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Die Kontaktaufnahme

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Am darauf folgenden Tag war das verschwundene Mädchen in allen Zeitungen das große Thema. Kaum ein Blatt, das nicht über Simone berichtete. Die größte Schweizer Tageszeitung machte das, was sie am besten konnte: Panik verbreiten. Sie titelte auf der ersten Seite: Kannte sie ihren Mörder?

»Ein gefundenes Fressen für die. So eine Geschichte bringt Auflage«, warf der Verkäufer des Kioskes bei der Tram-Endstation über seinen großen Zeitungsstapel Etter zu, als dieser sich eine seriöse Tageszeitung griff. Es war schon eine Weile her, dass Etter sich für das Geschehen in seiner Stadt interessierte, aber das Bild der verschwundenen Simone ließ ihn nicht mehr los.

Etter schlug die Zeitung auf und ging lesend weiter. Ab und an blickte er kurz auf, um nicht vom Weg abzukommen. Ein großer Artikel berichtete über die Suchaktionen, die seit gestern lief. Eigentlich wussten die Schreiberlinge nicht viel zu berichten, aber sie füllten eine ganze Doppelseite damit. Man fand das Fahrrad, aber sonst keinerlei Spuren. Die Journalisten schwelgten in Vermutungen und ließen sich zu allerlei Spekulationen hinreißen.

Etter wurde wütend. Er hasste es, dass es Schreiberlinge gab, die ihre mageren schriftstellerischen Talente am Schicksal eines 13-jährigen Mädchens auslebten. Er zerknüllte die Zeitung und warf sie in den nächsten Mülleimer. In der Zukunft würde er andere Informationskanäle wählen, um seinen Wissensdurst zu stillen. Welche wusste er allerdings noch nicht.

Auf dem Weg zum Friedhof machte Etter einen Umweg. Automatisch. Er wollte es eigentlich gar nicht – Etter ging an einer Schule vorbei. Er kannte sie gut, denn auch er musste hier die Schulbank drücken. Es war ein mächtiges altes Steingebäude aus einer Zeit, in der die Architekten noch für die Menschen und nicht für die Kunst bauten. Auf dem Hof des Schulhauses tummelten sich Scharen von Kindern. Einige standen in Gruppen zusammen und redeten, andere rannten einander nach oder saßen auf den Treppen zum Hauptgebäude und aßen ihre mitgebrachten Brote.

Etters Blick huschte kurz über die Szenerie. Plötzlich blieb er stehen und hielt inne. Als hätte er etwas Unglaubliches in der Menge entdeckt, suchte er die Kinderköpfe systematisch ab. Für einen Moment glaubte er seine Katrin gesehen zu haben. Obwohl er wusste, dass dies nicht möglich war, hoffte er, das Mädchen im Kinderwirrwarr ausfindig machen zu können. Zu gerne hätte er seine Katrin dabei beobachtet, wie sie die große Pause genoss, wie sie mit ihren Freunden sprechen würde, wie sie lachen und sich mit ihren Händen die langen Haare aus dem Gesicht streichen würde. Aber so sehr er auch suchte, er konnte niemanden entdecken, der wie Katrin aussah.

»Reiß dich zusammen«, brummte er und machte sich weiter auf den Weg zum Friedhof.

Noch bevor er am Grab von Katrin war, klingelte sein Handy. Etter wunderte sich. Eigentlich schaltete er es nur am Abend ein und ließ es in der Wohnung liegen. Offenbar hatte er es eingesteckt, als er seine Wohnung verließ, so wie er es früher immer tat; alte Gewohnheiten lassen sich nicht leicht abschütteln. Er blickte auf das Display und erkannte die Nummer: Thomas Sutter Etter hatte keine Lust, den Anruf entgegenzunehmen, tat es dann aber doch, da sich andere Friedhofsbesucher vom schrillen Klingeln gestört fühlten.

»Hallo Thomas, hier Etter. Es geht mir beschissen, danke!«

»Guten Morgen, Peter, schon wach?«

Der konnte wirklich saudämlich fragen, dachte Etter und versuchte, seine schlechte Laune zu verbergen. »Hast du Langeweile oder hast du dich verwählt?« Etter war nicht scharf auf die Antwort und meinte knapp, »Ich hab’ jetzt keine Zeit. Ich bin auf dem Friedhof bei Katrin. Ruf später noch mal an – in einem Jahr!«

»Moment, Peter, nicht auflegen. Sagt dir der Name Simone Habicht etwas?«

»Das verschwundene Mädchen?«

Sutter war beeindruckt. »Wow, ich dachte, die Welt um dich lässt dich kalt?«

»Ich hab’s zufällig mitbekommen. War das alles? Habe ich jetzt den Hauptpreis gewonnen? Du weißt ja wo ich wohne, du kannst ihn mir schicken.«

Etter beendete das Gespräch vorzeitig. Er schaltete das Handy aus und verstaute es wieder in seiner Manteltasche.

