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Behrendt ermittelt

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Niels Behrendt hat das Zimmer der Johannsens erreicht und ist unbemerkt hineingekommen. Die bewusstlose und an Kanülen angeschlossene Frau im Bett gibt dem Ermittler zu denken, Vernehmung also unmöglich. „Herr Johannsen, Entschuldigung, aber ich müsste dringend mit ihnen reden. Mein Name ist Behrendt, Niels Behrendt vom LKA Hamburg.“ Frieder Johannsens Worte hatte er vorher noch gehört und seinem Blick folgend auch den Raben am Fenster entdeckt. Als ob sich das Tier ertappt fühlt, flattert es hektisch davon. Niels Behrendt kann ein kurzes, beklemmendes Gefühl nicht unterdrücken. „Herr Johannsen…“, doch der regt sich nicht, schaut wie gebannt aus dem Fenster, wo eben noch der große schwarze Vogel saß. Ein sanftes Vibrieren mit einem kurzen Piepen signalisiert den Eingang einer SMS, die Behrendt mit drei Klicks an seinem Handy öffnet. Die SMS von Struck war schnell gelesen: „Nichts Neues, nichts was du wissen musst oder nicht schon weißt, Gruß BS.“

Erst nach der dritten Ansprache reagierte der 68-jährige. „Ja, gut, ich verstehe. Gehen wir nach draußen, reden wir.“ Ein paar Flügelschläge weiter landet der Kolkrabe wieder bei IHM auf der Bank. Das Buch liegt nun zugeschlagen unter seiner großen rechten Hand, in die Linke pickt der Vogel, als ob er auf sich aufmerksam machen will.

„Christoph, komm jetzt sofort hierher!“, ruft Ulrike Gebhardt ihren Sohn, „Christoph!“, ihre Stimme klingt nun schon ein wenig hysterisch, während sich die 32jährige suchend am Waldrand der Jüthornstraße umsieht. Nur einen kleinen Moment hat sie auf den Vierjährigen nicht geachtet und jetzt ist er nicht mehr zu sehen. Hinter der großen Kastanie nähert sich der Junge neugierig dem seltsamen Mann mit dem großen Vogel. Vorsichtig setzt Jan einen kleinen Schritt vor den anderen. Der Rabe blickt ihm direkt in die Augen. „Wer bist du?“, fragt er den Mann, „ist das dein Vogel?“ Nun schaut auch ER von seinem Buch auf, langsam, wie in Zeitlupe fixiert ER den kleinen Burschen vor ihm. „Oh, wie fein, oh, oh, wir haben Besuch“, summt er mit einer sonoren Stimme, „Raberus, willst du dich nicht vorstellen?“, fordert er den Vogel auf, der unbeweglich auf seiner Hand sitzen bleibt und weiterhin den Jungen anstarrt. Nun hält Raberus kurz den Kopf schief, als wolle er lauschen oder eine andere Perspektive ausprobieren. Dann folgt plötzlich ein schrilles Krächzen und der Rabe breitet seine Flügel aus. Vor Schreck lässt Christoph seine kleine blaue Plastikschaufel fallen und läuft schnell zurück. „Du sollst nicht alleine durch die Gegend laufen!“, fährt ihn seine Mutter an, die fest seine kleine Hand ergreift. Sich wieder sicher fühlend blickt Christoph noch einmal über seine Schulter zurück zur Kastanie. Der Mann und der Rabe haben ihn nicht aus den Augen gelassen. „Da ist ein Mann mit einem großen schwarzen Vogel, wollte nur mal gucken“, erklärt Christoph. Ulrike Gebhardt schaut ebenfalls hinter sich und sieht den großen Mann mit dem Hut auf der Bank von der Seite. Irgendwie wirkt er unheimlich für sie. „Bleibe weg von solchen Leuten“, sagt Ulrike, während ihr aus unerklärlichen Gründen ein Schauer über den Rücken läuft. „Oh, oh, fein, fein, wie interessant, wie eindrucksvoll“, summt ER, „es wird sich alles ändern, so auch für Euch, doch noch nicht sofort.“ Nun widmet ER sich wieder dem Buch der Bücher. Raberus flattert kurz auf und bringt ihm die kleine blaue Kinderschaufel. Ohne hinzuschauen berührt ER die Schaufel und nickt kaum wahrnehmbar sanftmütig mit dem Kopf.

