Читать книгу Aber der Himmel war höher - Rita Kuczynski - Страница 6

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Es klingelte. Ich wollte, dass es aufhörte. Es hörte nicht auf. Im Gegenteil. Der Ton verstärkte sich und wurde penetrant. Also stand ich auf. Es war der Postbote. »Eilt«, stand auf dem Umschlag. Wortlos hielt der junge Mann seinen Zeigefinger auf eine Stelle seines elektronischen Geräts. Ich sollte den Empfang quittieren. Ich machte mit seinem Schreibgerät irgendwelche Krakel auf das Display. Ohne Brille fällt es mir immer schwerer, meine Unterschrift Buchstabe für Buchstabe zu schreiben. Ich gab ihm seinen elektronischen Stift zurück. Er wünschte mir noch einen schönen Tag und zog ab. Jeder wünscht ja jedem heutzutage einen schönen Tag und geht danach.

Einen Moment lang hatte ich den Wunsch, den Postboten zurückzurufen, um meine Unterschrift, nachdem ich meine Brille endlich gefunden hatte, noch einmal zu geben. Denn ich bestehe noch heute bei meiner Unterschrift auf jedem Buchstaben. Einzeln und zusammen gelten sie mir als Zeichen oder besser als Gewissheit, dass da ein Teil von mir geblieben ist, auf den ich jederzeit zurückkommen kann. Ich also den Zusammenhang mit mir nicht verloren habe. Nachdem ich die Wohnungstür schon geöffnet hatte, wurde ich mir glücklicherweise der Lächerlichkeit meines Anliegens bewusst. Ich schloss die Tür wieder.

Der Eilbrief mit persönlicher Übergabe, wie auf dem Briefaufkleber zu lesen war, war von diesem Consulting-Büro. Ich hatte letztlich doch zugesagt. Nun wollte man meine Unterlagen für die Krankenversicherung. Aber vorab sollte ich in diesem Büro anrufen.

Ich schaltete die Nachrichten von CNN ein und ging ins Bad. Morgens weiche ich gern in den englischen Sprachraum aus. Da ich Englisch nie so gut gelernt habe, dass ich die Nuancen der Nachrichten verstehe, behalten sie etwas Ungefähres. Ich muss nicht auf Anhieb entscheiden, ob die gemeldeten Katastrophen in einem bedrohlichen Zusammenhang zu mir stehen. Ich kann also erst einmal in Ruhe duschen und frühstücken, bevor ich mich dem Weltgeschehen im Einzelnen zuwende.

Während ich mir das Shampoo in die Haare massierte, dachte ich an Emmi. Wahrscheinlich, weil die Nachrichtensprecherin aus Washington berichtete. Warum meldet sich Emmi eigentlich nicht? Sie wollte anrufen, sobald sie aus Washington zurückgekommen war. Emmi war absolut dagegen, dass ich die Stelle in diesem Büro annehme. Sie wollte, dass ich weiter malte. Das wollte ich auch, nur nicht so wie in den letzten Jahren. Denn es passierte nichts mehr. Ich meine, nichts wirklich Neues. Meine Bilder waren routiniert. Es fehlte ihnen die innere Anspanung, ja auch Angst, ob das, was ich tun wollte, auch wirklich herausfand aus mir.

Als ich Emmi davon erzählte, lachte sie nur und sagte, das glaube sie nicht. Dagegen ist bekanntlich nichts zu sagen. Schon gar nicht, wenn Emmi es sagte.

Dennoch, ich habe schon lange nicht mehr in einem anderen Büro gearbeitet als in meinem eigenen. Seit dem Mauerfall und der ihr rasch folgenden deutschen Einheit habe ich überhaupt noch nicht in einem Angestelltenverhältnis gearbeitet. Die neue, die westdeutsche Bürokratie ist mir noch undurchschaubarer als die alte, die ostdeutsche. Auch deshalb habe ich mir gleich nach der Wiedervereinigung eine Steuerberaterin gesucht.