Heute stand er wieder sehr lange am Grab und starrte mit leerem Blick auf die Blumen, die er vor ein paar Tagen in einer kleinen Vase auf die Erde gestellt hatte. Sie wirkten traurig, so wie er. Kraftlos, vom Schnee erdrückt hingen ihre Köpfe am Stängel und Etter dachte, dass er morgen frische Blumen mitbringen würde.

Er stand lange regungslos da. In Gedanken versunken bemerkte er nicht, wie sich ihm von hinten jemand näherte. Erst, als eine Person seitlich in Etters Blickfeld erschien, erschrak er und blickte ins Gesicht von Thomas Sutter.

»Was machst du denn hier?«

»Du hast das Telefon ausgeschaltet. Das mag ich gar nicht«, maulte Sutter, ohne wirklich böse auf Etter zu sein.

»Der Akku war leer«, brummte Etter, aber er wusste, dass Sutter das nicht glaubte.

War ja auch egal. Die beiden Männer verband eine Art Freundschaft. Jahrelang waren sie ein Team und Etter konnte sich immer auf seinen Partner verlassen. Wenn Etter etwas brauchte – Sutter organisierte es. Sutter war fast so etwas wie der nie geborene Zwilling Etters. Sutter spürte, wie es Etter ging, ohne ihn ansehen zu müssen. Als Etter noch Polizist war, schätzte er Sutters Feingefühl. Nun nervte es. Sich dem Elend zu ergeben, war so nicht möglich.

Etter drehte sich vom Grab weg und ging eilig Richtung Friedhofausgang, Sutter hinterher.

»Simone Habicht«, begann Sutter in einem Ton, als müsste er seinem Chef Bericht erstatten. »Dreizehn Jahre alt und Tochter des Firmenchefs der Metallbaufirma Habicht. Sie verließ gestern mit ihrem blauen Fahrrad das elterliche Haus am Herrengrabenweg, um an der Flughafenstraße die Klavierstunde zu besuchen. Das macht sie immer einmal die Woche.«

Etter wusste nicht, warum Sutter ihm das erzählte und sagte keinen Ton.

»Sie ist nie bei der Klavierlehrerin angekommen. Das Fahrrad wurde gestern im Kannenfeldpark gefunden. Normalerweise fuhr Simone Habicht auf der Hauptstraße zur Klavierstunde. Gestern hat sie wahrscheinlich die Abkürzung durch den Park genommen, wo man dann ihr Fahrrad gefunden hat.«

»Sag mal, warum erzählst du mir das eigentlich? Ich arbeite nicht mehr und dies ist auch kein Fall für die Mordkommission«, fauchte Etter, ohne Sutter anzuschauen. Er versuchte schneller zu gehen.

»Corinna Habicht hat mich heute früh angerufen. Ich kenne sie. Sie und meine Mutter waren im selben Verein. Sie weiß, dass ich Polizist bin und bat mich, ich solle mich doch des Falles annehmen.«

Etter blieb stehen und schaute Sutter fragend an. »Dann mach es doch. Du hast schon zu viel Zeit verplempert.«

Sutter war mit seinem Latein am Ende. Er hatte gehofft, dass Etter spüren würde, warum er zu ihm kam, aber es half wohl nur Klartext. »Peter, ich brauche deine Hilfe. Kümmere du dich bitte um den Fall Habicht.«

»Warum sollte ich?«, erwiderte Etter gereizt.

»Weil du der Beste bist und weil die Habichts wissen wollen, wo ihre Tochter ist.« Sutter hoffte, dass seine Worte nun dort angekommen waren, wo er sie hinschicken wollte.

Etter blieb nachdenklich stehen und sagte kein Wort. Er war froh, kurz anzuhalten. Sein Gehtempo war definitiv zu schnell gewesen. Er atmete stark und sein Herz raste.

Sutter fuhr fort: »Du weißt, dass ich mich nicht um den Fall kümmern darf. Die Mordkommission wird erst eingeschaltet, wenn eine Leiche ins Spiel kommt.«

»Ich bin noch nicht so weit«, entgegnete Etter schnell. »Schau mich doch an. Ich habe genügend eigene Probleme. Ich kann mich nicht um die von anderen kümmern.«

Stille.

Sutter musste es auf eine andere Weise versuchen. »Peter, bitte denk mal ein Jahr zurück. Warum hast du täglich über fünfzehn Stunden gearbeitet? Wieso hast du all die Verbrecher gejagt und zur Strecke gebracht?« Sutter schaute Etter in die Augen und gab sogleich auch die Antwort: »Weil es dein Leben ist!«

Etters Augen füllten sich langsam mit Tränen. Seine Nerven waren solchen Standpauken nicht gewachsen. »Mein Kind war mein Leben«, kam es zitterig über seine Lippen.

