente der Herrschaft für die Zukunft. Sanft, aber auch schmerzhaft, für die, die aus der Reihe tanzen, – oder auch nur aus der Reihe denken. Diese Versuche sind nicht neu, betrafen bisher jedoch nur das Militär. Selbst die Sowjet-Armee hat im Afghanistan-Krieg Suchtmittel eingesetzt, zum Aufputschen der eigenen Leute und bei Kombattanten, – um die bei der Stange zu halten.

Es ist eine durch die Forschung gerade bestätigte Erkenntnis, die wir auch im Tierreich sehen können: Ein Schuss Angst – auch der vor Entzug – kann im Menschen Energien freisetzen, die für Spitzenleistungen erforderlich sind. In der Angst zeigt sich die Möglichkeit der Freiheit, sagt der Philosoph Kierkegaard. Aus diesem Grund sind kreative Menschen, die zu Ängstlichkeit neigen, zwar nicht glücklicher, – aber oft emotionaler, leidenschaftlicher und ausdrucksstärker als andere. Es ist auch kein Zufall, dass das Publikum besonders jene liebt, die ein bisschen neurotisch und ängstlich sind, – weil sie ein wenig das Spiegelbild unserer Selbst sind.

Angst ist ein Raketentreibstoff für Erfolg, – so kann man selbst aus einer Angst Hoffnung schöpfen, Dinge grundsätzlich zu ändern. Das predige ich auch den Gläubigen in der Messe und warne gleichzeitig: Die Gesellschaften, die das übertreiben, die nur noch den Angst gesteuerten Wettbewerb der Individuen kennen, werden an ihren unbeherrschbaren Neurosen kollabieren.

Warum findet sich in der Weisheit der Bergpredigt nichts vom Gegeneinander, wie die westliche Geld-Kultur freien Wettbewerb versteht? – Weil er damit zu einer Wurzel des Übels wird, das in seiner Konsequenz gegen die Menschlichkeit steht, die Wahrhaftigkeit und die Nächstenliebe. Es ist der Anfang vom Ende der Solidarität. – Das ist meine Bilanz und meine Besorgnis.

Und ein zweites Phänomen sehe ich: Die mittlerweile zu beobachtende Konzentration der Geheimdienste aller Länder auf den Terrorismus, reagiert nur auf Tatsachen, die Politik und Dienste selbst geschaffen haben. Der Terrorismus, zur Rechtfertigung der Geheimdienste in deren Sinn-Krise, kommt gerade recht, denn die Welt der Satelliten-Daten und des Internets hat den traditionellen Geheimdienst weitgehend überflüssig gemacht. Es gibt keine Geheimnisse mehr, wie Wikileaks beweist und jeder hoch auflösende Spionage-Satellit. Die Genossen von der unsichtbaren Front sind in Satelliten-Aufklärungszentren, digitale Netze und die Welt der Server abgewandert. Sie betreiben Daten-Staubsauger, sie unterhalten riesige Analyse-Zentren, sie hacken, sie legen falsche Fährten, – und sie knacken vor allem börsenrelevante Nachrichten und Industrie-Know-how. Rekrutiert wird daher nicht mehr der eiskalte Agent, sondern der konspirative, geniale Tüftler und Wissenschaftler mit strategischem Weitblick.

Besondere Sorge macht mir aber die heraufziehende Herrschaft der spekulativen Algorithmen, die seit der Implementierung der Spiel-Theorie in die zunehmend automatisierten Entscheidungsprozesse wächst, – davon verstehst du doch was als Mathematiker, Samuel?«

»Spieltheorie. – Aber klar doch, die ist doch im Kalten Krieg entstanden, in dem beide Seiten glaubten, es sei systemischer Schwachsinn und der unabwendbare Untergang, an etwas anderes zu denken als den eigenen Vorteil. Diese Spieltheorie dient jetzt vor allem zur Simulation und Manipulation automatisierter Entscheidungsprozesse in der so genannten Finanz-Industrie, mit zum Teil schon verheerenden Folgen auf eine gesunde, berechenbare Wirtschaftsentwicklung, – jedenfalls habe ich Jelisaweta Kusnezowa so verstanden.«

»Nicht nur dort, auch bei den Diensten ist diese Automatisierung der Datenerhebung und Auswertung – im Internet, mit Echolon und den Prism-Programmen – durch die NSA und andere Dienste, eine Vorstufe und beunruhigende Dimension totalitärer Machtentwicklung, zum Schaden demokratischer Bürgergesellschaft.

Wozu braucht ein spezialisierter Dienst wie die NSA vierzigtausend Mitarbeiter, wo doch gleichzeitig über ein Dutzend weiterer amerikanischer Dienste weltweit unterwegs sind? Wozu planen sie in Utah Server-Farmen, die das Vierhundertfache des menschlichen Wissens speichern können? Wenn sie alle weltweiten Telefonate, alle Mails, alle Suchanfragen im Netz, alle Überweisungen und Buchungen speichern und mit immer raffinierteren Algorithmen filtern, wem dient das? Der Sicherheit der Bürger, – oder vielmehr der Sicherheit ihrer Macht über die Bürger? Obwohl das der vierte Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung strikt verbietet, – wenn ich mich recht erinnere.

