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DREI

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Freitag, 19. Juni 1970

ALS HANS-GERT GALGENBERG das Büro betrat, erkannte Kriminaloberkommissar Otto Kappe sofort, dass etwas vorgefallen sein musste. Mit den Jahren hatte er gelernt, am Gesichtsausdruck seines Kollegen abzulesen, ob dieser im nächsten Moment über private, berufliche oder politische Ungeheuerlichkeiten zu referieren gedachte. Das Thema Fußball-WM in Mexiko konnte er ausschließen. Deutschland blieb nach dem Jahrhundertspiel vor zwei Tagen gegen Italien und der ärgerlichen 4 : 3-Niederlage nach Verlängerung nur der Kampf um Platz drei. Gestern hatten sie ausgiebig über das Spiel diskutiert. Das war also eindeutig nicht der Grund für Galgenbergs heutige Erregtheit. Ein weiterer kurzer Blick genügte, und Kappe tippte auf private Neuigkeiten. Galgenberg schien übermüdet, er war rot vor Aufregung und voller Vorfreude, die neuesten Nachrichten zu verkünden.

«Dit gloobste nich! Weeßte, wat mir heute Nacht passiert is?»

Kappe schüttelte ahnungslos den Kopf, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und deutete mit beiden Händen an, dass er wissbegierig sei. Galgenberg liebte schon immer das Berlinerische, seit er aber dem Verein zur Erhaltung der Berliner Mundart beigetreten war, durfte Kappe regelmäßig dessen bühnenreifen Ausführungen lauschen.

«Stell dir vor, da träumste von de Adria – Strand, Sonne, knappe Bikinis, wohin de schaust –, und plötzlich macht dir deine Frau wach. Nachts um drei! Panik inne Stimme. Angeblich hätten wa Einbrecher im Haus. Ick dachte, ick krieg ’nen Herzkasper. Einbrecher! Bei uns in Steinstücken! Wenn es eenen sicheren Ort uff de Welt jibt, dann ja wohl die Insel vor de Insel. Wer solln da klauen? Rin kommste nich in die Exklave und raus ooch nich. Jedenfalls nich nachtens. Da passt der olle Ossi uff.»

Vor ein paar Jahren waren Hans-Gert Galgenberg und seine Frau Sabine nach Steinstücken gezogen, offiziell wegen der günstigen Immobilienpreise. Hinter vorgehaltener Hand hieß es jedoch, dass Galgenberg wegen der stetig steigenden Arbeitsbelastung bei der Berliner Polizei versucht hatte, die Notbremse zu ziehen. Er glaubte, die exponierte Lage der West-Berliner Exklave in der Ostzone schütze ihn vor Fragen wie «Könntest du mal schnell vorbeikommen?» oder «Wäre es möglich, dass du kurzfristig für den Kollegen x oder y einspringst?». Doch er hatte sich getäuscht. Sein Chef Otto Kappe nahm auf derartige Befindlichkeiten keine Rücksicht. Nun lebte Galgenberg gut bewacht und abgeschirmt, zumindest vor unerwartetem Besuch, in der kaum einen Kilometer langen und dreihundert Meter breiten Exklave, die zum Ortsteil Wannsee zählte. Seitdem hatte er die beste aller Ausreden, wenn er zu spät zum Dienst erschien: «Die Grenzposten sind schuld. Kontrollieren mir immer janz jenau. Keene Ahnung, warum. Die wissen bestimmt, dass ick een treuer Staatsdiener bin.»

«Und was ist nun gewesen?», erkundigte sich Kappe und schaute prüfend auf die Uhr. «Und wenn es recht ist, bitte die Kurzfassung!»

Galgenberg verdrehte die Augen, setzte sich an seinen Schreibtisch, der gegenüber dem von Kappe stand, und lehnte seinen Oberkörper über die Arbeitsplatte. «Plötzlich hör ick ooch wat. Ick spring uff, greif mir dit Erstbeste, wat ick fassen kann, so een Unjetüm von Vase, wo Sabine im Spätsommer imma die Bumskeulen rinstellt, und schleich uffn Hof.» Galgenberg sprang wieder auf und unterstrich das Gesagte mit vollem Körpereinsatz. «Und tatsächlich, im Schuppen seh ick Licht. Ick, mutig wie ick bin, reiß die Tür uff, dit glasierte Steingutteil von irgend so een Designer einsatzbereit über meenem Kopp – und wat bejegnet mir da?»

