Читать книгу Die Faulheit der Frauen - Renate Wullstein - Страница 5

Das Finanzamt

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Pünktlich acht Uhr morgens war ich beim Finanzamt und konstatierte überrascht, wie freundlich die Mitarbeiter auf den Gängen grüßten, und wie überaus nett Frau Engels mich empfing.

Ich erklärte die Situation, behauptete, dass ich keinerlei Steuerformulare erhalten hätte, dass sie wahrscheinlich an die falsche Adresse gegangen wären, an die meines Mannes, von dem ich geschieden sei, und der die Post nicht aushändigte. Die Beamtin nickte unbeeindruckt und überreichte mir einen dicken Packen gefalteter, ineinander gehäufter Formulare, genau solche, wie sie bei mir zu Hause lagen.

Ich kannte das Gesetz, das mich zur Abgabe einer

Steuererklärung verpflichtete, tatsächlich nicht.

Im Anschreiben hatte ich damals dankbar den Satz zur Kenntnis genommen: Falls Sie zur Abgabe der Einkommenssteuererklärung verpflichtet sind. Es gab also Leute, die es nicht waren, und das konnten ja nur diejenigen sein, die wie ich zu wenig Geld verdienten. Ganz nebenbei ging mir auf, dass ich hier nicht die Einkommenssteuer- sondern die Umsatzsteuererklärung in der Hand hatte, und dass dies zwei verschiedene Angelegenheiten waren.

Nun hatte man also meinen Umsatz geschätzt, und mir leuchtete jetzt ein, dass der Staat nicht wissen konnte, ob ich große oder kleine Einnahmen hatte. Logisch.

”Muss ich hier alle Seiten und Spalten ausfüllen?” sagte ich, während ich die Blätter flüchtig durchsah.

”Das kann ich Ihnen nicht sagen, das weiß ich nicht.” Die Frau tippte mit dem Finger auf das Blatt.

“Sie müssen hier oben in dieses Kästchen eine EINS eintragen, dann wissen wir, dass es sich um eine berichtigte Umsatzsteuererklärung handelt, damit wird die Schätzung hinfällig, und es kann ja sein, dass Sie gar keine Steuer bezahlen müssen. Das werden wir sehen. Bringen Sie das ausgefüllte Formular gleich morgen wieder her.”

Nervös blätterte ich in den Unterlagen und versuchte zu verstehen, welche Bedeutung all diese gedruckten Formulierungen haben könnten: Steuerpflichtige Umsätze. Eigenverbrauch. Entnahme von Gegenständen. Ich warf der Steuerfrau einen Blick zu.

”Sie meinen, ich bin in der Lage, das alles hier ohne Hilfe auszufüllen? Können das denn die anderen?”

Schulterzucken beim Gegenüber.

”Lesen Sie sich die Anleitung durch, die ist im Mittelteil.”

Diese Anleitung war noch einmal so dick und genauso unverständlich: Antrag auf Einkommenssteuerveranlagung…

"Ich glaube, bei Ihnen wurde bereits eine Kontopfändung eingeleitet.”

”Was?” rief ich erschrocken. Frau Engels lächelte mütterlich. ”Keine Panik, das können wir wieder rückgängig machen.”

”Dürfen Sie denn einfach mein Geld pfänden?” fragte ich.

”Wir dürfen alles”, lautete die Antwort.

"Ach."

”Ich mache Ihnen ein Schreiben für Ihre Bank fertig”, sagte Frau Engels. ”Wenn Sie damit sofort hingehen, können Sie die Pfändung vielleicht noch verhindern.”

”Das ist nett”, sagte ich. Frau Engels setzte sich unverzüglich an das alte Modell einer Schreibmaschine. Ich sah mich im Zimmer um, es war noch viel kleiner als mein Laden und viel ungemütlicher. Alles Büro und Akten.

Die Bank ließ also einfach das Konto pfänden. Ohne mich zu informieren. Ich hatte etwa dreihundert Mark drauf. Zusammen mit den vierhundert vor dem Vollstrecker gerettetem Geld, war dies mein gesamtes Vermögen. Gerade hatte ich darüber nachgedacht, davon einen Teil meiner Mietschulden zu tilgen. Ich verfolgte das Klappern der Schreibmaschine. Na gut, dachte ich, es ist offenbar nur ein Spiel. Erst wollen sie ein paar tausend Mark, dann muss ich nur Eins in ein Formular schreiben und alles ist wie vorher. In mir keimte die Gewissheit, wenn ich nur die Augen offen hielt, konnte man sie womöglich alle um den Finger wickeln.

