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Die alten Feinde

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Seit über 15 Jahren arbeitete Josef Kuster schon für die kleine Metallbaufirma Habicht am Herrengrabenweg in Basel. Er war verantwortlich, dass alle Maschinen funktionierten und überwachte deren Arbeitsabläufe. Er war bei den übrigen Mitarbeitern als ruhiger, pflichtbewusster Mensch beliebt. Auch wenn er nicht oft zu Scherzen aufgelegt war und nur selten lächelte, wurde er von den meisten geschätzt. Seine Frau hatte ihn vor Jahren verlassen, so wie die meisten grauen Haare auf seinem inzwischen fast kahlen Schädel.

Er war heute früher als üblich zur Arbeit erschienen. Ganz alleine saß er in dem kleinen Pausenraum, vor sich einen Pappbecher mit Kaffee aus dem Automaten.

Kuster war in einen Zeitungsartikel vertieft. Langsam füllte sich der Pausenraum mit Kollegen, ohne dass er dies bemerkt hätte. Einige Mitarbeiter bedienten sich am Kaffeeautomaten und andere trafen sich hier nur, um von ihren Erlebnissen des letzten Abends zu erzählen.

»He, Sepp, lernst du die Zeitung auswendig?«, rief einer, der den geistesabwesenden Kuster schon eine Weile beim Lesen beobachtete.

»Simone ist verschwunden«, sagte Kuster leise, »die Tochter vom Chef ist gestern nicht nach Hause gekommen.«

»Komm, gib her!« Einer riss Kuster die Zeitung aus den Händen und sog hastig den Artikel in sich auf.

Nun interessierten sich alle für das Geschehene und die Zeitung wanderte von einer Hand in die andere.

Josef Kuster blieb sitzen, nippte ruhig an seinem Automatenkaffee und sagte, starr vor sich hinblickend: »Es gibt doch noch so was wie Gerechtigkeit!«

»Wie meinst du das?«, wollte ein junger Kollege wissen.

Noch bevor Josef Kuster eine Erklärung abgeben konnte, öffnet sich die Tür zum Pausenraum und Jakob Habicht trat ein, ein stattlicher Mann um die 50, groß und viel zu schwer. Man sah ihm an, dass er nicht geschlafen hatte, dennoch machte er einen kontrollierten Eindruck. Jakob Habicht hätte nie gegenüber seinen Mitarbeitern so etwas wie Gefühle gezeigt. Er wurde streng erzogen und Gefühle zu zeigen war eindeutig eine Schwäche.

Er stand im Pausenraum und sagte mit lauter und fester Stimme: »Männer, gestern ist mein Kind verschwunden. Ich wollte, dass ihr das nicht aus der Presse erfahren müsst. Aber glaubt jetzt nicht, dass der Alte nun nicht mehr oft da ist, sodass der Schlendrian Einzug halten kann. Verzichtet auch auf irgendwelche Tröstungskarten oder Blumen für meine Frau. Solche Schleimereien haben wir nicht nötig. Wenn ihr euer Mitgefühl zeigen wollt, dann bitte mit Einsatz und Tatkraft.«

Er wollte schon wieder gehen, da drehte er sich nochmals um und sagte in einem bedrohlichen Ton: »Und wenn jemand von euch etwas damit zu tun hat … dann gnade ihm Gott!«

Jakob Habicht ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Seine Augen saugten sich an denen von Josef Kuster fest. Habicht glaubte für einen Moment, Freude in Kusters Blick zu erkennen. Was für eine Frechheit! Am liebsten hätte er Kuster die Faust ins Gesicht geschlagen, aber alles zu seiner Zeit.

Habicht drehte sich um und verließ den Raum mit einem lauten Türknallen. Die dünnen Glasscheiben des Verschlages vibrierten. Betretenes Schweigen breitete sich aus.

Der Erste, der wieder etwas zu sagen wagte, war Kuster: »So Männer ihr habt’s gehört. Ran an die Arbeit und kostenlose Überstunden schieben, sodass es dem Chef wieder gut geht.«

Kuster stand wütend auf und fegte mit einer Hand seinen Kaffeebecher vom Tisch. Ähnlich wie Habicht verließ er den Pausenraum und knallte auch die Tür hinter sich zu.

»Was ist denn mit dem los? Wieso ist er denn jetzt so außer sich? Und was hat er vorhin gemeint mit der Gerechtigkeit?«, wollte einer wissen.

Ein anderer ermahnte ihn, sich nicht in fremde Angelegenheiten einzumischen und endlich mit der Arbeit zu beginnen.