»Ein dreizehnjähriges Mädchen ist vielleicht noch am Leben und braucht dringend deine Hilfe.« Sutter staunte selber über seine Wortwahl, die er im Nachhinein als völlig verfehlt einschätzte. Er hätte sich nicht gewundert, wenn Etter sich umgedreht hätte, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen.

Zu Sutters Überraschung reagierte Etter kaum darauf. Sie starrten sich nur an, ohne ein Wort zu sagen. Sutter, der nicht mehr damit rechnete, dass der erstarrte Etter in den nächsten zwei Wochen noch etwas sagen würde, drehte sich um und wollte gehen.

»Aber nur als freier Mitarbeiter«, kam es über Etters Lippen. »Ich muss nichts, ich darf alles und bekomme alle nötigen Informationen!«

Sutter begann zu strahlen. Am liebsten hätte er seinen ehemaligen Chef umarmt, aber er hatte sich im Griff. Ihre Zusammenarbeit war schon seit jeher so etwas wie gegenseitiges Verheimlichen von persönlichen Empfindungen. Keiner gönnte dem anderen einen guten Einfall oder einen Geistesblitz. Man freute sich aber schon darüber, allerdings erst zu Hause, wenn es der andere nicht sehen konnte.

Sutter nahm sich also zusammen und sagte ganz ruhig und gefasst: »Okay. Um zwölf im Spiegelhof. Pausenraum. Ich bringe was zu essen mit und du bekommst alles, was wir bisher an Fakten haben.«

Sutter verabschiedete sich mit einem knappen Nicken und marschierte zügig zum Ausgang des Friedhofes. Sein breites Grinsen im Gesicht konnte Etter sogar an Sutters Hinterkopf ablesen.

Etter blieb noch eine ganze Weile auf dem Friedhofsweg stehen. Nur langsam beruhigte sich sein pochendes Herz. Was hatte er da eben gemacht? Hatte er tatsächlich Sutter seine Mitarbeit zugesagt? Nein. Er würde sich nicht so leicht überreden lassen. Sein Beruf war schuld an Katrins Tod. Nie mehr würde er in den alten Trott verfallen. Nie mehr!

»Zehn nach zwölf! Alter Scheißkerl, immer noch dieselben Methoden.«

Sutter saß an einem kleinen Tisch im noch kleineren Pausenraum und wartete auf Etter. Es war ihr Stammplatz. Sie saßen immer an diesem Tischchen. Es war der einzige Zweiertisch. Die Gefahr, dass sich jemand dazu setzen würde war gleich null.

Sutter blickte auf seine Armbanduhr, schüttelte den Kopf und konnte ein Schmunzeln nicht verbergen. Etter kam gerne später. Seine Gesprächspartner zappeln zu lassen machte ihm Spaß. Wenn jemand etwas von ihm wollte, dann musste dieser auch bereit sein, etwas dafür zu tun: warten. So wurde Etters Kommen spektakulärer als das Eintreffen von Außerirdischen. Sutter freute sich darüber. Es war ein gutes Zeichen dafür, dass sein Vorgänger vielleicht schon bald sein Nachfolger würde.

Sutter löschte diesen Gedanken sofort wieder aus seinem Hirn, denn er wollte sich nicht zu früh auf etwas freuen, was vielleicht nie eintreffen würde.

Der Pausenraum war voll. Neben dem Zweiertisch an dem Sutter saß gab es noch einen Vierer- und zwei Sechsertische. Überall saßen uniformierte Polizisten, die ihren Proviant, den sie meistens im COOP an der Schifflände holten, vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatten. Die meisten waren mit Essen beschäftigt, dennoch herrschte ein hoher Geräuschpegel. Das Mittagessen war für viele die einzige Möglichkeit sich mit anderen Kollegen auszutauschen.

Und auf einmal erschien er – die Tür zum Pausenraum öffnete sich und Etter betrat die Szene. Er blieb am Eingang kurz stehen, als würde er Sutter suchen, dabei wusste Etter genau wo Sutter saß und selbst ein Blinder hätte ihn in diesem kleinen Raum gefunden. Das kurze Innehalten hatte jedoch den gewünschten Effekt: die Gespräche verstummten. Nach und nach blickten unzählige Augenpaare in Richtung Tür, wo Etter stand. Wogen der Bewunderung und des Respekts schlugen ihm entgegen. Wären die Kollegen ehrfurchtsvoll und applaudieren von ihren Stühlen aufgestanden, es hätte Sutter nicht überrascht.