15:00 Uhr. An die Tatorte in der Speicherstadt erinnern am Nachmittag nur noch Absperrbänder. Aber immer noch sind viele Beamte unterwegs. Jeder wusste, dies ist was Besonderes, keine Routine, kein Kneipentotschläger oder der Mord aus Eifersucht, kein Raub, kein Überfall, keine Sexualtat. Niemand quengelt wegen der anfallenden Überstunden. Die Hunde waren vor einigen Stunden abgezogen worden. Ein guter Spürhund kann nur 2 bis 3 Stunden eingesetzt werden, dann ist die Konzentration aufgebraucht und der Spielbetrieb vorerst ausgelebt.

Niels Behrendt erfährt von Frieder-Ludwig-Peerfried Johannsen viel über das Leben von Roswitha-Liselotte und über die Johannsens. Doch zum Tatablauf am gestrigen Abend erhält Niels keine neuen Informationen. Er ahnt nach diesem intensiven Gespräch, das er auch von Friederike-Liselotte Johannsen nicht mehr erfahren wird, wenn sie wieder ansprechbar ist. Bevor er sich den kritischen Fragen seines Dezernatsleiters stellt, fährt Behrendt nach dem Gespräch mit der U-Bahn zu den Landungsbrücken. An einem Imbiss versucht er seinen Appetit mit einer Bockwurst zu wecken. Doch das glückt nicht, die angebissene Wurst landet mit dem Brötchen im Müll. Zum Becher Kaffee zündet er sich nachdenklich eine Zigarette an und lässt die vor ihm liegende Speicherstadt mit Blick von der Promenade auf sich wirken. Die Wege und Brücken sind wieder freigegeben, das späte Nachmittagslicht kündigt den Abend an. Im Hintergrund seines Verstands, der sich mit den Puzzle-Teilen des spärlichen Wissens beschäftigt, arbeitet auch Niels Behrendts Instinkt auf Hochtouren. Es kommt aber kein Resultat zustande. Niels drückt den Glimmstängel aus und macht sich auf den Weg ins Präsidium.

Asmaradana Delima Suria Johannsenputri joggt noch vor dem Morgengrauen im 10.000 Kilometer entfernten Singapur durch ihren Lieblingspark, als sie plötzlich innehält. Eine heftige Beklemmung mit Nervosität und einem unbestimmten Gefühl der Angst ergreift von ihr Besitz. „Verdammt“, flucht die gertenschlanke, durchtrainierte junge Frau mit dem modischen Kurzhaarschnitt. Solche Gefühle kannte die hübsche Halbasiatin überhaupt nicht. Sie war auch in kritischen und gefährlichen Situationen immer besonnen und mit sich im Reinen. Sie „ruht in sich“, wie es heißt. Doch in diesem Moment überkommt sie blitzartig ein unbegreifliches Gefühl des Entsetzens wie ein überraschender Stich in den Leib. Irritiert setzt sie sich ins feuchte Gras und macht Atemübungen. Sie lauscht in sich hinein und versucht diesen, ja, wie soll man sagen, diese Art „Anfall“ zu verstehen. „Ist es Stress?“, fragt sie sich und schüttelt ihren Körper durch. Einige Minuten später schon läuft sie graziös wie eine Raubkatze auf leichten Sohlen weiter und vollendet ihre allmorgendliche 5 Kilometer-Tour. Die seltsamen Schreckminuten sind wenig später schon vergessen. Die pulsierende fünf Millionen Menschen beherbergende Metropole sog sie wieder in sich auf.

