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Zweites Kapitel: Dies war nur der Anfang

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1

Manchmal tauchen Täter auf der Beerdigung ihrer Opfer auf, um das Erlebnis ihrer Tat noch einmal auszukosten, sich den ultimativen Kick zu verleihen, bevor sich ihr Opfer endgültig vom Angesicht der Erde verabschiedet. Nur deshalb ist Schuchardt erschienen – und weil die Beisetzung im engsten Familienkreis stattfinden soll, fühlt er sich beinahe wie ein Spanner.

Der alte Erdmann ist nicht anwesend. Er sei untröstlich darüber, sagt seine Schwiegertochter. Die Hitze macht ihm zu sehr zu schaffen, es fällt ihm es sogar schwer, sich morgens zum Aufstehen zu überreden. Am liebsten würde er nur noch schlafen, seit Rebecca an diesem schicksalhaften Tag nicht nach Hause gekommen ist.

Schuchardt hat ein paar Beamte rund um diesen Teil des Friedhofs verteilt, um nach möglichen Verdächtigen Ausschau zu halten. Die Männer wie auch er selbst sind durch unauffällig am Körper angebrachte Sender und Empfänger miteinander vernetzt. Auf einem Parkplatz jenseits der Friedhofsmauer wartet ein sechsköpfiges Spezialteam auf ein eventuelles Kommando zum Zugriff auf einen oder mehrere verdächtige Besucher dieser traurigen Zeremonie.

Schuchardt hat Aaron vor der Beisetzung kurz beiseite genommen und ihn nach seinen kurzfristigen Plänen gefragt.

„Dieser geplante Konzert-Zyklus in Israel würde uns endgültig zu einem europäischen Big Player unter den Musikagenturen machen. Deshalb kann ich nicht länger als für weitere zwei Tage zuhause bleiben. Sie müssen das verstehen, ich trage die Verantwortung für mehr als dreißig Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen."

Schuchardt fragt ihn, ob die Familie Silberschmied Personenschutz haben will. Aaron verneint das, aber Schuchardt hat bereits dafür gesorgt, dass eine Streife in regelmäßigem Abstand an dem Haus im Westend vorbeifährt, die Lage prüft und nebenbei Polizeipräsenz verdeutlicht.

Ein Brief von Rebeccas Mitschülern wird vorgelesen, die Eltern und Moshe halten einander eng umschlungen, alle drei weinen herzzerreißend.

Schuchardt hört nur mit halbem Herzen hin. Nicht, weil er nicht mitfühlen kann; es ist nur so, dass er auf der Jagd ist, und er weiß, dass er sich die immerhin vorhandene Chance zur Ergreifung der Täter nicht entgehen lassen darf. Schließlich ist er noch weit von einem konkreten Verdacht entfernt. Ein paar düstere Ahnungen hat er, aber mehr ist da nicht, und das macht ihn beinahe krank.

Die vornehme Zurückhaltung der Medien wird nicht lange anhalten, bald werden sie ihm ebenso Feuer unter dem Hintern machen wie sein oberster Vorgesetzter es schon jetzt tut. „Schuchardt, der Innenminister will alle zwölf Stunden über den Fortgang unserer Ermittlungen informiert werden. Und ich bin der arme Hund, der ihn morgens und abends anrufen muss. Also halten Sie sich bitte ran!“ Als wenn er das nicht sowieso täte. Aber ich schlage nicht deine Schlachten, denkt Schuchardt, ich habe mein eigenes Bündel zu tragen.

Die enorme Hitze der vergangenen Wochen hat auch vor dieser Beerdigung nicht Halt gemacht. Der Kommissar hat vergessen, seine Wasserflasche zu füllen, und jetzt schmort er in der Mittagssonne und seine Zunge macht sich übergroß in seiner trockenen Mundhöhle breit.

Er schaut verstohlen auf die Uhr; anderthalb Stunden wird diese Zeremonie dauern, hat man ihm gesagt. Wenn das stimmt, hat er nur noch zwanzig Minuten Zeit, um einen oder mehrere Mörder zu erwischen.

Mit dem jungen Moshe Silberschmied wird es noch Schwierigkeiten geben. Er hat dem Kommissar vor dieser Bestattung den Handschlag verweigert und nur verächtlich geschnaubt, als das Thema der polizeilichen Ermittlungen angeschnitten wird. Er traut den deutschen Behörden nicht über den Weg, er ist ein Hitzkopf, und zu allem Überfluss lässt er sich zur Zeit vom israelischen Mossad als Agent ausbilden – alles zusammen genommen klingt das nach einer ganzen Menge Ärger. Schuchardt wird ihn im Auge behalten müssen, so, wie er bei diesem Fall mehr im Auge behalten muss als es sonst üblich ist; es sind eine Menge Emotionen im Spiel, und auch die wird er zu spüren bekommen. Moshe will übermorgen zurück nach Israel fliegen, und deshalb wird er ihm zumindest kurzfristig nicht in die Quere kommen. Eine Unbekannte weniger in dieser unübersichtlichen Gleichung, aber Schuchardt traut dem Frieden nicht.

Moshe hat nicht einmal einen Anzug mitgehabt, als er in Frankfurt ankam. Und weil die Zeit zu knapp war, sich einen schneidern zu lassen oder einen von der Stange zu kaufen, trägt er heute einen viel zu kleinen Anzug seines Vater. Hochwasserhosen sagten wir früher dazu, denkt Schuchardt überflüssigerweise. Man sieht die weißen Socken.

Die kleine Trauergemeinde bewegt sich langsam weg vom Grab in Richtung Ausgang. Keine Spur von einem Mörder, ein paar in versteckte Mikrophone geflüsterte Antworten bestätigen ihm, dass sich auch in einiger Entfernung vom Grab der verstorbenen Rebecca kein Verdächtiger gefunden hat. Schuchardt stößt einen leisen Seufzer aus und sagt den Beamten in und vor dem Friedhof, dass sie abziehen können. Es wäre auch viel zu schön gewesen.