Ich hörte das Diktiergerät ab. Es liegt nachts neben meinem Bett. Zwischen Schlaf und Schlaf fallen mir die Sätze ein, denen ich mich tagsüber verweigere. Dann ärgere ich mich, weil ich die Sätze nicht wiederfinden kann am Tag. Sätze wie diese:

»Wir gehen so lange fort von uns, bis wir nicht mehr zurückfinden. Danach versuchen wir ein anderes Leben. Und noch eins und wieder eins, bis wir irgendwann wissen, es ging weiter ohne uns. Wir haben uns überlebt. Danach werden wir sicherer. Denn niemand erwartet noch etwas von uns. Wir können also neu beginnen.«

Ich ließ die Sätze auf dem Band stehen und schaltete das Gerät ab. Ich rührte Honig in den Joghurt. Nach dem Frühstück rief ich in diesem Büro an, um meine Versicherungsnummer und die Krankenkasse durchzugeben. Eine freundliche Frauenstimme bedankte sich und meinte, dass man sich auf mein Kommen freue. Ich freue mich auch, sagte ich und wusste noch, bevor ich zu Ende gesprochen hatte, dass das so nicht stimmte.

Ich drehte CNN den Ton ab, machte den Fernseher aber nicht aus, sondern legte die Fernbedienung auf den Küchentisch. So hatte ich die Gewähr, den Ton schnell wieder einschalten zu können, falls die in einander fallenden Bilder noch eine Nachricht vom Tage anzeigten, von der ich meinte, ich kennte sie noch nicht. Seit Monaten schüttete ich mich zu mit Nachrichten. Inzwischen bin süchtig nach ihnen. Es ist mein Versuch, nicht zurückkommen zu müssen auf mich. Ich weiche mir aus.

Das Telefon klingelte. Emmi! Endlich! Ihre Stimme war leise. Sie stockte, dann sagte sie, dass sie aus Washington anrufe und erst in drei Wochen komme. Sie habe das Praktikum verlängern können. Die National Gallery of Art sei atemberaubend schön. Am liebsten würde sie auch nachts darin verweilen. Aber da führe kein Weg herein. Sie habe mit dem Direktor des Museums gesprochen. Ausgelacht habe er sie und an ihrem Verstand gezweifelt.

Ich fragte Emmi, ob sie ihr Zimmer am Dupont Circle verlängern konnte.

Nein, sagte sie. Aber sie habe Max getroffen, und er habe ihr ein günstigeres ganz in der Nähe besorgt. Gleich an der 16. Straße.

In mir zog sich etwas zusammen, als ich den Namen Max hörte. Ich zwang mich, nicht zu fragen, wie es ihm gehe.

»Er hat nach dir gefragt. Ich habe gesagt, dass es dir gut geht. Das war doch richtig«, fragte Emmi.

»Ja, natürlich«, sagte ich bestimmt, nach einer Pause, die zu lange war, um von Emmi nicht bemerkt zu werden.

»Ich habe ihm auch nicht gesagt, dass du für Herbst New York abgesagt hast.«

»Das war völlig in meinem Sinn«, sagte ich, nun mit fester Stimme, da Emmi verunsichert schien.

Ich versprach Emmi, nach ihrer Wohnung zu sehen und die Post aus dem Briefkasten zu nehmen. Sie bedankte sich und legte auf. Ich hielt den Hörer in der Hand, bis ich ein Freizeichen hörte. Ich vermisste dieses ozeanische Rauschen in der transatlantischen Telefonleitung. Vor Jahren, als wir noch nicht per Satellit telefonierten, gab es dies noch und signalisierte zumindest mir, dass die Entfernungen zwischen hier und dort immens seien.