Kappe, der Galgenbergs Vortrag amüsiert verfolgte, zuckte ahnungslos mit den Schultern und wollte schon zu raten beginnen.

«Otto, sag nischt! Kommste nie druff. Also, wie ick da so stehe in meinem jestreiften Pyjama, barfuß, da entdeck ick in meenem Schuppen een Fensterputzer im Tarnanzug. Een echter Republikflüchtling. Na, der hat sich vielleicht erschrocken! Hätt nich viel jefehlt, und der wär wieder zurück in Osten jemacht.»

«Ein Fensterputzer?»

«Een Flüchtling mit so eener Fensterputzleiter zum Zusammenschieben! Kräftiger junger Mann, noch janz grün hinter de Ohren, neunzehn Jahre, aber ziemlich clever. Dit Prachtstück von eener Leiter hat sich Gefreiter Jürgens, Kai Jürgens, so heißta nämlich, quasi vom Rückwärtigen Dienst der Nationalen Volksarmee ausjeborgt. Die brauchten so een Vehikel, um die Fenster eener alten MIG zu putzen. Dit is een Hobby von General von Trallala zu Sowieso. Dit Flugzeug steht uffn Granitsockel vor de Kommandantur. Wenn der Lametta-Heini meinte, die Fenster von dem Vogel sehen matt aus, dann wurde jeputzt. Im ersten Diensthalbjahr regelmäßig jeden Sonnabend. Und dafür brauchste so een Teil. Dit is Joldstaub im Osten. Die haben ja nischt. Und wat macht der Sprutz? Klaut dit jute Stück und nutzt den Urlaub bei de NVA dazu, dem Arbeiter- und Bauernparadies Tschüss zu sagen. Mann weg. Leiter ooch. Dit Jesicht von dem Oberoffizier hätte ick ma sehen wollen!»

Kappe kannte Galgenberg eine mittlere Ewigkeit, aber selten hatte er ihn so begeistert gesehen. Wenn es gegen den Osten und dessen Staatsführung ging, lief der Kriminalassistent regelmäßig zu Hochform auf. Und seit West-Berlin ein Eldorado für Bundeswehrverweigerer geworden war, sich zunehmend Hessisch, Schwäbisch, Bayerisch und andere unverständliche Dialekte in die Alltagssprache mischten, schien sein Kollege umso mehr von der Notwendigkeit überzeugt zu sein, die Berliner Mundart retten zu müssen. Kappe schaute seinen Kriminalassistenten amüsiert und erwartungsvoll an. Als dieser nicht weitersprach, tat er ihm den Gefallen und fragte neugierig: «Und was ist dann passiert?»

«Na, ick hab den erst mal einjekleidet. Ordentliche Hose, hellet Hemd und meine Lieblingslederjacke von Woolworth, die mir leider nich mehr passt. Du weeßt schon, die schnieke braune mit die geschwungenen hellen Linien uffn Rücken, wat wie een Adler aussieht. Dit Teil is zwar een bisschen abjelebt, aber immer noch eene echte Oogenweide. Kannst doch keenen inna Einstrich-Keinstrich-Uniform durchn Westsektor latschen lassen. Schnieke sieht der Junge jetz aus. Und dann hab ick die Amis ausm Bett jeklingelt und ihnen den Neubürger übergeben. Na, die haben Oogen jemacht! Montach is Wachwechsel. Da fliegen die Amis den bestimmt ooch mit aus.»

Fast wäre Kappe aufgestanden und hätte seinem Kollegen stolz die Hand geschüttelt, besann sich dann aber der wirklichen Probleme. Und davon gab es einige. «Kriminalrat Keunitz will uns sehen. In fünf Minuten. Keine Ahnung, was der will.»