Vor allem aber – so hört man von unseren Quellen – werten schon diverse spezialisierte Firmen der Dienste, im Auftrag der Finanzmarkt-Mafia, diesen weltweiten Datenraub aus. Die Ergebnisse in Echtzeit sind für die großen Banken und ausgewählte Spekulanten von ungeheurem Interesse, denn in der Finanz-Industrie zählt nur eins: Der Informations-Vorsprung. Daraus lassen sich an den Börsen täglich und leistungsfrei Milliarden Gewinne generieren. Die Macht des Dollars und die Hälfte der Staats-Einnahmen der USA und Britanniens basieren auf diesem IT-Imperialismus, wie es Lisa Kusnezowa in eurem Film schon ansprach. Diese Mafia bezahlt schon heute über hundert Firmen, die mit ihren Algorithmen krakenhaft die Datenwelt durchschnüffeln, nicht nur auf der Suche nach Spekulationsprofit, sondern auch nach praktischer, technologischer Innovation, – zu der sie selbst, aus Investitionsmangel, schon lange nicht mehr in der Lage sind. Industriespionage im großen Stil ist eine zerstörerische Verwerfung, – in einer Welt, die eigentlich auf Vertrauen, Zusammenarbeit und den Abbau von Spannungen angewiesen ist.

Wenn die Völker der Welt nichts dagegen tun, und sich weiter von den politischen Vertretern der großen Finanz-Imperien einlullen, korumpieren oder erpressen lassen, besteht die extreme Gefahr, dass sich diese angloamerikanische Finanzmarkt-Mafia vollständig mit der globalen Sicherheitsindustrie verbindet, – und weltweit die demokratischen Institutionen aushebelt.

Das alles, meine Freunde, kommt mir in der Erinnerung vor, wie der Sicherheitsapparat, in der Endzeit der großen Sowjetunion, der mit ähnlichen Mitteln der Industrie-Spionage versuchte, den wirtschaftlichen Absturz aufzuhalten, – damals allerdings auf Steinzeit-Niveau, wenn man es mit den heutigen Möglichkeiten der Informations-Technologie vergleicht.

Wir in der Abwehr waren dagegen rational bilanzierende Idealisten, – so kann ich es rückblickend und mit Befriedigung sagen. Mit unserer Kaskade der Licht Operationen zur Beendigung des Kalten Krieges, zum Fall des Eisernen Vorhanges und zur Förderung demokratischer Bürgergesellschaften, waren wir auf völlig neue Weise der Zeit voraus, – denn wir haben damit die Herrschaft der unheiligen Rüstungswirtschaft, der Ideologen und ihrer politischen Polizei über die Zivilgesellschaft beendet.«

»Bilanz. – Wie meinst du das, Bruder Nikolai, wo ordnest du eure Rückzugs-Operationen in der Bilanz militärstrategisch ein?«, wollte es Nussbaum, als Systematiker und Offizier, genau wissen.

»Methodisch beispielhaft war es schon, denke ich und wird es sein – künftig – um die Macht der Militärisch-industriellen Komplexe auf der Welt zu brechen. Wenn auch unsere ersten strategischen Nachahmer unter einer genau entgegengesetzten Zielstellung operiert haben, – am elften September in den USA.«

»Wo siehst du da Parallelen?«, warf Oie sichtlich verblüfft ein.

»Na in dem Zusammenspiel von zielführender und abschirmender Operation, – und auch in der medialen Begleitung.«

Die Männer spitzten die Ohren, denn wieder lag mit diesen Sätzen etwas Ungeheures in der Luft.

Bruder Nikolai war sich dessen bewusst und schob, Tee trinkend, eine Kunstpause ein. Was dann folgte, war im Zusammenhang erstaunlich plausibel.

»Generalziel bei unseren Licht Operationen war das gemeinsame Haus des Friedens und der Zusammenarbeit, – Europa. Dafür war die Beendigung des Kalten Krieges durch die Entmachtung der Oboronka und die Auflösung der Bedrohungspotenziale unseres Militärblocks nötig. Erste zielführende Operation war der Kreml-Flug zur Entmachtung der Oboronka, – der durch unsere abschirmenden Operationen in der Luftabwehr aber erst möglich wurde. Dabei sind die abschirmenden Operationen die mit dem größten Unsicherheits-Faktor, da naturgemäß eine Menge Köpfe mitspielen müssen, die in das eigentliche Ziel der Operation nicht eingeweiht sind.

Die zielführende Operation lässt sich hingegen relativ klar planen und organisieren. Deshalb mussten alle Operationen zur Absicherung des Erfolges parallel geführt werden. In unserem Fall dreifach genäht und medial wirksam in Szene gesetzt, mit einem Partei-Chef, der zum Zeitpunkt des frechen Kreml-Fluges, weit entfernt im Ausland – im Zentrum des Kalten Krieges, Berlin – offen über den Weg zum großen Frieden redete.

Mit der Kreml-Flug-Inszenierung konnten wir sicher sein, dass hart durchgegriffen werden kann, und alle versoffenen Blockierer der Perestroika endgültig abzuschütteln sind.