2

In der Wolfsschanze ist es doch noch spät geworden, obwohl sich Richling eigentlich kurz fassen wollte. Aber nachdem die Stimmung sich gelöst hat, nimmt auch er ein – mittlerweile beinahe kühles – Bier und stößt mit seinen Spießgesellen an. Er ist ja im Grunde ein Einzelgänger, aber auch Solisten brauchen bisweilen ein wenig Gesellschaft.

Außerdem treibt ihn der bodenlose Leichtsinn, den die Bande bei der Ermordung des Judenmädchens an den Tag gelegt hat, immer noch um.

„Wir brauchen ein Ablenkungsmanöver“, ruft er Matthias zu, während aus einem Ghettoblaster Death Metal dröhnt und zwei der Jungs eine vollkommen talentfreie Tanznummer aufführen, die eher an betrunkene Derwische erinnert als an gute Deutsche. „Was?“

Richling deutet auf die Tür und geht voraus in den Garten. Sie setzen sich an einen grob gezimmerten alten Tisch und können in normaler Lautstärke miteinander verkehren.

„Ich will, dass der Vater des Mädchens stirbt, wie auch seine Frau. Ich will Erdmann alles nehmen, was er hat - und zuletzt wird er selbst dran sein.“

Er räuspert sich. „Aber dazu benötigen wir deutlich mehr Disziplin als bisher, sonst haben wir in Nullkommanix die Bullen der ganzen Stadt auf den Fersen.“

Matthias, der Banker, nickt. Er hat auch schon eine Idee, und diese teilt er dem Alt-Nazi jetzt mit.

„Vielleicht sollten wir beim nächsten Mal ein paar verräterische Dinge am Tatort hinterlassen, die anstatt auf uns auf irgendwelche Perser oder Palästinenser hinweisen. Das sollte nicht allzu schwer sein, oder?“

Richling hat selbst in diese Richtung gedacht.

„Mir schwebt etwas vor, das wir schnell, quasi aus dem Stand arrangieren können. Kein Mord, der benötigt eine längere Vorbereitungszeit. Wir müssen schnell handeln, bevor sich die Polizei auf uns Rechte als Täter festlegt. Sie vermuten vielleicht etwas in dieser Richtung, aber sicher können sie noch nicht sein. Nicht aufgrund von ein paar Schnitzereien. Sie brauchen Handfesteres, zum Beispiel ein öffentliches Bekenntnis zu der Tat oder eindeutige Beweise am Fundort der Leiche.“

„Aber was sollen wir tun? Sein Haus abfackeln?“

Richling grinst, wie er immer grinst, wenn er einen seiner weltbewegenden Einfälle hat.

„Spielt ihm einen Streich. Ein teuren Streich, meine ich. Weißt du, wo seine Spedition ihre Zentrale und ihren Fuhrpark hat? Oben in Fechenheim?“ Matthias verneint.

„Das ist ein riesiges Gelände, auf dem nachts mehr als vierzig Sattelzüge stehen, plus jede Menge Anhänger. Wer ein bisschen fix ist, der kann da einen gewaltigen Flurschaden hinterlassen.“- „Was meinst du?“ Er duzt Richling zum ersten Mal, und Richling ignoriert es, denn er will nicht als kleinkariert erscheinen.

„Kennt sich einer von euch mit Lastwagen aus?“

„Ja, Pelle, das lange Elend da drinnen. Er hat eine Zeitlang Kaufhäuser mit Brot und Gebäck aus einer Brotfabrik beliefert. Die ganz großen Brummer ist er dabei nicht gefahren, aber immerhin einen Siebeneinhalbtonner.“

„Das sollte genügen. Mein Vorschlag lautet, dass ihr morgen Nacht dort hinfahrt und sämtliche Reifen der dort stehenden Fahrzeuge zerschneidet. Manche der großen Laster haben sechs oder acht Reifen, in der Summe dürften es mindestens dreihundert sein, aber fünf Mann schaffen das in weniger als einer halben Stunde. Besorgt euch Macheten oder diese großen Messer, die Metzger oder Schlachter benutzen, dann müsst ihr pro Reifen nur einmal ordentlich zustechen.“

„Klingt machbar“, meint Matthias.

„Das ist noch nicht alles. Ihr werdet zusätzlich in jeden Dieseltank zwei oder drei Kilo Zucker oder Reis schütten, und bei den Wagen, bei denen ihr die Motorhaube aufkriegt, ein eine Ladung Metallspäne ins Motoröl. Nehmt Drahtscheren mit, manche Tanks haben Schlösser. Das Zeug löst sich zwar in Diesel nicht auf, aber er richtet trotzdem hübsche Schäden an Filter und Einspritzung an.

Ich hab´s noch nicht genau überschlagen, aber der gesamte Schaden dürfte in den sechsstelligen Bereich gehen. Und sein Betrieb steht für mindestens eine Woche still.“

„Wie wird der Laden bewacht?“

„Es ist in der Zeit von dreiundzwanzig Uhr bis vier Uhr morgens nur ein einzelner Pförtner auf dem Gelände, die Fahrer trudeln gegen halb fünf ein, und an der Rampe fangen sie erst um kurz nach fünf mit der Arbeit an. Der Nachtpförtner ist weit über sechzig und sitzt an der Schranke in einem Glaskasten gleich vorn bei der Einfahrt. Der Mann ist für uns besonders wichtig.“

Richling grinst wieder. „Er wird nämlich nach dieser Aktion jeden Eid schwören, dass es Araber waren, die ihn überwältigt und gefesselt haben.“

„Und wie stellen wir das an?“

„Das ist nicht schwer. Nehmt den Wagen und deckt die Nummernschilder ab, sehr wahrscheinlich gibt es im Eingangsbereich Kameras.