18:00h. Joachim Bruckfels fängt seinen Ermittlungsleiter auf dem Flur ab, als Niels zurückkehrt. „Bring mich bitte mal auf den aktuellen Stand, die Presse steht Kopf“, bittet Joachim Bruckfels. Im Raum 320 sind zwischenzeitlich Tische, Computer und große, noch weitestgehend leere Schautafeln aufgestellt worden. Hier ist nun das gemeinsame Büro der Soko untergebracht. „Wie hast du die Soko zusammengesetzt?“ fragt Niels zurück. Bruckfels schaut auf einen Notizzettel „OK, wir haben Ludger Schulz, Inger Hansen, Nadine Wasmuth, Karmen Westphal, Rolf Sturm. Drei oder Vier werden noch hinzu kommen, aber durch die Fahndungen und Ermittlungsmaßnahmen im Bereich Terrorismus sind unsere Möglichkeiten sehr eingeschränkt.“ Wortkarg wie immer nickt Niels, und Bruckfels hakt nach: „Habt ihr in der Wohnung Hinweise entdeckt, die uns weiterbringen oder erzählt Johannsen etwas?“ Mit frustriertem Gesichtsausdruck schüttelt Niels den Kopf. „Weder noch, Johannsen hat definitiv keine Erklärung und seine Frau ist nach wie vor nicht ansprechbar. Frauke Asmus passt auf dem ersten Blick überhaupt nicht ins Bild. Aber irgendwo, da bin ich mir sicher, besteht ein Zusammenhang. Wenn sich der oder die Täter ihre Opfer aber spontan ausgewählt haben und es keine Beziehung gib, stehen wir vor einem nahezu unlösbaren Problem. Dann wird es auch weitere Opfer geben.“ Bruckfels sieht seinen Kollegen ernst an, denn dieser fürchterliche Gedanke war ihm auch schon gekommen. Hansen, Sturm, Wasmuth und Westphal richten gerade ihre Schreibtische ein, deren Telefone jedoch schon abwechselnd klingeln. Die sehr dünnen Spuren und Erkenntnisse füllen langsam die Schautafel am Ende des Konferenzraums. „Leute, einen kleinen Moment bitte“, ruft Niels und berichtet kurz vom Besuch in der Asmus Wohnung und seinem Gespräch mit Peerfried Johannsen. Joachim Bruckfels geht langsam nach vorne, den Blick fest auf seine Leute gerichtet. „OK, wir müssen also zunächst noch kleine Schritte und akribische Polizeiarbeit machen. Neben allen persönlichen Dingen von Frauke Asmus werden wir auch die Leben von Roswitha Johannsen und Jan Bukowski durchsieben. Wir sichten alles, Familie, Schule, Wohnorte, Vereine, Hobbys, ehemalige Liebhaber und Liebhaberinnen, Affären, Freunde und ganz besonders das nicht Auffällige wird hinterfragt. Ihr lest jeden Brief, den ihr findet, analysiert die Fotoalben, Werdegang und so weiter. Den Bruder und die Eltern von Jan Bukowski befragen wir schnellstmöglich in Kiel. Wo, wie und wann genau haben sich Jan und Roswitha kennen gelernt. Schreibt alle Daten und Fakten in eine Übersichtsliste, die ihr immer bei Euch habt. Vielleicht spielt das Datum oder die Uhrzeit der jeweiligen Taten eine Rolle, oder die Geburtsdaten, die Einschulungsdaten oder was auch immer, von mir aus auch die Blutgruppe. Irgendeinen Zusammenhang, irgendeine Beziehung muss es geben.“ Hauptkommissar Ludger Schultz regt sich und fragt mit verhaltener Stimme: „Und wenn es sich um wahllos gesuchte Opfer handelt? Vielleicht will uns jemand beweisen, dass es den perfekten Mord oder die perfekten Morde gibt. Hallo, ich steche sie alle ab und ihr kriegt mich nicht.“ Behrendt wendet seinen Blick in die Runde und nickt: „Ja, dieser Gedanke ging uns auch schon durch den Kopf. Das würde dann auch zum Mord an Frauke Asmus passen. Sie wurde ja ermordet, nachdem die Gegend ganz genau abgesucht wurde und immer noch Beamte mit und ohne Uniform genau dort unterwegs waren. Vielleicht hat der Täter diese Nähe und den Zeitpunkt aus diesen Gründen gewählt. Ist das so, dann haben wir es mit einem Serientäter zu tun, der morgen, übermorgen oder nächste Woche weitermachen wird. Für den ist das Morden ein Hobby, ein Wettstreit mit uns. Der wird nicht einfach aufhören.“ Bruckfels denkt kurz nach. Im selben Augenblick läuten zwei Telefone auf einmal. Hansen und Westphal gehen ran und beide verlieren jegliche Gesichtsfarbe. Blass geworden hören sie anscheinend die gleiche Mitteilung und schauen sich entsetzt gegenseitig an. Westphal dreht sich noch während des Telefonats mit einem gequälten Gesicht zu Bruckfels und Behrendt, um die unheilvolle Botschaft in den Raum zu rufen: „Nachricht von der Einsatzzentrale und von der Kripo: die Eheleute Johannsen sind tot, sie starb im Krankenbett, er liegt mit durchschnittener Kehle ohne Kopf auf einer Bank im Jüthorn-Wäldchen!“ Für fünf Sekunden macht sich blankes Entsetzen im Raum breit. Karmen Westphal ergänzt die Schreckensbotschaft: „Vom Revier Wandsbek und aus Horn sind zwölf Beamte vor Ort und sichern die Tatorte, die SpuSi ist benachrichtigt“, ergänzt die erfahrene Hauptkommissarin mit einem Blick in die fassungslosen Gesichter der Kollegin und ihren Kollegen. Behrendt greift zur Zigarette und Bruckfels findet als erster die Worte zurück, „Niels, am Tatort kannst Du momentan nichts machen, wir beide fahren zu Johannsens nach Hause. Ihr fahrt ins Krankenhaus“, wendet er sich an Sturm, Hansen, Wasmuth und Westphal. Joachim Bruckfels schaut auf seine Uhr, 18:50Uhr, 14. Mai 2014.