Nun die amerikanische Variante, – zwölf Jahre später: Ziel war ein Krieg zur Ausschaltung des Iraks, als renitentem, geostrategischem Schwergewicht des Auserwählten Volkes im Nahen Osten, eine nachhaltige Befeuerung der Profite des Militärisch-industriellen Komplexes, – letztendlich der Start zu einer schleichenden Machtergreifung der Geheimdienste über die Bürger-Gesellschaft in den USA. Zielführende Operation dazu war der Angriff der moslemischen Bösewichte mit Verkehrsflugzeugen auf den Roten Platz der Amerikaner, – die Twin-Towers, das Pentagon und andere Objekte. Mehrfach genäht mit fünf Verkehrsmaschinen, denn schon eine Maschine hätte gereicht für den beabsichtigten Effekt, aber die Auftraggeber wollten – wie wir damals – sichergehen.

Akteur im Hintergrund war Bin Laden, der – von der CIA geschaffen, ihr entglitten und dann wieder benutzt, zum größten Anschlag gegen die westliche Zivilisation – der Vorwand werden sollte, für ein gigantisches Geschäft des Militärisch-industriellen Komplexes in den nachfolgenden Kriegen.

Abschirmende Operation war die Lahmlegung der amerikanischen Luftverteidigung an diesem Tag – unter der Aufsicht des Geheimdienstes der Air-Force, mit Übungen aller Abfangjäger der Ostküste – ironischerweise gegen russische Bomber-Angriffe und weit draußen auf dem Atlantik. Parallel gab es noch die Übung Vigilant-Guardian der Satelliten-Überwachung, die diese im entscheidenden Augenblick – als Teil der Übung – lahmlegte.

Natürlich hatte Russland für diese Tage Übungen angesetzt und eine erhöhte Bereitschaft in den wichtigsten Einheiten. Das geschieht aber automatisch, wenn der Gegner Übungen anmeldet, – denn oft in der Geschichte wurde aus einer kleinen Übung ein großer Krieg. Ihr erinnert euch an den von Fjodor Kusnezow zitierten Spruch des Amerikanischen Präsidenten Clinton, dass die Zerschlagung der Russischen Föderation – nach der Zerschlagung Jugoslawiens – auf der Tagesordnung stehe? Das war der immer noch präsente Geist des Kalten-Krieges aufseiten der Amerikaner.

Die Unterdrückung der weit fortgeschrittenen Ermittlungen des FBI, gegen Bin Ladens Leute, durch abschirmende Operationen der Dienste, insbesondere durch Agenten der CIA im Vorfeld der Anschläge, ist eine weitere bemerkenswerte Parallele. Alles musste, wie beim Kreml-Flug, unbedingt erfolgreich sein, – denn medial war ja alles so inszeniert, wie es Hollywood nicht besser könnte: Präsident Bush in der friedliebendsten und wehrlosesten Pose, die sich denken lässt, – beim Märchenerzählen, auf einem Hocker umringt von Kleinkindern, in einer Grundschule fernab in der Provinz.«

»Ungeheuerlich, – und da siehst du den Militärisch-industriellen Komplex der Amerikaner am Werk?«, zweifelte Oie.

»Aber klar doch, – Bush und seine Auftraggeber konnte nach dieser Inszenierung sicher sein, den ganz großen Hammer auspacken zu können. Der war dem Militärisch-industriellen Komplex schon lange versprochen, und auch die Profite seiner Familie wuchsen exorbitant, so höre ich. Wem nützt es, ist doch immer die entscheidende Frage, wenn du siehst, dass sich durch diese Anschläge gewaltige Geschäfte dieser Leute entwickelt haben, in deren Folge sich das Militärpotenzial verdoppelte und die Staatsschulden, bis zum drohenden Finanzkollaps, sich ebenfalls verdoppelten, ist das klar. Für diese Schulden aber wird der Steuerzahler bis an sein Ende bluten müssen.

Dann schaut aber auch auf den Besitzer der Türme, der die sanierungsreifen Objekte, kurz zuvor, billig übernahm, – und mit einer deftigen Prämie auf Totalverlust zum Neuwert versicherte. Er hat dann Milliarden kassiert. Ist das nicht teuflisch-genial? Und damit wirklich nichts an Spuren bleibt, wurde gleich nach dem Einsturz der Türme das unbeschädigte Gebäude Sieben – die Überwachungszentrale der Stadt – zum Einsturz gebracht. Perfekt was?

Diese ganzen Ungereimtheiten, Indizien und Motive, im angeblich fortschrittlichsten Land der Welt, die diesem Anschlag in die Hände spielten und dokumentiert sind, interessierten merkwürdigerweise niemanden in den Ermittlungsbehörden.«

»Ungereimtheiten. – Noch weitere Ungereimtheiten?«

»Ja, warum zum Beispiel meldete eine Nachrichtenagentur den Einsturz der Überwachungszentrale schon Minuten vor dem eigentlichen Kollaps? Und warum wurden viele Angestellte gewarnt, an diesem Tag nicht zur Arbeit zu erscheinen, – und wer warnte sie? Und warum wurden, nach einiger Zeit des Spuren-Verwischens, die Versager und Blindgänger in Militär und Sicherheitsdiensten befördert, statt bestraft? Das sind alles Fragen, deren Aufklärung seitdem massiv behindert wird, hört man.