Emmi war mir vor Jahren zugelaufen. Plötzlich war sie da. Bei einer Auftragsarbeit in einer Werbeagentur habe ich sie kennen gelernt. Sie war gerade zwanzig geworden und kam aus Paris. Aber eigentlich kam sie aus Halle, wie ich bald erfuhr. Sie sah immer übermüdet und abwesend aus. Sie schien mir in dem Büro so fehl am Platz, dass ich sie ansprach, ob sie sich verirrt habe. »Ein bisschen«, sagte sie ohne jede Scheu und lachte verlegen. Ein paar Tage später erzählte sie mir unter Tränen etwas von einer Abtreibung, von einem französischen Architekten und von einem gelben Nachthemd aus Seide, mit dem er sie abfinden wollte. Denn er habe nie die Absicht gehabt, mit ihr eine ernsthafte Beziehung, wie er sich ausdrückte, einzugehen. Noch ein paar Tage später nahm sie mich mit in ihre Wohnung. Sie lag in Berlin-Prenzlauer Berg. Das Haus war heruntergekommen, wie es viele Häuser hier waren.

Die Wohnung war ein großes Zimmer. Neun mal neun Meter, wie ich von Emmi erfuhr. Sie lag im obersten Geschoss und glich einem Lagerraum mit Terrasse. Denn die Wohnung war vollgestellt mit Krügen aller Art, die ordentlich in Regalen ihren Platz gefunden hatten. Emmi genoss mein Erstaunen und sagte, irgendwann werde sie ihr eigenes Museum haben. Bis dahin müssten die Krüge hier zwischengelagert werden. Sie in einen Speicher zu geben, wäre zu teuer. Sie holte einen Tonkrug aus dem Regal. In dem Krug waren bunte Papierkugeln. Emmi nahm eine heraus und gab sie mir.

»Wirf sie aus dem Fenster, morgen in aller Frühe, und wünsche dir etwas, bevor die Kugel auf dem Asphalt aufschlägt. Es wird in Erfüllung gehen. Bestimmt«, sagte sie und stellte den Krug zurück ins Regal.

Ich bedankte mich und steckte die Kugel in die Jackentasche. Dann lief ich an den Regalreihen entlang und fragte Emmi:

»Und wo hast du all diese Krüge her?«

»Ich habe sie selbst gesammelt.«

In ihrer Stimme klang Stolz. Nach einer Pause sagte sie.

»Das heißt, den allerersten Krug hat mir mein Vater geschenkt.«

»Und warum nur Krüge«, fragte ich.

»Die Krüge haben ein Geheimnis. Ich muss es herausfinden. Jeder Krug trägt ein Teil davon in sich. Deshalb können es nicht genug Krüge sein.«

Ich sagte nichts mehr. Ich setzte mich auf eine Holzkiste. Sie stand vor der neun Meter langen Fensterfront. Draußen regnete es. Die Fenster waren nicht dicht. Emmi hatte ein Laken vor die Terrassentür gelegt. Denn wenn der Wind wie jetzt auf den Fenstern stand, regnete es herein. Außerdem zog es. Sie müsse die Reparaturen selbst organisieren, sagte Emmi. Denn die Hausverwaltung sollte die Wohnung besser nicht betreten. Sie habe doch die Wände innerhalb der Zimmer allein abgetragen. Emmi zeigte auf die nachgebesserten Fußbodendielen, wodurch der Übergang von einem Raum zum anderen noch zu sehen war.

Emmi lehnte ihre Stirn an die Fensterscheibe. Sie brauche diesen Blick. Sie brauche diese Weite und ihre Unbestimmtheit, sagte sie. Der Blick über die roten Ziegeldächer gebe ihr Gewissheit, die Richtung nicht zu verlieren.

Ob sie einen Tee machen solle, fragte sie und ging auf eine Tür zu, die ich bis dahin nicht wahrgenommen hatte. Die Tür war ganz und gar in die Wand eingefügt und mit Raufasertapete überklebt. Sie führte zu einer schmalen, aber langen Küche. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch. Auf ihm waren Bildbände über Bildbände gestapelt. Rechts vom Fenster ging eine Speisekammer ab, in der eine Matratze lag, neben der wiederum ein Fernseher stand.

Seit mir Emmi ihre Dachwohnung gezeigt hatte, ließ ich sie nicht mehr aus den Augen. Sie mich allerdings auch nicht. Ich spürte so etwas wie Verantwortung für sie. Lange konnte ich nicht sagen, warum.

Aber der Himmel war höher

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