Ihr fahrt bis an die Schranke, und wenn der Mann euch über den Lautsprecher fragt, was ihr bringt oder was ihr holen wollt, steigen zwei von euch aus, gehen zu ihm in den Glaskasten und überwältigen ihn. Es gibt in der Frankfurter Innenstadt einen Kostümverleih. Besorgt euch dort ein paar falsche Bärte und schaut, ob ihr nicht ein paar von diesen Palästinenser-Kampftüchern auftreiben könnt. Knebelt ihn mit einem dieser Dinger. Schreit ihn an, so wie arabische Terroristen das tun würden. Schaut, dass ihr nach Knoblauch oder Kümmel stinkt. Aber ihr dürft nicht nach Alkohol riechen, das würde alles kaputtmachen. Ruft ein paarmal ,Allahu akbar‘, oder wie das heißt.“

Matthias schaut ein wenig skeptisch drein. „Meinst du, der fällt darauf rein?“

„Das wird er. Er steht unter Schock, sobald ihr ihn euch greift. Ihr müsst nicht zimperlich mit ihm umgehen, aber sorgt auf jeden Fall dafür, dass er am Leben bleibt, bis er gefunden und befreit wird. Der Mann und sein Bericht über den Anschlag sind für uns wichtiger als der ganze finanzielle Schaden, den ihr anrichtet, klar?“

„Klar.“

„Und seht zu, dass er nur die zwei von euch sieht, die verkleidet sind. Die Anderen bleiben solange im Wagen, bis ihr ihn gefesselt und auf den Fußboden gelegt habt.

Wenn dieser Kerl ein paar Stunden später erzählen soll, was passiert ist, dann wird er genau das tun, was wir vorläufig am dringendsten brauchen. Er wird Araber beschreiben, die den Laden eines Juden überfallen, der erst vor ein paar Tagen seine Enkelin durch einen schrecklichen Mord verloren hat. Das sollte uns für eine ganze Weile Ruhe vor ungemütlichen Nachforschungen verschaffen.“

Matthias muss anerkennen, dass der fette Richling mehr auf dem Kasten hat, als er gedacht hat. Diese Aktion kann den Fehler wieder wettmachen, den sie begangen haben, als sie ihre Visitenkarte in das Mädchen ritzten.

„Geld gibt es dafür keines, verstanden?“

„Klar, geht in Ordnung, Boss. Diese Party geht aufs Haus, wir haben uns diesen Schlamassel selbst eingebrockt. Ich werde das mit den Jungs besprechen und danach dieses Treffen beenden, damit morgen Nacht alle fit sind.“

„Gut“, sagt Richling. „Am besten macht ihr es nachts zwischen zwei und drei Uhr, dann ist der Pförtner müde. Ruf mich danach kurz an und sprich ein Losungswort auf meine Mailbox. ‚Adler‘, wenn alles geklappt hat, ‚Geier‘, wenn etwas schiefgegangen ist. Hast du das?“

„Das ist nicht so schwer“, antwortet der Kopf der kleinen Killerbande, und es klingt säuerlich.

Richling geht nicht mehr mit Matthias zurück in die Gartenlaube. Sein Job ist erledigt. Er hofft, dass nach der Ausführung seiner Prachtidee diese Kuh vom Eis ist.

Aber er denkt trotzdem auf der ganzen Heimfahrt an den goldgelockten Detlev und an Rocco, das Frettchen mit dem flinken Messer. Schlechtes Material für einen Staatsstreich – dazu benötigt man ein anderes Kaliber.

3

Es brodelt in Moshe, als er im Flieger nach Tel Aviv sitzt. Er hat mit dem Gedanken gespielt, in Frankfurt zu bleiben und selbst auf die Suche nach Rebeccas Mördern zu gehen. Dieser Kommissar macht nicht viel her, findet er. Kann man einen so wichtigen Fall nicht Ermittlern geben, die etwas kerniger im Auftreten sind als dieser kleine ältere Mann, der beim Sprechen kaum die Zähne auseinanderkriegt?

Kaum Spuren bisher, hat der Mann gesagt, und dabei ein bisschen verlegen ausgesehen. Als wäre er selbst schuld daran, dass es so ist - oder als lüge er. Schwer zu sagen, Moshe ist noch in der Grundausbildung, und in dieser gibt es das Fach Psychologie nicht. Er kann in dem Gesicht des Kommissars nicht lesen.

Moshe hat sich partout geweigert, den aufgebahrten Leichnam seiner kleinen Schwester noch einmal anzuschauen, so als würde er, wenn er es tut, ihren Tod anerkennen oder offiziell bestätigen. Er weiß, dass das unsinnig ist, aber er kann nicht heraus aus seiner noch dünnen Haut.

*

„Muss das denn wirklich sein? Ausgerechnet jetzt?“

Aaron Silberschmied hat seiner Frau Rachel gerade eröffnet, dass er schon sehr bald wieder auf Dienstreise gehen muss und für eine komplette Woche weg sein wird.

„Schatz, ich kann es nicht ändern. Das Management von Sting kommt mit immer neuen Forderungen zu uns, in den USA macht Lady Gaga Schwierigkeiten, Bruce Springsteen hat anscheinend einen Vorvertrag für eine US-Tournee unterschrieben, aus dem er nicht so einfach herauskommt. Und zwei oder drei andere Acts sind auch noch nicht in trockenen Tüchern. Gleichzeitig wollen die Israelis schon die Tickets drucken und mit dem Vorverkauf anfangen. Das reinste Chaos, und das kriege ich mit Telefon und Laptop nicht in den Griff.