Wem nützt es, ist doch die Frage, mit deren Beantwortung der Hintergrund und die Wahrheit sichtbar werden. Folge der Spur des Geldes! Bei allen Kapitalverbrechen ist das ein fundamentales Gebot, – warum nicht in diesem Fall? Niemand ist dieser Spur konsequent gefolgt, da müsst ihr nur mal die veröffentlichten Protokolle der Untersuchungen lesen.

In den Dossiers der Dienste dazu, die unsere Leute mitgeschnitten haben, ist von drohenden, unabsehbaren Folgen und Konsequenzen für die nationale Sicherheit der USA die Rede, – auch von drohenden innenpolitischen Konflikten, bis hin zu bewaffneten Auseinandersetzungen, wenn das weiter verfolgt würde.«

»Journalisten. – Bezeichnend ist auch, dass alle Journalisten, die dieses sensationsträchtige Thema in den letzten Jahren immer mal wieder ernsthaft verfolgten – um Licht ins Dunkel zu bringen –, tödlich verunfallt sind.«

»Ja, Samuel, – Imperien agieren in ihrer Endphase mit der Amoralität von Mafia-Banden, was wir aber, zu unserer Zeit, durch die Licht-Operationen, konsequent verhindern konnten.«

»Luftwaffe. – Respekt dafür, Bruder Nikolai, – aber das mit dem Geheimdienst der Luftwaffe weißt du genau?«, hakte Samuel nach.

»Natürlich nicht, denn ich war zu der Zeit ja bereits ausgeschieden. Aber so höre ich es durch meine alten Verbindungen. Unsere nach wie vor sprudelnden Quellen in den Geheimdiensten der USA signalisierten das. Auch steht es in einigen Protokollen diverser Untersuchungsausschüsse. Es ist auch überhaupt nicht anders denkbar, wie der Kreml-Flug nur möglich wurde, weil wir dreifach genäht hatten und die abschirmende Operation in der Luftverteidigung, durch unsere Abwehr, präzise funktionierte.«

»Das mit den Twin-Towers klingt unter dem Strich fürchterlich und sehr plausibel, Bruder Nikolai. Respekt deshalb auch von mir, zu dem was du uns gerade dazu und zur Europäischen Perestroika geschildert hast. Respekt auch vor deinem analytischen Weitblick, wohin das noch gehen kann«, verbeugte sich Oie innerlich. »Was ihr damals in Bewegung gesetzt habt, ist wirklich in dieser friedensfördernden Konsequenz und Komplexität ohne Beispiel, denke ich. Wo hat sich schon in der Geschichte ein ideologisch aufgeladenes Militär-Imperium so schnell und konsequent für den Frieden zerlegt? Unfassbar eigentlich, – und im Geiste der Bergpredigt, wenn ich in diesen Mauern den Vergleich ziehen darf?«

»Oie, – du darfst. Von dem notwendigen Weitblick ist erstmals in der Bergpredigt die Rede, wenn die Errichtung des Reichs Gottes auf Erden erwähnt wird, – was ja als Synonym verstanden werden muss, und nichts anderes ist, als das Reich des Friedens und der Gerechtigkeit.

Wie gesagt, der Rückzug ist die Königsdisziplin, denn er bedeutet, im Geiste der Bergpredigt, das Ende der Konfrontation und den Ausbruch aus dem Zirkel von Gewalt und Rache, – auch beim vermeintlich noch Starken. Das ist mir schon so oft durch den Kopf gegangen, warum wir als gelernte Sozialisten das nicht von Anfang an begriffen und so umgesetzt haben? Gewaltlos und mit der notwendigen Nächstenliebe, – wir wären überzeugender gewesen!«

»Kontext. – Ich sehe da den geschichtlichen Kontext, der dem entgegen stand«, fiel Nussbaum ein. »Die Entstehung aller neueren politischen Ideen von einer gerechten Gesellschaft fiel in die heftigsten nationalstaatlichen Kämpfe um Macht und Einfluss auf dieser Welt. Da hatten diese Ideen es naturgemäß schwer, weil sie als Instrument der anderen Seite denunziert werden konnten. Das hat auch dieses theoretisch menschliche und gerecht angelegte, sozialistische Gesellschaftsmodell des Ostens in die Irre geführt, denn durch den äußeren Druck gewannen auch dort die perversen Klassen- Krieger und Sicherheitsfanatiker schnell die Oberhand. Erst die blutigen Erfahrungen der Menschheit aus den beiden Weltkriegen und das Unvermögen – mit dem Beispiel Gandhis vor Augen –, jedwede Kolonialregimes gewaltsam aufrechtzuerhalten, führten dann auf den Weg der sanften Revolutionen.