”So.” Die Finanzfrau stand auf und legte das Schreiben in den Kopierer.

”Ein Schreiben behalten Sie, dieses hier geben Sie bei der Bank ab. Und morgen bringen Sie das Steuerformular, Sie können es aber auch mit der Post schicken.”

”Danke”, sagte ich und verabschiedete mich.

Ich betrat die Volksbank wie jemand, der jetzt alles begriffen hatte.

Zunächst wollte ich die Kontoauszüge sehen, aber der Automat streikte.

Die Angestellte hinter dem Schalter sah mich streng und ansatzweise sogar beleidigt an. Sie nahm die Bankkarte, tippte etwas in den Computer und verkündete: ”Sie haben bei uns kein Konto.”

Ich reichte ihr das Schreiben vom Finanzamt.

”Sie wissen doch ganz genau, dass ich hier ein Konto habe.”

Die Frau schüttelte unwillig den Kopf und schob das Schreiben zurück.

”Ihr Konto ist aufgelöst, die Bankkarte behalte ich ein.”

”Ja, ich weiß”, sagte ich. ”Mein Konto ist gepfändet worden, aber in diesem Schreiben steht, dass die Pfändung ein Irrtum war.”

Die Bankfrau schloss kurz die Augen. ”Ich muss Ihnen keine Auskunft geben”, sagte sie.

Ich wurde wütend, wusste aber nicht, wie ich es ausdrücken sollte. Vielleicht Schreien?

”Ich soll Ihnen dieses Schreiben geben”, sagte ich mit äußerst gepresster Stimme.

”Das Schreiben ist nur für Sie”, beharrte die Schalterfrau, deren Fettleibigkeit mir jetzt ins Auge stach.

”Es ist für die Bank”, sagte ich. “Für mich habe ich eins extra.”

Widerwillig nahm die Bankfrau das Blatt an sich, legte es aber zur Seite, ohne einen Blick drauf zu werfen. Ich bekam einen Kloß im Hals. Gleich würde ich weinen. Wenn ich nur die geringsten Schwierigkeiten an Schaltern oder bei Behörden hatte, drohten Tränen.

”Volksbank!” sagte ich grimmig, jedoch mit versagender Stimme. Ich kehrte um und verließ das Gebäude.

Es war zehn Uhr. Ich ging in den Laden, schloss von innen ab und holte aus Lorettas Werkstatt Kaffeewasser. Loretta erschrak.

”Was machst du denn hier?“

Gewöhnlich öffnete ich den Laden erst am Nachmittag.

”Ich habe einen Schock”, sagte ich.

”Was ist passiert?”

„Es ist aus, ich bin am Ende.“

Loretta starrte mich an. Diese Situation gedachte ich auszukosten.

”Ich mache Kaffee”, sagte ich. ”Dann komme ich zu dir, es gibt schlechte Nachrichten.“

Loretta legte das Werkzeug aus der Hand. Auf den Tischen und in den Regalen lagen buntes Glas, Werkzeug und Mal-Utensilien. Eine Staffelei. Im Lager stapelten sich neben fertigen Arbeiten bunte riesige Scheiben, die sie zerschnitt und zerbrach. Loretta war ihrem Wesen nach dem Glas ähnlich, bunt schillernd und spröde. Sie trug einen schmutzigen Arbeitsanzug, dazu knallrot geschminkte Lippen. Sonst nichts, kein Make-up, keine Wimperntusche, nur die Lippen. Sie bemalte das Glas gern mit scharfkantigen Figuren. Spitze Dreiecke waren weibliche Brüste. Verdrehte oder abgeknickte Körper, fuchtelnde Gliedmaßen aus der Welt der Geometrie. Böse Augenstriche. Aber alles schön bunt. Die Kunst stapelte sich in ihrem Haus seit der Wende, und Loretta verkündete immer wieder tapfer: „Arbeiten kann nicht verkehrt sein.

Ein Leitspruch, dem nichts hinzuzufügen war. Loretta hatte ein Haus, einen Mann und zwei Kinder. Keine Ahnung warum, aber ein solches Dasein erschien mir langweilig, stupide und für meine Person vollkommen unangemessen.

Mit starrem Blick hörte Loretta nun die Nachricht vom Vollstrecker.

Ich berichtete ausführlich und sagte schließlich:

”Die Strafe muss ich wahrscheinlich gar nicht zahlen, aber der Laden ist vollkommen unrentabel, so geht es nicht weiter.“

Loretta grübelte ein paar Minuten wortlos vor sich hin.

„Kannst du dir nicht was einfallen lassen, womit man besseren Umsatz macht?“ sagte sie.