Etter hatte seinen Auftritt und bestimmt tat es ihm gut. Die Kollegen widmeten sich wieder ihren Gesprächspartnern am Tisch und bissen in ihre Sandwiches.

Etter näherte sich Sutters Platz.

»Du bist schon da?«, scherzte Sutter.

»Ich kann auch gleich wieder gehen«, giftete Etter zurück.

Er war tatsächlich noch nicht ganz der Alte. Sutter musste sich zusammennehmen. »Komm, setzt dich. Was willst du trinken?«

»Bist du neuerdings Kellner?«

Etter setzte sich an den kleinen Tisch, ohne seinen Mantel aufzuknöpfen. Offensichtlich wollte er nicht lange bleiben. Sutter spürte, dass er auf den Punkt kommen musste, denn sonst könnte es passieren, dass Etter gleich wieder aufstand und ging.

Sutter versuchte nun möglichst korrekt zu bleiben: »Hier in der Mappe findest du alles, was wir bisher wissen. Es ist nicht viel, aber immerhin könnten einige Hinweise dabei sein. Ich zähle auf deinen Spürsinn. Das Einzige, was wir bisher gefunden haben, ist das Fahrrad des Mädchens. Es lag auf einem Weg im Kannenfeldpark. Es war schon etwas zugeschneit.«

»Wo ist das Fahrrad jetzt?«, wollte Etter wissen, ohne einen Blick in die Aktenmappe zu werfen, die ihm Sutter rüber schob.

»Es müsste eigentlich bei uns in der Garage stehen, bis es den Eltern wieder ausgehändigt wird.«

Etter sagte nichts. Er schaute wortlos in Sutters Augen. Es schien, dass Etter noch mehr wissen wollte und Sutter wurde unsicher. Verlegen suchte er nach Gesprächsstoff.

»Wie geht’s dir?«, füllte Sutter die peinliche Pause.

»Nicht nur Kellner, sondern auch noch Arzt?« Etter starrte ununterbrochen in Sutters Gesicht.

Es hatte keinen Sinn. Etter war wirklich schwer einzuschätzen. Darum löste Sutter den Blickkontakt und kam wieder aufs Thema: »Die Untersuchungen am Fahrrad sind beendet. Wenn du willst, kannst du es dir nachher ansehen.«

»Was ich kann, wann ich es möchte und ob ich es will entscheide ich!«, fauchte Etter.

Sutter schluckte. Am besten wäre es, einfach nichts mehr zu sagen. Als er noch eng mit Etter zusammengearbeitet hatte, konnte er mit solchen Situationen besser umgehen. Eigentlich hatte sich Etter im vergangenen Jahr nicht verändert. Er war noch immer der missgelaunte, zynische und verletzende Mensch wie früher. Das Einzige, was sich verändert hatte, war Sutters Umgang mit Etters Launen. Er war aus der Übung gekommen; vor einem Jahr war er noch Meister darin.

Viele Kollegen konnten nicht begreifen, dass Sutter mit einem Menschen wie Etter zusammenarbeiten konnte. Eigentlich war es nicht besonders schwer. Die Kunst bestand lediglich darin, Blitzableiter zu spielen und sich jeden Tag sagen zu lassen, dass man die größte Null im Universum sei. Und wenn man das überstanden hatte, gab’s auch oft ganz normale Tage. Etter lachte manchmal sogar – wenn Sutter stolperte, hinfiel oder mit offenem Hosenschlitz in die Chefetage marschierte. Das war Etter durchaus einen Lacher wert.

Sutter mochte und hasste Etter gleichzeitig. Beruflich machte Etter keiner etwas vor, davon konnte Sutter profitieren. Und als Mensch konnte man von Etter lernen, nämlich nie so zu werden wie er. Etter war ein Mensch, der permanent etwas leisten musste. Er machte alles bis zur letzten Konsequenz. Das konnte man auch in Etters momentaner Krise beobachten. Er schaltete sich aus, und zwar komplett. Der Mann, der früher nur Mineralwasser trank, schüttete nun literweise Alkohol in sich hinein. Der Mann, der vorher um fünf Uhr aufstand, um fünfzehn Stunden zu schuften, blieb nun tagelang zu Hause und lag im Bett. Alles oder nichts, hieß Etters Devise und wenn nichts, dann aber wirklich nichts!

Sutter und Etter saßen sich lange gegenüber und schwiegen sich an.

Plötzlich stand Etter auf und sagte vorwurfsvoll: »Was ist? Kommst du nun mit, oder muss ich wieder alles alleine machen?« Er ging zügig zum Ausgang.

Sutter war baff. Er nahm die Mappe mit den Akten vom Tisch und eilte Etter hinterher, der schon einen kleinen Vorsprung hatte. Wie früher, dachte sich Sutter und schloss langsam zu Etter auf.

Verrat

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