Reaktor. – Deutschland in der Mitte Europas – als Reaktor der zeitgeistigen Ideen und Entgleisungen vergangener Generationen – ist jetzt, aufgrund seiner fundamentalen, schrecklichen Erfahrungen, zum Friedensbollwerk geworden und es ist zu hoffen, dass es so bleibt, denn starke Interessengruppen versuchen Deutschland in ihre Konflikte hinein zu ziehen. Als Friedenbollwerk haben wir uns im Osten immer verstanden, deshalb war die Friedenspropaganda immanent in der Gesellschaft der DDR, entsprach sie doch zutiefst der Sehnsucht aller Deutschen nach diesen verheerenden Kriegen. Darauf konnten sich alle Bürger verständigen. Andere Belange waren dagegen weit weniger wichtig!«

»Ja, das erklärt auch den Erfolg der Ideen der Europäischen Perestroika in den Köpfen der gebildeten Fachleute im ganzen Osten von Anfang an«, nahm Nikolai den Faden auf. »Deshalb, vor allem, hatten wir so breite Unterstützung bei den Kulturträgern, der Wissenschaft und Intelligenz in der Gesellschaft, bis zum durch imperiale Intrigen verdorbenen Schluss. Es entsprach unserem zutiefst menschlichen Ideal. Dafür war man auch bereit, eine Durststrecke zu überwinden und etwas zu riskieren. Nur ging das – in Anbetracht der kulminierenden wirtschaftlichen Probleme – nicht schnell genug. Auch weil die Kräfte des Alten alles unternahmen, um ihre Macht und ihre Privilegien zu bewahren, – und uns die äußeren Gegner um jeden Preis niederspekulieren wollten, – so war das.

Nun aber lasst uns noch ein bisschen durchs Kloster spazieren, ich führe und zeige euch die ganz besonderen Ikonen aus der Stroganow-Periode. Zu jeder gibt es eine besondere Geschichte.«

»Gleich machen wir das, Bruder Nikolai«, stimmte Oie zu, »aber wenn wir hier schon mal sitzen und die Kamera läuft, - wo siehst du für uns auf den Listen weitere Anlaufpunkte, die das Bild im Detail abrunden könnten?«

Der Mönch blätterte in den Listen und sagte dann: »Was Igor Antonow da unterstrichen hat in den Ländern, ist schon der Ariadne-Faden.«

Er räusperte sich: »Spannend ist nur, wer davon noch lebt und sich erinnern will. Hier zum Beispiel, im polnischen Teil, gibt es einen Major Gregorcz Lewandowski in Danzig, der war damals noch nicht so alt und nah dran an den Ereignissen.

Oder hier, im ungarischen Teil, den Attila Tomek, Oberst Milo Horvat, – oder die Kryptologin Dr. Ilona Bartok. Die müsstest du kennen Samuel, ihr habt doch damals zusammengearbeitet an unserer Kryptotechnik, – wenn ich mich recht entsinne.«

»Ilona. – Exakt, Ilona kenne ich gut, – so gut, dass ihre Paprika-Natur mich beinahe gefangen hätte«, lächelte Samuel verträumt.

»Und Attila Tomek, den Grafiker, den kenne ich aus der Ungarischen Design-Szene«, ergänzte Oie.

»Da solltet Ihr hinfahren und Grüße von mir ausrichten, – sicher hilft das. Die werdet ihr noch in Budapest finden denke ich. Alle bedeutenden Ungarn leben in Budapest, habe ich mir sagen lassen.

Und vergesst mir Prag nicht, da war Oberst Martin Vesely mein Stabspartner und Major Martin Zeman.

Am Schluss, wenn ihr wieder in Berlin seid, ist der wichtigste Mann, der euch Auskunft geben kann, der Oberst Gros, – und vielleicht ein gewisser Schmied, ein Berater von einem Politbüromitglied, dessen Namen ich vergessen habe.«

Bruder Nikolai erhob sich bei den letzten Worten und zog umständlich die Kutte glatt, so als wolle er nun die Vergangenheit endgültig aus den Falten streichen.

»Da haben wir ja noch eine ziemliche Reise vor uns«, flüsterte Samuel, mit etwas trauriger Stimme. »Ich dachte, es geht bald nach Hause, bevor Vermissten-Meldungen von unseren Frauen aufgegeben werden.«

»Verstehen kann ich dich, Samuel, aber wenn wir einmal dabei sind und die Quellen so ergiebig sprudeln, sollten wir das durchziehen, – das sind wir Igor schuldig, meine ich«, forderte Oie, und Samuel wiegte sein Haupt nachdenklich-betrübt, aber dann doch zustimmend.

»Ja, das denke ich auch, die solltet ihr aufsuchen«, bestätigte Bruder Nikolai, »und ich will euch unterstützen, falls es Probleme gibt, – auch weil ich aus vielerlei Gründen nicht mitgehen kann. Für den Fall habt ihr hier die Karte vom Kloster mit meiner Telefon-Nummer.

Aber nun lasst uns ins Refektorium zum Mittagessen gehen, damit wir überhaupt noch was in den Magen bekommen, – und dann beginnt die Privatführung zu den Kunstschätzen.«


Nussbaum zog – als sich Oie von Bruder Nikolai noch über seine Freundschaft mit Igor Antonow ausfragen ließ – eine Kopie der Aufnahmen, von Plan-C bis zu diesem Gespräch, auf einen Stick und übergab ihn dem Mönch mit der Bitte um Weiterleitung der Daten auf seinen Proxy-Server. Bruder Nikolai versprach, dies zu tun.