Ich weiß, was ich dir zumute, glaub mir das bitte. Aber von mir hängt jetzt die ganze verdammte Veranstaltung ab. Da geht es um zig Millionen, und nicht zuletzt auch um sechs Millionen, die bei der Agentur hängen bleiben - ganz abgesehen vom Renommée, das wir mit Geld allem Geld der Welt nicht kaufen könnten.“

„Es ist trotzdem nicht richtig, Aaron. Wir haben gerade unsere einzige Tochter verloren. Wir wissen nicht, aus welchem Motiv heraus Rebecca sterben musste. Es könnte sich gegen die ganze Familie richten, vielleicht, weil wir Juden sind. Falls es das ist, sind wir und Moshe und dein Vater in Gefahr. Und du willst du ein solches Risiko eingehen? Für Geld?“

„Du verstehst es nicht, Rachel. Es geht um mehr als nur Geld. Es geht um unsere Zukunft und die Zukunft von dreißig Angestellten und deren Familien. Der Umfang dieses Projektes ist größer als nur ein Job oder ein Geschäft. Wenn wir beim gegenwärtigen Stand der Dinge einen Rückzieher machen, verlieren wir nicht nur Geld. Mit uns wird kein einziger ernstzunehmender Musiker und keine einzige überregional bekannte Band mehr reden. Wir sind dann geschäftlich gesehen mausetot und können den Laden ebenso gut dichtmachen.“ - „Wann müsstest du abreisen?“

„Eigentlich schon gestern, aber das konnte ich abbiegen. Ich muss morgen am Spätnachmittag im Flugzeug sitzen. Ich brauche zwei Tage für England und Schottland. Danach zwei Tage New York und zwei Tage Kalifornien. Ich wäre heute in einer Woche wieder zurück.“

„Gut, dann sprich bitte mit der Polizei und sag denen, dass ich in den nächsten sieben Tagen allein zuhause bin, ja? Unter diesen Umständen wäre es mir lieb, wenn sie ab und zu nach dem Rechten sieht. Mir ist die Vorstellung ein wenig unheimlich, dass hier ein Fremder klingeln könnte und du bist nicht da.“

„Das habe ich schon veranlasst, Schatz. Du bist hier so sicher, wie es nur menschenmöglich ist. So sicher wie in Abrahams Schoß“, fügt er lächelnd hinzu.

*

Als Moshe im Camp des Mossad ankommt, will sein Kommandant ihn umgehend sprechen.

„Kommen Sie rein, Moshe“, ruft er ihn in sein Büro. „Ich will Ihnen nochmals mein und unser aller Beileid aussprechen, aber setzen Sie sich bitte.“

„Danke, Herr Kommandant. Ich melde mich zum Dienst zurück.“ - „Langsam, langsam, ich habe Ihnen eine Woche Zeit gegeben, also haben Sie noch etwa zweiundsiebzig Stunden frei. Versuchen Sie den Kopf wieder frei zu bekommen, so schwierig das auch sein mag.“

„Ich denke…“

„Moment! Ich bin noch nicht fertig. Sie treffen sich morgen früh um acht Uhr dreißig mit unserem hauseigenen Psychologen. Er wird über Ihre Einsatzbereitschaft entscheiden; das letzte Wort liegt aber weiterhin bei mir.

Aber zuallererst wird er mit Ihnen zusammen versuchen, ein oder zwei Verhaltensregeln zu erarbeiten, die Ihnen dabei helfen sollen, diese schwierige Zeit zu überstehen. Und jetzt gehen Sie bitte auf Ihre Stube und schlafen Sie sich aus. Sie sehen furchtbar aus.“

4

Es ist erst halb sieben, aber der Tag ist schon jetzt ein gebrauchter Tag für Kommissar Schuchardt von der Frankfurter Kripo, der erst um zwei Uhr morgens einschlafen konnte und bereits jetzt in der Pförtnerloge von Erdmanns Spedition sitzt, lauwarmen Kaffee schlürft und sich die Einzelheiten über diesen krassen Fall von Vandalismus erzählen lässt. Das erfordert eine Menge Geduld, denn der alte Nachtpförtner ist immer noch außer sich und kaum dazu in der Lage, zwei zusammenhängende Sätze zu formulieren.

Ein eiliger Hintergrundcheck des Lebenslaufes von Bernhard Cullmann hat nichts ergeben. Seit siebenundzwanzig Jahren bei Erdmann beschäftigt, zuerst als Fahrer, doch nach einem schweren Unfall mit Todesfolge wird er von Erdmann an die Pforte seines Fuhrparks versetzt, wo er jetzt schon mehr als zehn Jahre vorwiegend nachts seinen Dienst verrichtet. Für die Polizei ist er ein unbeschriebenes Blatt, die Möglichkeit, dass er mit den nächtlichen Besuchern unter einer Decke steckt und sie freiwillig hereingelassen hat, ist nicht in Betracht zu ziehen.

Um zehn Minuten vor fünf hat man Schuchardt aus dem Bett geklingelt, aber nicht wegen eines Einbruchs in eine x-beliebige Firma, sondern deshalb, weil es sich um den Betrieb eines Mannes handelt, der vor weniger als einer Woche seine Enkelin durch einen – möglicherweise politisch oder rassistisch motivierten – Mord verloren hat; und weil der Einbruch und die Zerstörungswut der vergangenen Nacht in einer wie auch immer gearteten Beziehung zu dieser Untat stehen könnte.

Cullmann streckt dem Kommissar zum wiederholten Mal seine von der Fesselung aufgescheuerten Handgelenke hin, aber der kann auch nichts mit ihnen anfangen. „Wenn diese Tiere wenigstens Klebeband oder eine Wäscheleine benutzt hätten“, jammert er. Schuchardt versucht, mitfühlend dreinzuschauen und befürchtet, dass ihm das nicht so recht gelingt. Er ist zu müde für gutgemeinte Verrenkungen.

„Sie haben meinen Kollegen gesagt, dass es zwei Männer waren, richtig?“ - „Diejenigen von den Kerlen, die mich gefesselt und mit diesem widerlichen Lappen geknebelt haben, waren zu zweit, das stimmt. Aber ich habe der Streife auch gesagt, dass noch mindestens zwei weitere Männer im Auto saßen. Vielleicht sogar drei“, schiebt er atemlos hinterher. Cullmann hat ein fortschreitendes Lungenemphysem, das ihn bald genug arbeitslos und zuletzt völlig bewegungsunfähig machen wird. Ein schöner Gruß seiner Lunge an all die Zigaretten, die er in den letzten fünfundvierzig Jahren gequalmt hat.