Auf dem Weg zurück in seine Wohnung, welche von den Produktionsräumen lediglich durch einen kleinen Hof abgetrennt war, telefonierte Jakob Habicht mit dem Handy. Er stand im Durchgang von der Straße zum Hof und fluchte laut vor sich hin. Der offene Durchgang wirkte dabei wie ein Verstärker und Passanten blieben stehen. Es schien, als würde gleich eine Prügelei beginnen. Habicht verringerte die Lautstärke. Er war außer sich vor Wut. Kein Wunder, so würde es wohl jedem Vater gehen, dessen Tochter spurlos verschwunden war.

Nach ein paar Minuten beendete er das Gespräch, verstaute sein Handy in der Hosentasche und betrat das Wohnhaus. Es war ein gepflegtes Mietshaus, welches schon Habichts Urgroßvater gehörte. In den obersten zwei Etagen lebte der Hausbesitzer mit seiner Familie. Von außen betrachtet war die Liegenschaft der Familie Habicht nichts Besonderes. Wenn man aber ihre Wohnung betrat, so kam man sich vor, als würde man von einem Schwarz-Weiß-Film in die Welt der Farben eintreten. Die Hausherrin schien einen opulenten Geschmack zu haben. Jede Wand war in einer anderen Farbe gestrichen worden. Auf dem Boden lagen Teppiche, die so teuer waren, dass die meisten sie lieber an die Wände gehängt hätten. Die Möbel stammten nicht aus Schweden und man sah ihnen an, dass sie ein Vermögen wert waren. Die Wohnung war extrem sauber und ordentlich. Die Habichts hatten Geld. Es hätte sicher auch für eine kleine Villa auf dem Bruderholz gereicht, aber warum Geld für ein Haus ausgeben, wenn man ein Haus geerbt hat?

Im Wohnzimmer saß Corinna Habicht, eine zierliche Person um die 40 und nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihre verweinten Augen blickten ins Leere.

Als sie ihren Mann bemerkte, sagte sie mit zittriger Stimme: »Ich habe nochmals mit der Polizei telefoniert. Sie beginnen nun mit einer großen Suchaktion.«

Sie brach wieder in Tränen aus, blickte zu ihrem Mann, der nun wortlos am Fenster stand und hinunter auf die Straße starrte.

»Jakob, bitte tu doch etwas. Wo ist unsere Simone? Was ist mit ihr geschehen? Ist sie weggelaufen? Hat sie jemand … Bitte, Jakob, tu endlich etwas!« Ihre Stimme versagte und sie vergrub ihr Gesicht in beiden Händen.

»Kuster hatte ein fieses Grinsen im Gesicht. Würde mich nicht wundern, wenn der Sauhund etwas damit zu tun hat«, sagte Habicht und bebte vor Wut.

»Wieso soll der Josef etwas damit zu tun haben?«

»Der ist immer noch sauer wegen damals, du weißt schon. Der will mir etwas heimzahlen.«

Habicht ging unruhig von einer Ecke in die andere, wie ein Tiger im Käfig. Nur zu gerne hätte er alles Josef Kuster angehängt.

»Jakob, ich kann hier nicht so untätig herumsitzen. Wir müssen etwas unternehmen«, flehte seine Frau.

»Was sollen wir denn machen? Wir sind gestern ja schon x-mal den Weg abgefahren, den Simone immer nahm. Die Polizei hat sich des Falles angenommen, wir können nichts tun als warten.« Er setzte sich zu seiner Frau auf das Sofa und legte seine Hand auf die ihre.

Die Polizei machte das, was sie immer tat in solchen Fällen: Eine Suchaktion wurde eingeleitet, man befragte Nachbarn, Freunde, Schulkameradinnen und mögliche Zeugen.

Das Verschwinden von Simone Habicht versetzte alle in Angst und Schrecken. Mütter begleiteten ihre Kinder wieder zur Schule und es gab Eltern, die ihre Kinder sogar beim Spielen bewachten. Keiner mochte daran denken, was Simone Habicht geschehen war. In Zeitung und Fernsehen wurden immer wieder von Kindesentführungen berichtet. Diese geschahen aber immer weit weg, schienen so unreal zu sein – bis jetzt.

Die ganze Nacht suchte die Polizei nach Simone, ergebnislos. Trotzdem konnte die Polizei von zwei Erfolgen berichten: das Fahrrad von Simone wurde gefunden und erstmal keine Leiche. Das konnte bedeuten, dass Simone zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch am Leben war.

Verrat

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