Am Abend kam der aus Lettland angeforderte Leichen-Wagen. Er wurde von Mönchen der Klosterwache in Empfang genommen und der Fahrer zu Vater Nikolai geleitet, wo Oie und Nussbaum beim Tee saßen.

Verschwitzter Fremdgeruch von Tabak und Armenischem Cognac wie in den Marathon-Zügen der Transsibirischen Eisenbahn wehte beim Eintritt des Letten ins Zimmer.

Gegrüßt musterten sie ihn erstaunt ob seiner traurigen Gestalt.

Groß und dürr, mit Strubbel-Vollbart, am hellen, faltigen Gesicht mit alles bekrönender Glatze, wirkte er in seinem abgeschabten, etwas zu kleinen schwarzen Anzug wie der Gevatter Tod aus den Märchenbüchern.

»So ist das immer, wenn ich bei meinen Touren irgendwo neu antrete«, sagte der, als er ihre Gesichter sah, und stellte sich vor: »Jänis ist mein Name, Jänis Ozols aus Riga, – Bestattungsunternehmer. Ich bin der mit Hermannis vereinbarte Transport. Lettische Bibeln habe ich auch mitgebracht, – wann soll es losgehen?«

Bruder Nikolai stellte sie vor, – und schaute die Freunde fragend an.

»Morgen. – Ja, ich denke morgen früh, – aber wie haben Sie sich das vorgestellt? Hermannis hatte dazu noch nichts Konkretes gesagt in der Eile«, antwortete Nussbaum mit zuckenden Augen.

Bruder Nikolai bat den Bestatter sich erst einmal zu setzen und goss – ohne zu fragen – Wasser ein, das der sichtlich ausgetrocknete Mensch in großen Zügen trank.

Hatte der unheimliche Fremde die staubige Hitze des Sommertages mit seinen Kleidern ins Zimmer geweht, oder war es die hintergründige Anspannung, die den Freunden auf einmal den Schweiß auf die Stirn trieb und sie nervös schweigen ließ, – vor diesem so bildhaft erscheinenden Höllen-Trip in einem Leichenwagen?

Ozols nahm schweigend noch einen, von Nikolai angebotenen, Tee und entspannte sich nach wenigen Schlückchen. Dann schaute er mit der Hals-Gelenkigkeit einer Eule in die Runde und räusperte sich: »Ich verstehe, dass Sie nichts verstehen. Am besten wir laden erst einmal die Bibeln aus, um die Transport-Technik kennenzulernen. Gibt es eine Garage, wo man vor Blicken geschützt ist?«

»Oh ja«, entgegnete Bruder Nikolai, »darauf habe ich beim Umbau im Kloster geachtet.«

Sie gingen nach unten auf den Hof zum Bulli-Transporter, durch dessen getönten Scheiben man im Innern die Silhouetten zweier Särge ahnen konnte. Auf dem lackschwarzen Transporter stand in eleganten goldenen Lettern Jänis Ozols, Riga – Beres Parvadi, – was der Lette mit Bestattungen und Überführungen übersetzte.

Jänis fuhr in die Übergabestation des Klosters, wo im hinteren Teil das silbergraue Tor der Leichenhalle anschloss. Als der Wagen eingeparkt war, öffnete er die Heckklappe des Autos und sie schoben zwei Transport-Wagen dahinter. Jänis löste diverse Schlauchkupplungen, zog die Transport-Särge auf Rollen heraus und fuhr diese auf den Wagen zur Seite.

Im fahl-kalten Neon-Licht der kleinen Halle wirkten die schwarz gelackten, mit schmalen Goldkanten und Palmenzweigen verzierten Leichtmetall-Särge wie Luxus-Fahrstühle zur Hölle oder zum Himmel, – je nach mentaler Disposition. So jedenfalls äußerte sich Nussbaum spontan, als er die Transport-Technik begriff, – und sie mit weißer Nase, bei zuckenden Augenmuskeln, umschritt.

Die Särge waren an den Seiten mit funktionalen Beschlägen versehen. Auf einen Griff von Jänis unter den Sarg aber konnten er das Oberteil zur anderen Seite aufklappen, ohne diese Verschlüsse öffnen zu müssen. Im Sarg lagen die bestellten Bibeln, die Bruder Nikolai dankend in Empfang nahm. Beeindruckt um die Transport-Särge herumstehend, sah man ihren Gesichtern Fragezeichen an, und der bleiche Nussbaum zweifelte: »Herr Ozols, – Sie wollen, dass wir in diesen Kisten nach Riga reisen?«

»Ich nicht, – so hat es mir Hermannis aufgetragen. Das ist die sicherste Variante. Papiere sind vorbereitet und von außen wirkt der Sarg nachher wie amtlich genehmigt. Außerdem fahre ich bei solchen Aktionen immer gegen Mitternacht am Grenzübergang vor, da habe ich noch keinen Beamten erlebt, der tiefgründig prüfen wollte. Ich werde immer schnell durchgewinkt, so als ob der Leibhaftige erschienen sei, sie zur Umkehr zu mahnen und an die Endlichkeit ihres Lebens zu erinnern.