Der „widerliche Lappen“ ist eines dieser arabischen oder palästinensischen Kampftücher, die man des Öfteren in den Fernsehnachrichten oder bei linken Demonstrationen sieht. Das sieht wie eine Visitenkarte aus, denkt Schuchardt.

„Nochmal zu dem Fahrzeug, eine schwarze Limousine, sagten Sie?“ - „Nichts dergleichen habe ich gesagt. Ich sagte nur dunkel. Schauen Sie mal hier raus. Sehen Sie die Laternenmasten vor und hinter der Schranke? Diese Funzeln verbreiten nachts ein diffuses gelbliches Licht, das alles, was im entferntesten dunkel ist, schwarz aussehen lässt.“

„Okay, aber bei einem Audi A8 sind Sie sicher, ja?“

„Felsenfest. Mein Bruder fährt so eine Karre, der ist Architekt und kann sich das leisten.“

Audi oder BMW… hatte das nicht die trinkfeste Zeitungsfrau gesagt, als sie das Fahrzeug von Rebeccas Entführern in Sachsenhausen beschrieb?

Aber das mag Zufall sein. Schuchardt kann sich nicht vorstellen, dass Kriminelle montags als Nazis verkehren und freitags als Palästinenser auftreten.

Trotzdem ist da irgendein Zusammenhang. Erdmanns Enkelin, Erdmanns Fuhrpark.

„Den Kollegen von der Streife haben Sie außerdem zu Protokoll gegeben, dass es sich vermutlich um Araber handelte. Warum?“

„Schwarze Bärte, und der eine rief ein paarmal ,Alla akba‘.“

„Alla akba? Nicht Allahu akbar?“

„Wenn ich es Ihnen sage, es war ,alla akba‘. Ich bin alt und meine Pumpe streikt manchmal – aber schwerhörig bin ich nicht.“

Schuchardt, der bedauerlicherweise nicht Orientalistik studiert hat, macht sich eine diesbezügliche Notiz. Er wird jemanden vom Fach fragen, ob es Dialekte oder dem Arabischen verwandte Sprachen gibt, sodass sich diese Diskrepanz erklären ließe.

„War das alles, oder kommt noch etwas?“ - „Derjenige, der vor mir stand, als sie mich fesselten, stank aufdringlich nach Knoblauch, vielleicht auch zusammen mit etwas anderem.“

„Ich rieche auch einmal in der Woche nach Knoblauch. Nämlich dann, wenn ich mein ,Pollo al Ajillo‘ beim Spanier meiner Wahl gegessen habe.“ Schuchardt kommt zwar auf leisen Pfoten daher, aber er kann stachelig werden wie ein Igel, wenn ihm etwas missfällt.

„Ich meinte ja nur…“ sagt Cullmann und ist sichtlich eingeschnappt.

„Das Kennzeichen des Wagens war abgedeckt, haben Sie den Kollegen gesagt. Sind Sie sich diesbezüglich absolut sicher?“

„Aber ja. Ich muss die immer aufschreiben, bevor ich jemandem die Schranke öffne. Das ist Vorschrift. Und Sie können das durch die Kamera im Eingang überprüfen. Die muss das Auto aufgenommen haben.“

„Sind Sie denn nicht stutzig geworden, als das Kennzeichen nicht lesbar war?“

„Doch, aber es ging alles sehr schnell, viel zu schnell, um den Alarm zu betätigen. Die Karre hielt, und drei Sekunden später waren die Kerle schon hier drinnen. Ich hatte überhaupt keine Chance, etwas zu unternehmen.“

„Gut“, Schuchardt steht auf und wirft den leeren Pappbecher in den Mülleimer neben der Kaffeemaschine, „wenn ich noch Fragen habe, melde ich mich. Sie können jetzt nach Hause fahren, wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen. Wenn nicht, findet sich sicher jemand, der Sie heimbringt. Die Fahrer Ihrer Firma haben ja heute nichts weiter zu tun, wenn ich das richtig verstanden habe.“

„Das können Sie laut sagen, hier steht erstmal alles still. Und es wird verdammt teuer.“

„Auf Wiedersehen, Herr Cullmann.“

Aber hoffentlich nicht so bald.

Schuchardts Laune ist erbärmlich an diesem Morgen. In seiner Wohnung kühlt es nachts höchstens auf achtundzwanzig Grad ab, das sind zehn Grad zu viel für einen erholsamen Schlaf. Das geht nun seit Wochen so, und es ist keine Abkühlung in Sicht.

Er macht noch einen Anstandsbesuch beim Fuhrparkleiter der Firma und erkundigt sich nach dem angerichteten Schaden. Der Mann ist ein einziges Nervenbündel. „Vierhunderttausend, fünfhunderttausend, vielleicht noch mehr. Da sind die Aufträge, die wir stornieren müssen, noch nicht einmal mitgerechnet. Es wird Wochen dauern, bis uns wieder alle Fahrzeuge zur Verfügung stehen. Ich versuche seit einer halben Stunde, unseren Versicherer zu erreichen, aber es ist ja auch erst sieben Uhr.“ Er schüttelt den Kopf und schweigt wieder. Dann springt er ohne Vorwarnung auf und schaut den Kommissar mit wild funkelndem Blick an. „Die gesamte Elektrik haben sie zerschnitten, die Tankdeckel sind abgerissen worden, es ist Zucker im Diesel. Und dann sind diese Schweine, pardon, hingegangen und haben pfundweise Eisenspäne ins Motoröl gekippt. Wer tut denn so etwas?“

Schuchardt hat erst vor ein paar Tagen dieselbe Frage aus dem Mund eines alten Pathologen gehört. Er murmelt etwas, das nach Bedauern klingen soll, und verbeißt sich wieder in die Frage aller Fragen. Wer hat Rebecca Silberschmied ermordet?

Ein durch und durch empörter Fuhrparkleiter setzt sich auf die Kante seines Schreibtisches und Schuchardt muss nun zu ihm aufschauen.