Ich versprach es. Im Lager suchte ich eine Pappe heraus und beschriftete sie mit dem schönen Wort: INVENTUR, stellte es ins Schaufenster und beschloss, was ich noch nie getan hatte, Toni in seinem Büro aufzusuchen. Ich verließ den Laden, überquerte die Hauptstraße in Richtung Tischlerei. Toni und seine Mitarbeiter bauten Fenster, Türen und Treppen. Nebenbei sanierten sie das barocke Vorderhaus, das einer von ihnen gekauft hatte. Sein Büro im Seitenflügel diente ihm gleichzeitig als Übergangswohnung. Denn später würde er eine selbst entworfene Wohnung im Vorderhaus beziehen.

Sieben oder acht Leute standen im Hof und blickten nach oben. Unter ihnen eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte. Wahrscheinlich war sie die neue Architektin, von der Toni einmal gesprochen hatte. In einem Ton, der mir gleich verdächtig vorgekommen war. Ich ging an der Gruppe vorbei und nickte mit dem Kopf. Alle grüßten zurück, außer Toni.

Ich setzte mich auf einen Stapel Kanthölzer in die Sonne und betrachtete die Architektin. Ein paar Minuten würde Toni Zeit haben. Ich wollte warten. Wahrscheinlich war heute Donnerstag und der wöchentliche Rapport zur Instandsetzung des Vorderhauses wurde abgehalten. Am Abend danach regte sich Toni jedes Mal sehr auf. Gleich nach der Wende hatte er angefangen Architektur zu studieren und wieder aufgehört. Ich beobachtete, wie er mit wichtiger Miene an den Lippen der Architektin hing. Die junge Frau sah keineswegs so aus, wie er seine Traumfrau beschrieben hatte. Sie trug eine seltsam altmodische Bluse, Jeans, eine Frisur fast wie Dauerwelle und hatte eine Hakennase. Ich wartete, baumelte mit den Beinen und wurde allmählich unruhig. Ich schlug die Beine übereinander und betrachtete meine Knie. Vom Alter her passt die Architektin zu Toni, dachte ich, aber sonst wohl kaum. Er rührte sich nicht von der Stelle. Ich sah zum wiederholten Mal auf die Armbanduhr, die er mir vor kurzem zum Geburtstag geschenkt hatte.

Damit du unabhängig bist, hatte er gesagt. Meine Geduld war am Ende. Ich machte mich bereits lächerlich, wie ich da saß und wartete. Endlich sprang ich vom Holzstapel und verließ grußlos und aufrecht den Hof.

Auf dem Weg ins Holländerviertel verfertigte ich einen druckreifen Monolog gegen meinen jungen Freund. Ich schloss den Laden auf und besorgte erneut Kaffeewasser. Ich schaltete das Radio ein, setzte mich an den Schreibtisch und fühlte mich taub. Ich blätterte in einer Illustrierten. Ich war zornig und zum Äußersten entschlossen. Das Äußerste bedeutete: Trennung. Unwiderruflich. Schluss. Aus.

Die Tür ging auf, und Toni stiebte herein. ”Was war das?” fragte er scharf.

”Was war was?” sagte ich, um Zeit zu gewinnen.

”Dein Auftritt während unserer Versammlung?”

”Das war eine Versammlung?”

Toni nahm eine Tasse und goss sich selbst Kaffee ein.

”Das war eine Versammlung, und das weißt du ganz genau.”

”Alle haben mich gegrüßt, nur du nicht”, sagte ich. ”Hattest du nicht mal fünf Sekunden Zeit, mich zu fragen, was los ist?”

Toni schüttelte den Kopf.

”Nein, so nicht, meine Liebe, nicht mit mir. Warum bist du nicht einfach zu mir gekommen, wenn es so wichtig war?”

”Pah, unterbrichst du mich etwa, wenn ich gerade Kundschaft habe? Du hast doch gesehen, dass ich da war. Denk nach.”

”Wir waren gerade fertig, als du gegangen bist”, lenkte er ein.

”Und woher sollte ich das wissen, bitte schön?”

”Das ist mir zu kompliziert”, sagte Toni. ”Seit wann interessierst du dich eigentlich für Boxen?”

Das Interview mit Henry Maske lag noch auf dem Schreibtisch.

”Schon immer”, sagte ich. ”Ist sehr interessant, musst du mal lesen.”

Nein. Toni wollte nicht. Neulich hatte ich ihm ein Interview mit Niki Lauda gegeben, das fand er gut. Niki Lauda als Rennfahrer, Niki Lauda als Unternehmer, Niki Lauda als Frauenheld.