Die Ostvölker sind alle abergläubisch bis auf die Knochen, – ich übrigens auch. Deshalb fahre ich nie ohne das Perlenarmband meiner Großmutter.« Er streckte seinen farbig-floral tätowierten linken Arm aus der Jacke und verwies auf ein dickperliges mit orthodoxen Kreuzen verziertes elfenbeinernes Armband, das auf einen schwarzen Lederriemen geknüpft war. »Ein Familienstück, – Walrossbein von Seefahrern und geweiht in Riga.«

Bruder Nikolai lächelte, worauf sich Jänis Ozols selbstbewusst straffte und fortfuhr: »Es ist auch schon vorgekommen, dass die paar Dollarscheine, die ich für eine schnelle Abfertigung zu den Papieren lege, zurückgegeben wurden und sich Grenzbeamte bekreuzigten, – wobei ihnen das Sträuben der Haare schon mal die Dienstmütze anhob. Ich habe nämlich, bei solchen Anlässen, immer etwas Lidschatten unter die Augen gelegt, – und wenn ich meinen schwarzen Zylinder lüfte, die traurige Glatze zum Vorschein kommt, da müssten Sie mal das unterdrückte Entsetzen sehen. Wenn dann noch einer fragt, rede ich flüsternd von einem rätselhaften Infektionsfall, an dem die Leute in den Särgen verschieden sind, – das funktioniert immer. So ist das, alles Theater, – und uns emotional umso näher, je mehr es unsere physische Existenz betrifft. Man sieht förmlich die flache Atmung, wenn ich vorfahre und anhalte. Aber Haltung nehmen die Grenzbeamten immer ein, das muss man schon sagen, – das ist wohl der Respekt vor dem Tode, unser aller Meister.«

»Infarkt. – Aber Herr Ozols, Sie wollen doch wohl nicht sagen, dass man da drinnen stundenlang liegen kann, ohne am Infarkt zu sterben?«, schob Nussbaum mit nervös zittriger Stimme nach.

»So schlimm ist das nicht. Aber wenn es wirklich passiert, stimmt schon mal die Verpackung, – und ich mache Ihnen einen Freundschaftspreis, denn ich habe ja weniger Aufwand«, lachte Ozols.

»Solchen Humor findet man wahrscheinlich nur in ihrem Gewerbe«, erwiderte Oie lächelnd, weil er Nussbaums Beklemmungen fühlte und es auch ihm nicht geheuer war, so zu reisen. – »Aber im Ernst, wie soll das gehen?«

»Ganz einfach. Die Plätze in den Särgen werden erst etwa eine Viertelstunde vor der Grenze bezogen, – im Fahren natürlich um nicht aufzufallen. Jeder Sarg ist durch die Schlauch-Anschlüsse runter gekühlt und Sie wickeln sich beim Einstieg in eine Thermofolie. Das erfordert eine gewisse Gelenkigkeit, ist aber wichtig, damit die Wärmebild-Kameras, die die Jungs manchmal einsetzen, nicht anschlagen. Hinter der Grenze dann steigen Sie wieder raus, – aber im Notfall kann man den Sarg auch jederzeit von innen öffnen. Hier sehen Sie: Die Randleiste anklappen – das ist die Panikklinke – und schon ist die Verriegelung gelöst.«

»Luft. – Und was ist mit der Luft?«

»Die kommt über eine Maske mit Schlauchanschlüssen zum Kühlaggregat, das für diese Zeit, von mir im Cockpit, über Spezialfilter, auf Atemluft geschaltet wird, – auch wegen eventueller Kohlendioxid- Sensoren bei den Genossen. Wir haben an alles gedacht. Es ist schon oft erprobt worden und hat immer funktioniert, – bis nach Westeuropa durch den Zoll.«

»Tut mir leid Oie«, murrte Nussbaum, mit einem Bibbern in der Stimme, »da geh ich nicht rein, – in der Enge bekomme ich einen Herzkasper. Ich muss ja schon bei jedem Flug Beruhigungsmittel nehmen und habe in Fahrstühlen Schweißausbrüche. Dann bleibe ich lieber hier Nikolai, – habt ihr nicht eine Stelle als Kloster-Mathematiker?«, fragte er zerknirscht scherzend.

»Das ändert die Lage!«, stoppte der Lette. »Das ist dann zu riskant. Wenn ihnen die Nerven durchgehen, ist die ganze Technik bei den Russen und wir sind im Gulag, – so geht es nicht!«

»Wir müssen eine andere Lösung finden, – jedenfalls für Samuel«, besann sich Bruder Nikolai. »Wie heißt es so schön? Gott schenkt die Nüsse, aber er knackt sie uns nicht auch noch, – ich muss darüber nachdenken.«

Sie schoben die Särge zurück in den Bulli und begaben sich ins Refektorium zum Abendessen.