„Und dann noch die Reifen. Das war ein Blutbad. Nach einer ersten Schätzung brauchen wir dreihundert bis dreihundertfünfzig Stück von diesen, pardon, teuren Scheißdingern.“

Die Attacke auf Erdmanns Firma berührt den Kommissar nur insoweit, wie er irgendetwas Nützliches für seine Suche nach den Mördern eines jungen Mädchens herausholen kann. Gewalt gegen Sachen gehört nicht zu seinem Aufgabenkatalog, und kaputte Autos interessieren ihn nicht.

„Sie haben doch einen Teil der defekten Fahrzeuge selbst inspiziert. Ist Ihnen dabei irgendetwas untergekommen, das den Verdacht nährt, es könnte sich bei den Kriminellen um Araber handeln? Irgendetwas in dieser Richtung gefunden?“

Der Fuhrparkleiter schüttelt den Kopf, öffnet den Mund zum Sprechen, schließt ihn wieder, schüttelt erneut den Kopf. Er lebt seinen Alptraum, denkt Schuchardt resigniert.

„Gut, sagen Sie Bescheid, wenn Ihnen noch etwas einfällt.“ Wie vorhin beim Pförtner, hinterlegt er auch in diesem Büro seine Visitenkarte, die seine Mobilfunknummer trägt. „Zögern Sie nicht, mich anzurufen, wenn Sie mir noch etwas sagen wollen.“

Was hat er nun? Einen „widerlichen Lappen“, einen falsch klingenden arabischen Ausruf, ein bisschen Knoblauchgeruch im sensiblem Rüssel eines alten Pförtners.

Und natürlich die mutmaßliche Anzahl an Tätern bei dieser Aktion, die ebenso wie Modell und Farbe des benutzten Tatfahrzeuges Parallelen zur Entführung und Ermordung von Rebecca aufweisen.

Das ist nicht allzu viel, aber es ist mehr als nichts. Auch wenn die Augenzeugen sich widersprechen, wenn es an die Beschreibung der Täter geht. Hier ein großgewachsener Glatzkopf, dort Araber, die wie Taliban aussehen, wenn man nach Cullmann geht.

Ganz zuletzt instruiert er das Team, das die Spuren sichert. „Ich brauche alles, was ihr ausgraben könnt, Fingerabdrücke, Haare, einfach alles. Wenn es zu lange dauert oder es euch zu viel wird, erbittet euch Hilfe von den Kollegen in Offenbach oder Hanau.“

Als Schuchardt sich in sein Auto setzt und vom Hof des Spediteurs fährt, sieht er, dass der alte Nachtpförtner abgelöst worden ist. An seiner Stelle sitzt da jetzt ein jüngerer Mann, der aber für ihn nicht von Nutzen ist.

Der Kommissar fährt auf direktem Weg nach Hause, gibt seinem kleinen Kater frisches Wasser und Trockenfutter (Frischfutter trocknet fast augenblicklich ein bei diesen Temperaturen) und versucht danach, ein wenig Schlaf nachzuholen. Er ist erst vor dreieinhalb Stunden unsanft geweckt worden, aber er fühlt sich, als sei er drei Tage und drei Nächte unterwegs gewesen.

Nazis oder radikale Muslime? Beide hassen die Juden. Sind es die einen oder die anderen? Oder etwa beide? Arbeiten sie vielleicht sogar Hand in Hand gegen den gemeinsamen Feind? Warum Erdmann? Ist das alles eine Scharade? Versucht da nicht jemand, ihn nach Strich und Faden zu verarschen? Wahrscheinlich ist das so.

Schuchardt schläft fast augenblicklich ein. Nach einer Weile hüpft sein Kater zu ihm aufs Bett, kringelt sich neben dem Kopfkissen zusammen und tut es seinem Herrchen gleich. Dann ist für ein paar Stunden nur noch das Geräusch des Standventilators zu hören, der die Luft zwar nicht abkühlt, sie aber wenigstens in Bewegung versetzt.

5

Richling bastelt weiter an seinem Rachefeldzug. Er weiß zwar nichts von Aaron Silberschmieds gigantischem Event, das in knapp zwei Monaten an verschiedenen Orten in Israel stattfinden wird, aber er ruft unter falscher Flagge in dessen Agentur an und erfährt, dass der Vater der kleinen Rebecca praktisch direkt nach deren Beerdigung aus beruflichen Gründen für acht Tage nach England und in die Vereinigten Staaten fliegen musste. Und da er erst gestern aufgebrochen ist, bleibt Richling eine ganze Woche, um über seine nächsten Schritte nachzudenken.

Zuerst hat er an eine Autobombe gedacht, aber erstens sind seine Jungs wahrscheinlich viel zu dämlich, um so etwas zu Wege zu bringen, und außerdem steht zu vermuten, dass Silberschmied nur selten Auto fährt. Er wohnt im Westend, nahe der Innenstadt, und er hat auch seine Agentur im Erdgeschoss des Hauses untergebracht, in dem er lebt. Es könnte sich also als sehr langwierig erweisen, eine günstige Gelegenheit für einen Anschlag abzupassen. Zu allem Überfluss steht sein Jaguar in der rund um die Uhr verschlossenen Tiefgarage des Hauses und ist deshalb nur schwer zu manipulieren. Richling verwirft diesen Gedanken, es muss einfachere Wege geben, an den Mann heranzukommen.

Wenn man Matthias glauben kann, dann war der Überfall auf den Fuhrpark des alten Erdmann ein in jeder Hinsicht durchschlagender Erfolg. Ein kurzer Bericht in der „Frankfurter Rundschau“ scheint dies zu bestätigen. In dem Artikel wird eine Verbindung zwischen dem Mord und diesem Anschlag hergestellt, der Schreiber enthält sich aber weiterer Spekulationen. Das ist gut, meint Richling. Wenn man davon ausgehen kann, dass dieser Reporter Verbindungen zur Polizei hat, dann könnte es bedeuten, dass diese noch völlig im Dunkeln herumstochert. Es kann aber auch Taktik sein.