Ludger Schulz, Nadine Wasmuth, Rolf Sturm und Inger Hansen, zwei erfahrene Ermittler mit Instinkt und zwei junge Kollegen bzw. Kollegin mit Eifer und dem Willen voranzukommen. „Ja, das passt“, denkt Joachim Bruckfels, „Nadine!“ ruft Behrendt, bevor alle aus dem Raum gestürmt sind. „Nadine, Du fährst bitte noch heute nach Kiel zu den Eltern von Jan Bukowski. Wir müssen alles über den jungen Mann erfahren.“ Nadine nicht, „OK Chef, ich hole mir kurz den ersten Eindruck vor Ort und fahre dann gleich weiter.“

Niels Behrendt klickt sich durch sein altes Handy und wählt die für ihn wichtigste Nummer. „Ja, Hallo Bernd“, ruft er in sein Siemens Gerät, „hast Du vom Tod der Johannsens gehört? Ja, hm, gut. Danke. Können wir uns um 22 Uhr hier treffen? Bruckfels und ich fahren zu Johannsens nach Hause und werden unterwegs von Schulz oder Hansen informiert, die fahren mit Karmen Westphal ins Krankenhaus. Gut. Dann treffen wir uns noch mal heute gegen 22 Uhr“, beendet er das Gespräch und informiert Joachim Bruckfels: „Bernd Struck ist benachrichtigt worden und schließt sich dem SpuSi Team vor Ort an. Er kann sein Wissen aus den vorangegangenen Untersuchungen einfließen lassen.“ „Ja“, entgegnet Bruckfels nachdenklich, „das macht Sinn und wir brauchen sinnvolle Aktionen. Wo wohnen die Johannsens? Augenblick“, Bruckfels greift zum Telefon und mit einem kurzen Anruf organisiert er die genaue Adresse und ordert gleichzeitig von Beamten im Krankenhaus die Hausschlüssel von Johannsen. „Auf nach Blankenese“, mit jovialen Ton versucht der Dezernatsleiter seinen Chefermittler aufzumuntern, doch Niels ist noch wortkarger als bisher. Im Auto bemüht sich Niels das Grübeln einzustellen und sich abzulenken. „Bist du noch verheiratet“, fragt er seinen Vorgesetzten, mit dem ihm eine enge Kollegialität verbindet. „Ja, noch klappt das und Isabella ist schon in der zweiten Klasse“, schmunzelt Bruckfels. „Aber wenn wir das hier nicht schnell in den Griff kriegen, dann könnte es mir wie vielen anderen ergehen. Und bei Dir?“ Niels Behrendt überlegt kurz. „Eigentlich ist alles bestens, meine Frau und ich, na ja, meine Ex-Frau und ich verstehen uns heute besser, als während der Ehe. Es funkt nicht mehr und die Schmetterlinge sind schon längst ausgeflogen, aber die Freundschaft ist sehr eng und intensiv.“ Bruckfels nickt und geht nicht weiter ins Thema. „Was signalisiert dir deine Schnüfflernase?“, fragt er stattdessen. „Um in deinem Sprachgebrauch zu bleiben“, nun lächelt Behrendt tatsächlich einmal, wenn auch nur einen Hauch, „dann gibt es momentan zu viele Gerüche, die sind noch nicht analysiert und zugeordnet. Aber ein Gestank ist auffällig und der riecht nach ganz dicker Kloake. Eine Kloake, der man eigentlich nicht auf den Grund gehen will, weil man dran ersticken oder untergehen kann. Und das macht mir Angst. Ein Gefühl, das ich schon seit Jahren nicht mehr kenne.“ Wenig später schon erreichen sie in Bruckfels Dienstwagen, einem flotten Audi A-6, den Stadtteil Blankenese.


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