Die ganze Nacht über merkte Oie, der sonst gut schlief, wie Nussbaum sich in seinem Bett wälzte, häufig schwer atmete, undeutliche Worte brabbelte, aufwachte, umher ging, sich wieder hin legte, – und sich weiter wälzte. Oie sagte dazu nichts, obwohl er fühlte, wie Samuel mit sich kämpfte, um eine akzeptable Haltung zu haben, – am Morgen der Entscheidung. Etwas Hoffnung hatte er, denn es drängte Samuel ja auch in die Heimat, – das wurde für Oie von Tag zu Tag deutlicher spürbar.

Nach dem Frühstück in Bruder Nicolais Büro telefonierte der noch einmal und zeigte dann ein entspanntes Gesicht: »Wir haben eine Möglichkeit für dich, Samuel, – auf einem Wolgaschiff namens Sagorsk. Der Kapitän, Iwan Iwanowitsch Bogdanow, gehörte früher, als Kapitän eines U-Bootes der Baltischen Rotbannerflotte, zu uns. Seit ich hier im Kloster bin, war er oft bei mir in den letzten Jahren.

Ich habe ihn in einer seelischen Krise aufgebaut und ihm auch das alte Schubschiff vermittelt, als er ohne Arbeit war und drohte abzustürzen. Er ist jetzt selbstständiger Unternehmer und fährt auf der Wolga von Astrachan Hinauf nach Sankt Petersburg. Zurzeit ist er stromaufwärts unterwegs, um in Yaroslawl Getreide zu laden, – für Petersburg. Er würde gegen Mittag, zum Proviantieren hier im Hafen anlegen, offiziell, – natürlich nur wegen uns, wenn ihr es wollt.«

»Aber«, hakte Oie ein, »wir bleiben auf jeden Fall zusammen. Dann fahren wir beide auf dem Schiff, – auch wenn es länger dauert. Geht das?«

»Sicherlich, – nach zweien habe ich nicht gefragt, aber die Schubeinheit ist groß, da findet sich noch ein Plätzchen. Ich rufe gleich noch mal an.

Wie machen wir es aber mit Ihnen, Jänis?«

»Das ist kein Problem, ich brauche nur Ladung, damit ich am Kontrollpunkt nicht aus der Last-Schablone falle, – falls der Transporter gewogen wird. Habt ihr russische Bibeln? Sie würden sich eignen.«

»Nichts leichter als das«, entgegnete Bruder Nikolaj. Er rief über das Haustelefon seinen Depot-Mönch und beauftragte ihn, die Bibeln in einer halben Stunde zur Verladung bereitzuhalten. Dann rief er über sein Funktelefon Kapitän Bogdanow und bestätigte, dass er gegen Mittag zu einem seelsorgerischen Besuch der Mannschaft in den Wolga-Hafen kommen würde – und auch zwei Geschenke für seine Schwester dabei hätte.

Zur angesagten Stunde wurden die Bibeln verladen und Jänis machte das Auto startklar. Die Freunde standen daneben und warteten auf Bruder Nikolai.

Er kam herunter und rief nur: »Schnell, ich hatte meinen Kurier zu einer Entsorgungsfirma gesendet, die einem unsere Gemeindemitglieder und großzügigem Stifter gehört. Er ist gerade zurück und sagt, der Chef schickt gleich einen Müllwagen mit drei Mann, – nur der Fahrer ist eingeweiht. Mit dem fahrt ihr dann zum Hafen, gleich, nachdem Jänis durchs Portal gefahren ist, – und die ihn sicher zur Kontrolle anhalten werden. Die Zivilen und die Polizisten sind die ganze Nacht nicht abgezogen.«

»Dann können Bibeln nur Beiladung sein«, forderte Jänis. »Habt ihr keinen aktuellen Transport von Verstorbenen, das ist mir sicherer, – sonst stellen die mich auf den Kopf und steigen hinter mein Geschäftsgeheimnis.«

»Das verstehe ich, – mit Gottes Nachsicht werden wir zwei alte Herrschaften, deren Leichen hier für einen Transport nach Minsk bereitliegen, zu euch nach Riga schicken. Ihr bringt sie aber bitte dann sofort weiter zu den gewünschten Adressen. Kann ich mich darauf verlassen?«

»So wahr mir Gott helfe«, bestätigte Jänis Ozols.

Nikolaj schlug ein Kreuz und segnete ihn.

Sie gingen, um die Leichname zu holen.

Kurze Zeit später fuhr ein großvolumiger Müllwagen auf den Hof, der Fahrer meldete sich bei Nicolai und brachte noch zwei sorgsam verpackte Uniformen der Müllabfuhr – mit Grüßen von seinem Chef. Die streiften sich Oie und Nussbaum über, während dessen die anderen Müllmänner zum Abfall-Lager geschickt wurden, um dort Verpackungen zusammenzustellen.

Oben auf dem Bock des Müllautos – Ozols schwarzer Leichenwagen fuhr vor ihnen – schoben die Freunde ihre Dienstmützen tief ins Gesicht, – und wie zu erwarten wurde der lettische Transporter angehalten und das Müllauto durchgewunken.

Auf Serpentinen fuhren sie hinunter zum Wolgahafen, in dem schon das Schubschiff Sagorsk mit einem großen, unbeladenen Leichter an der Kaje lag.


Operation Ljutsch Band II

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