Wenn der Sohn Erdmanns auf Geschäftsreise ist, wird folglich seine Frau allein zuhause sein. Vielleicht sollte man sich zuerst mit ihr beschäftigen. Viel weiß Richling nicht über sie. Sie ist zweiundvierzig Jahre alt und auch nach zwei Kindern immer noch ein ziemlich heißer Feger, er hat einige Fotos von ihr bei Google entdeckt. Er muss Matthias und seine Bande anweisen, die Finger von ihr zu lassen, wenn sie sie kaltmachen. Eine Vergewaltigung wie bei dem Kind geht vielleicht einmal gut, aber sie kann auch zu Problemen führen. Zu groß ist die Gefahr, gestört zu werden oder verräterische Spuren zu hinterlassen.

Wie ihr Gatte arbeitet auch Rachel Silberschmied im Event-Bereich, organisiert aber keine Rock- oder Popkonzerte und Musikfestivals, sondern Hochzeiten und Mega-Partys von Prominenten oder von Leuten, die sich für prominent halten. Dabei ist sie viel unterwegs, allerdings kaum über die Stadtgrenzen hinaus. Man wird sie eine Weile beschatten müssen, am besten soll der Lange das bewerkstelligen. Er sieht aus wie die personifizierte Unschuld. Matthias hat ihm in der Wolfsschanze erzählt, dass sie ihn schon des Öfteren als Spion eingesetzt haben, und dass der Mann das in aller Regel auch ordentlich hingekriegt hat.

Der Lange, dessen Namen er sich nicht gemerkt hat, ist ein wenig auffälliger Bursche (wenn man von seiner immensen Körpergröße absieht) von vielleicht dreißig Jahren; er ist halbwegs vernünftig gekleidet und mit ordentlichen Manieren ausgestattet.

Man kann keine Gestalten wie das Frettchen auf einen solchen Job ansetzen, das Frankfurter Westend ist eines der wohlhabendsten Viertel der Stadt, und da kann man keine abgerissenen Tagediebe hinschicken, denn die fallen auf und machen die Anwohner misstrauisch.

Richling macht sich eine diesbezügliche Notiz. Er wird später am Tag eine Telefonzelle am Stadtrand von Bad Homburg aufsuchen und Matthias anrufen. Sie wollen über die Gage verhandeln, und dieser hat schon angekündigt, dass der nächste Mord teurer werden wird.

Ihm macht das ein paar Bauchschmerzen, denn seine Reserven reichen nicht bis in alle Ewigkeit. Von dem, was die Gerichte seinerzeit nach der Verurteilung seines Vaters übrig gelassen haben, sind allenfalls noch dreihundertachtzigtausend Euro in Wertpapieren übrig. Wenn die aufgebraucht sind, kann er die – zugegebenermaßen ziemlich verwahrloste – Villa in bester Taunuslage verkaufen und irgendwohin zur Miete ziehen. Um die Dinge, die ihm wichtig sind, nicht wegwerfen müssen, muss irgendwo in erreichbarer Nähe eine Garage oder einen Lagerraum mieten. Damit wird ihm der Auszug aus der Villa nicht mehr so schwer fallen.

Er hat das Gift des Hasses lange in sich getragen, ohne es überhaupt zu wissen. Erst als er vor drei Wochen in diesem verdammten Hotel den alten Seligman wiedersah, der jetzt den deutschen Namen Johannes Erdmann verwendet, sind bei ihm alle Dämme gebrochen. Er wird nicht ruhen, bis er diesen beschissenen Juden fertiggemacht hat.

„Den Juden kann man nicht ausrotten, der kommt immer wieder. Über die Jahrhunderte und Jahrtausende kommt er immer und immer wieder, und nichts und niemand wird ihn daran hindern.“

Richling hört wieder die Stimme seiner Mutter, wenn sie abends in ihrem Lieblingssessel neben dem Kamin saß und strickte, oder – öfter noch – wenn sie sonntags die Zeitung las. „Schau dir doch nur die Börsen an, jeder dritte Banker ist Jude, und jeder zweite Regisseur oder Produzent in Hollywood, jeder zweite Zeitungsmogul. Sie sitzen längst wieder an den Schalthebeln der Macht und niemand unternimmt etwas dagegen.“

„Auch unsere Familie hat er vernichtet, deinen Vater hat er umgebracht, der Jude. Dich hat er zum Halbwaisen gemacht und mich zur Witwe.“

Das Gift tröpfelt ganz unmerklich in Herz und Hirn den jungen Richling, in kleiner, aber stetig verabreichter Dosierung. Hass kann geduldig warten, bis er irgendwann Früchte trägt. Hass kennt kein Verfallsdatum.

5

Als Schuchardt wieder zu sich kommt, ist Dana da. Und Dana hat klare Absichten mitgebracht.

Sie ist ohne Vorankündigung gekommen. Dana und er treffen sich seit etwa anderthalb Jahren ein- oder zweimal monatlich, betrinken sich in der Regel gepflegt und landen irgendwann in seinem Bett. Dana hat einen Schlüssel für seine Wohnung, denn wann immer er beruflich oder privat unterwegs ist, füttert sie Bobby, seinen halbwüchsigen Kater.

„Wasser“, krächzt Schuchardt, und windet sich irgendwie unter ihren schweren Brüsten heraus, um nach seiner Flasche zu greifen, die auf dem Nachttisch steht. Er trinkt sie mit ein paar Schlucken leer und lässt sich zurück aufs Kissen sinken.

„Was verschafft mir das unerwartete Vergnügen?“ – „Erzähle ich dir später.“ Auch gut.

Sie lieben sich ohne Eile, aber wie meistens sehr aufs Wesentliche fokussiert. Sie hat ihm gesagt, dass sie es so haben will und für ihn ist das in Ordnung.