Galgenberg verdrehte die Augen und seufzte theatralisch. «Wat? Der Chef persönlich? Otto, mich grault’s!»

«Mir grault’s, heißt das», verbesserte Kappe ihn. «Das ist der Akkudativ. Der echte Berliner verwendet immer ‹mir›, selbst wenn es richtig ist. Kollege, du musst noch viel lernen!»

«Es ist das erklärte Ziel unseres neuen Polizeipräsidenten, dass wieder Frieden herrscht in der Stadt. Hübners Linie scheint daher zu heißen: Die Polizei hat zwar nicht mit dem Einsatz von Gewalt begonnen, aber sie soll ihn beenden. Mit anderen Worten: Ab sofort ist Weichspülen angesagt.» Kriminalrat Friedhelm Keunitz konnte seine Abneigung gegen die Politik des neuen Polizeipräsidenten Klaus Hübner kaum verhehlen. «Schlimm genug, dass wir ständig mit diesen Chaoten zu tun haben, mit ihrem ‹Ami-Go-Home›- und ‹Ho-Ho-Ho-Chi-Minh›-Geschrei. Allein wegen der Straßenschlacht vor dem Amerikahaus in der Hardenbergstraße Anfang Mai haben wir immer noch diverse verletzte Polizisten zu beklagen. Verdammt, wir sind doch nicht die, die Krieg in Vietnam führen! Und dann noch die gewaltsame Befreiung von diesem Andreas Baader. Bin gespannt, was da noch auf uns zukommt.» Wütend schlug Keunitz auf ein Blatt namens Agit 883, ein anarchistisch-libertäres Periodikum aus der linken Szene, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Kopfschüttelnd deutete er auf einen Artikel: Die Rote Armee aufbauen!

Otto Kappe wusste zwar nicht genau, um was es ging, las aber ein paar Zeilen: Genossen von 883 – es hat keinen Zweck, den falschen Leuten das Richtige erklären zu wollen. Das haben wir lange genug gemacht. Die Baader-Befreiungs-Aktion haben wir nicht den intellektuellen Schwätzern, den Hosenscheißern, den Allesbesserwissern zu erklären, sondern den potenziell revolutionären Teilen des Volkes.

Kappe kannte derartige Polemik aus anderen anarchistisch gefärbten Artikeln, die zuweilen bar jeder Vernunft schienen. Selbst sein Sohn Peter sympathisierte seit Jahren mit der revolutionären Studentenbewegung. Immer häufiger hatten sie sich wegen ihrer unterschiedlichen politischen Sichtweisen gestritten. Otto Kappes Frau Gertrud litt darunter, und zusehends ging ein Riss durch die Familie. Er war nicht schuldlos daran, aber er vermochte zurzeit nicht auf seinen Sohn zuzugehen. Glücklicherweise hatte der Anfang des letzten Jahres sein Studium der Psychologie beendet und durfte sich jetzt Diplom-Psychologe nennen. Seit Monaten ruhte der Kontakt, und Otto Kappe spürte, dass sie sich immer weiter voneinander entfernten. Er zwang sich, den Gedanken an den Sohn zu verscheuchen, und las verärgert den Aufruf dieser Fanatiker. Die Zeitschrift war keine zwei Wochen alt. Verständnislos überflog Kappe den Artikel und verharrte beim letzten Satz: Mit dem bewaffneten Widerstand beginnen!

Keunitz, der seinem Blick folgte, sagte, noch immer aufgebracht: «Aber deswegen habe ich Sie nicht hergebeten.» Er nahm das Machwerk mit spitzen Fingern und ließ es in einem Schubfach verschwinden. «Der Grund, warum ich mit Ihnen reden möchte, hat mit dem leidigen Thema Fluchthilfe zu tun. Willy Brandt und Walter Scheel sind intensiv mit Moskau im Gespräch, um den internationalen Frieden aufrechtzuerhalten und den sogenannten Entspannungsprozess zu fördern. Außerdem munkelt man, dass unser Kanzler in Erfurt mit dem Ministerpräsidenten der DDR, Willi Stoph, über künftige Besuchserleichterungen gesprochen hat. