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EINS

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Dienstag, 16. Juni 1970

DER FEINE HERR IM ANZUG spendierte dem heruntergekommenen Mann im Café Breslau die dritte Runde Molle mit Korn. Der Schluckspecht konnte sein Glück kaum fassen. Es war noch früh am Abend, und die Tische waren übersichtlich besetzt. Gegenüber, vor dem Rathaus Friedenau, stand ein Chor ältlicher Damen der Heilsarmee. Sie sangen mit brüchigen Stimmen kirchliche Lieder. Wenige Passanten blieben stehen. Die meisten hasteten nach Hause, um den Feierabend zu genießen. Andere interessierten sich mehr für die weltlichen Angebote rund um den Breslauer Platz und die Rheinstraße. Auf ein Zeichen hin füllte der Wirt die leeren Gläser mit Schultheiss Pilsener und öffnete eine neue Flasche Korn. Dem Inhaber der Kneipe war es gleichgültig, wer die Rechnung bezahlte. «Solange der Sesselfurza blecht, is mir dit recht», murmelte er in seinen nicht vorhandenen Bart und servierte dem ungleichen Paar am Ende des Tresens eine neue Runde. Normalerweise verwies er derart abgehalfterte Typen sofort aus der Kneipe. Wer von dem obdachlosen Pack meinte, diskutieren zu müssen, bekam schnell einen Satz warme Ohren.

«Schon ma wat von Seife jehört?», blaffte er den Mann mit dem eingefallenen Gesicht und dem beeindruckenden Trinkerzinken an, der gierig den Korn in sich hineinkippte und anschließend den letzten Tropfen im Schultheiss versenkte. Ohne eine Antwort zu erwarten, notierte der Wirt mit einem Bleistiftstummel zwei weitere Runden auf dem Deckel des Anzugträgers. Dann klemmte er sich den Stift hinters Ohr, begab sich ans andere Ende des Tresens und spülte Gläser. Ihn interessierte nicht, welchen Geschäften die beiden nachgingen. Der Mann mit dem eleganten Anzug war in den letzten Wochen häufig mit abgerissenen Typen im Café Breslau erschienen. Er hatte sie großzügig eingeladen und ihnen flüsternd etwas eingetrichtert. Reden konnte der Kerl wie ein Wasserfall. Schlimmer als die alten Truden vom Wohlfahrtskommando, dachte der Wirt. Er überlegte kurz, ob er das Fenster schließen sollte. «Du, Herr, stehst vor der Türe», stimmte der Frauenchor voller Inbrunst ein neues Lied an.

«Jäste wärn mir lieber», nuschelte der Wirt missmutig vor sich hin und schlurfte in die Küche, das Revier seiner Frau, um nach dem Rechten zu schauen.

«Das ist absolut sicher. Du gibst mir deinen Pass. Dafür zahle ich dir fünfhundert Mark, in bar auf die Hand», erklärte der Anzugträger mit gedämpfter Stimme seinem Gast, der ihn zweifelnd anstarrte.

«Und wat sag ick den Bullen?»

«Na, einer deiner Schnapsbrüder hat dir die Brieftasche geklaut. So was kommt doch ständig vor. Du erhältst einen neuen Ausweis. Das war’s. Leichter lässt sich Geld nicht verdienen.»

Der Mann, dessen Leben seit geraumer Zeit nicht mehr in geordneten Bahnen verlief, betrachtete gierig sein Bier und schüttelte nachdenklich den Kopf. «Ick weeß nich. Kommt mir unjesetzlich vor. Dit is doch illejal, oder? Da komm ick bestimmt in ’ne Bredullje. Abjesejen davon, kann ick mir ja nich vorstellen, dass eener im Osten die gleiche Visage hat wie icke.»

«Das lass meine Sorge sein!»

Enttäuscht schaute der Mann auf sein leeres Schnapsglas. Bedauernd trank er einen kräftigen Schluck Bier. Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. «Du machst wat mit dem Bild, wa? Dit tauschste aus, oder?» Er zog seinen Pass aus der Innenseite des heruntergekommenen Jacketts und betrachtete das Foto. Da sah er noch gut aus, vier Jahre jünger und nicht so verhärmt wie jetzt. Sichtbar ratlos strich er mit dem Finger über die Hohlniete und ließ ihn anschließend über das Glas kreisen. «Een bisschen muss ick noch nachdenken!», sagte er fordernd. «So janz überzeucht bin ick noch nich, vastehste?» Erneut hob er das Bierglas, prostete einem imaginären Kumpan zu und kippte das Schultheiss in sich hinein.

Der Anzugträger holte ein zusammengerolltes Bündel Scheine aus der Hosentasche, das von einem Gummiband zusammengehalten wurde. «Wenn wir uns einig sind, steht die nächste Runde auch auf meinem Deckel.» Mit Nachdruck stellte er die Rolle mit den Fünfzigern zwischen sich und die leeren Gläser. «Sind wir uns einig?»

Der Mann mit dem beeindruckenden Trinkerzinken schaute nervös in den Schankraum, griff nach den Scheinen und ließ sie in seiner Tasche verschwinden. Niemand schien etwas mitbekommen zu haben. «Du bescheißt mir doch nich, oder?»

«Zähl nach!»

Einen Augenblick lang überlegte der verwahrloste Mann offenbar, ob er dem Vorschlag folgen sollte. Als aber einer der Gäste aus einem nicht ersichtlichen Grund loslachte, entschied er sich dagegen. Stattdessen schob er seinen Ausweis über den Tresen.

In diesem Moment kam der Wirt aus der Küche und leckte sich die Finger ab. Anscheinend war er zufrieden mit dem, was in der Küche für den Abend vorbereitet wurde. Auch wenn er den Eindruck machte, dass er sich dem ehernen Gesetz verpflichtet fühlte, niemals etwas zu sehen oder zu hören, was ihm Schwierigkeiten bereiten könnte – der vornehm gekleidete Mann spürte sehr wohl, dass der Wirt ihn argwöhnisch musterte.

«Noch mal das Gleiche und die Rechnung bitte!», rief er. Zufrieden mit dem Geschäft, ließ er den Blick über den sich zunehmend füllenden Gastraum schweifen. In einer Ecke entdeckte er ein bekanntes Gesicht. Er ließ sich nicht anmerken, dass er darüber alles andere als glücklich war. Ein leichtes Nicken genügte als Begrüßung. In diesem Moment beschloss er, seinen Geschäften künftig in einer anderen Kneipe nachzugehen.

Am Abend legte er den Ausweis in einen Tresor, in dem schon vier weitere lagen. Die Investition lohnte sich. Auf dem Markt der Freiheit brachte jeder von ihnen mindestens fünftausend D-Mark ein. Wenn er es intelligent anstellte, noch mehr. Je schwieriger es wurde, die Mauer zu überwinden, desto stärker stiegen die Preise. Angebot und Nachfrage. Marktwirtschaft war ein einträgliches Geschäft. Der Tresor war unauffällig in einem alten Werkzeugschrank untergebracht, auf dem das Wort Schmiermittel zu lesen war, eine Bezeichnung, die er in diesem Zusammenhang durchaus angemessen fand. Mehrere Geldbündel und weitere Dinge, die offiziell niemand besitzen durfte, stapelten sich neben den Pässen. Im unteren Tresorfach lag eine Akte, die er sorgfältig aufbewahrte und die er respektvoll Lebensversicherung nannte.

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