Dana war etliche Jahre lang rund um den Globus als Fernsehreporterin vor allem in Krisen- und Kriegsregionen unterwegs, ein Job, „in dem man Quickies zu schätzen lernt“, wie sie ihm schon bald nach ihrer ersten Nacht eröffnet. „Es fällt einem schwer, stundenlang herumzuspielen, wenn einem jederzeit die Kugeln um die Ohren fliegen können.“

Sie kokettiert auch gern damit, dass sie schon auf allen Kontinenten des Planeten Erde Männer gehabt hat, „mit Ausnahme der Antarktis, aber das ist nur eine Frage der Zeit.“ Sie mag es auch etwas härter, wie sie sagt. Daran musste er sich gewöhnen, aber „du machst das schon sehr ordentlich“, hat sie ihm nach den ersten vier oder fünf Malen mit großem Ernst versichert, ohne dass er ausdrücklich auf einem Zeugnis bestanden hätte.

All das führt dazu, dass er nach höchstens fünfzehn Minuten kaum bekleidet in seiner kleinen Küche steht und die Kaffeemaschine in Gang setzt.

Danas Timing ist heute nicht das Beste. Sie hat angerufen und ihm Nachrichten über WhatsApp geschickt, aber Schuchardt hatte aus gutem Grund sein Handy ausgeschaltet; und so hat sie eben Tatsachen geschaffen und ist gekommen, ohne sicher zu sein, ob er zuhause ist.

Er muss nachdenken, und das sagt er ihr, als er mit zwei Bechern Kaffee zurück ins Schlafzimmer kommt. „Kein Problem, das weißt du doch.“ Ihr Mann hat sie wieder gelangweilt, deshalb muss sie raus, um sich etwas Abstand und einen kleinen Kick zu verschaffen. Im Westend nichts Neues, sozusagen.

Gedankenverloren zieht er mit dem Zeigefinger die große Narbe an ihrer rechten Wade nach.

„Sarajewo“, sagt sie, „kurz vor Ende des Bosnienkrieges.“

„Eine Kugel?“

„Nein, ein Granatsplitter. Ich war noch ein junges Huhn in meinem Job, und eines Morgens lag ich mit drei amerikanischen Kollegen hinter einem Müllcontainer, weil wir zu einem Interview bestellt waren und plötzlich ins Kreuzfeuer gerieten.“ Sie lacht.

„Glaube es, oder glaube es nicht. Der Bezirk lag unter Beschuss durch serbische Paramilitärs - und ich musste dringend pinkeln.“

„Ja, und?“

„Auf der anderen Seite der Straße gab es ein leerstehendes Hotel mit funktionierenden Toiletten, und ich war der Meinung, dass man ruhig ein gewisses Risiko auf sich nehmen kann, um zu verhindern, dass drei wildfremde Männer einem beim Verrichten seines Geschäftes zuschauen.

Als ich auf halbem Weg über die Straße war, explodierte eine Mörsergranate direkt vor diesem Container. Später erfuhr ich, dass einer der drei Kollegen dabei getötet wurde.

Ich hab dieses Souvenir mitgenommen und danach in solchen Situationen nicht mehr lange überlegt.“

„Glaube ich dir unbesehen.“

„Woran arbeitest du im Moment?“ Ihr betont beiläufiger Tonfall verrät ihm, dass sie es längst weiß, ihn aber ein wenig aus der Reserve locken will.

„Nichts, das du verwenden könntest.“

„Sexualmord oder Nazis?“

„Vielleicht beides, und jetzt ist es gut“, sagt er. Sie haben ein ungeschriebenes Gesetz, das es ihr verbietet, ihn auszuspähen, aber er hat Verständnis dafür, dass ab und zu ihre Reporter-DNA mit ihr durchgeht. Sie lächelt. „War einen Versuch wert. Kommst du klar mit dem Druck?“

„Im Moment geht es noch, wir stehen ja erst am Anfang. Noch einen Kaffee?“

„Danke, lieber einen Eimer Wasser. Den Kaffee schwitzt man sofort wieder aus.“

Er holt ihr ein Glas Wasser und für sich selbst ein kaltes Bier. Wenn es heute Abend nichts weltbewegend Neues in seinem Fall gibt, wird er nicht mehr in seine Dienststelle fahren. Morgen will er dem alten Erdmann einen Besuch abstatten und ihn drauf abklopfen, ob er weiß, wer ihm an die Wäsche gehen will. Immerhin ist er der einzige gemeinsame Nenner bei diesen beiden Taten.

Der Mann soll sagenhaft reich sein, aber die Entführer seiner Enkelin haben sich nicht gemeldet, um Lösegeld zu erpressen. Sie haben sie stattdessen auf grausamste Art hingerichtet. Die Erpresserspur fühlt sich deshalb vollkommen kalt an.

Auch der Fall von Vandalismus weist in eine andere Richtung. Jemand will dem alten Spediteur psychischen und materiellen Schaden zufügen, hat aber offenbar nicht das geringste Interesse daran, sich dadurch selbst zu bereichern.

„Du hast keinen Appetit auf eine zweite Runde?“ Während sie das fragt, fängst sie bereits an, Slip und BH zu suchen.

„Nur in einem Sauerstoffzelt. Eine zweite Runde würde mich sonst umbringen“, sagt er.

„Du lässt mich aber noch duschen, oder?“ - „Dumme Frage, natürlich.“

Während Dana ins Bad geht, schaut sich Schuchardt auf seinem Smartphone die eingegangenen Nachrichten an; es sind Dutzende. Er ist kurz nach neun Uhr eingeschlafen, Dana kam gegen drei, und inzwischen ist es vier geworden. Sieben Stunden vom Tag fehlen ihm. Aber was kann er dafür? Ganz ohne Schlaf geht es nun mal nicht.

Er versucht so gut wie möglich, die Leute zu beschwichtigen, die er verpasst hat, dann kommt Dana und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich gehe noch für zwei Stunden ins Schwimmbad. Dir wünsche ich eine erfolgreiche Jagd.“

Wie immer trennen sie sich ohne großes Zeremoniell, ohne Verabredung zu einem nächsten Mal, ohne Verlegenheit. Wir sehen uns, wenn wir uns sehen. Das ist ihr gemeinsames Mantra. Und es ist gut so, wie es ist, solange die Rechnung für jeden von ihnen aufgeht.

Hitzeschlacht

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