Nun hatten wir uns wieder vertragen. Insgeheim sann ich jedoch über eine kleine Rache nach.

”Weshalb warst du bei mir?” fragte er. Er saß auf einem Stuhl, die Beine lang ausgestreckt auf den Schreibtisch gelegt.

”Der Vollstrecker war hier, Finanzamt, der wollte fast viertausend Mark von mir.”

Ich schnappte nach Luft, als stünde die Summe noch immer an.

Toni grinste.

Ich berichtete besonders ausführlich über die bösartige Vorgehensweise der Bank. Auf diese Weise hoffte ich, dass er, der seine Konten ebenfalls dort hatte, aus Solidarität sofort wechseln würde. Ich hoffte immer, dass er etwas tun würde, irgendetwas, das seine Liebe zu mir bewies.

”Hast du eigentlich gestern den Anrufbeantworter abgehört?”

”Ja. Ich hatte bis Mitternacht zu tun, abends war ich bei Viola, wir haben über den Plänen gesessen.”

”Ist Viola die Architektin?”

”Ja. Sie ist meine Architektin”

Ich nickte und tat ein paar unsinnige Schritte in Richtung Lager.

”Übrigens, ich hab Fliesen für dich zurückgelegt”, fiel mir ein.

Ich ging nach hinten, um die in Zeitungspapier eingewickelten Stücke zu holen. Jemand hatte die alten Kacheln, die in blau weiß mit holländischem Windmühlenmotiven bemalt waren, vor einigen Tagen zu mir gebracht, weil er das Ambiente für einen An- und Verkauf hielt. Ich hatte sie gekauft, weil ich wusste, dass Toni alte Kacheln für die zukünftige Küche suchte. Toni war anspruchsvoll und kaufte bei IKEA nur das nötigste, aber keine Kacheln.

Er wickelte die Stücke aus.

”Ich nehme sie”, sagte er. ”Wie viel? Was kostet?”

”Für dich zehn Mark das Stück, Einkaufspreis.”

”Einverstanden.” Er wickelte sie wieder ein.

“Warst du bei ihr zu Hause?” fragte ich.

“Ja.”

“Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt oder irgendwas?”

“Wieso soll ich dir Bescheid sagen?”

“Hast du ein Verhältnis mit ihr?”

“Sie hat einen Mann und Kinder.”

“Na und.”

Toni warf mir einen strengen Blick zu.

Plötzlich sprang er auf, nahm einen letzten Schluck Kaffee und sagte: ”Ich muss wieder los, arbeiten. Wir sehen uns heute Abend.”

In diesem Moment erschien Loretta in der Tür.

”Hallo”, sagte sie und blieb im Türrahmen stehen. Sie schaute Toni entgeistert an, als würde sie diesen Menschen zum ersten Mal sehen.

”Was gibt’s Neues?” sagte Toni zu ihr.

”Nichts. Heute Abend ist Ausstellungseröffnung in der Kunstfabrik. Geht ihr da hin?”

Ich blickte Toni an, der das Bücherregal betrachtete.

”Gehen wir da hin?”

”Können wir machen.”

Er tippte auf einen Buchrücken.

„Solltest du mal lesen“, sagte er zu mir. Er zog das Buch aus dem Regal und legte es auf den Schreibtisch. Ich las den Titel: Der Cinderella-Komplex oder die heimliche Angst der Frauen vor der Unabhängigkeit

Häh? Was ist los?

Zum Abschied hampelte er vor meiner Nase herum, machte seinen Oberkörper steif, kippte wie bei einer Gymnastik einmal nach vorn und einmal nach hinten; ließ plötzlich ein Bein hochschnellen. Er tat solche Dinge vermutlich, um einen Überschuss an jugendlicher Energie abzureagieren. Ich bekam Angst um das Inventar. In der Tür stieß Toni einen Pfiff aus, hob kurz die Hand und verschwand mit einem hysterischen Lachen.

Als er draußen war, sagte Loretta: ”Komischer Typ.”

Ich nickte. ”Das sagst du jedes Mal.”

”Das sage ich jedes Mal?”

”Ja.”

“Was willst du mit dem?” sagte sie.

“Keine Ahnung”, sagte ich. Jedem in meiner Umgebung schien klar zu sein, dass wir kein Paar waren.

”Deine Kacheln”, rief ich Toni hinterher. Er stieg bereits ins Auto. ”Hol ich mir später”, rief er. ”Wann sehen wir uns heute Abend?”

”Um acht in der Kunstfabrik.”

Die Faulheit der Frauen

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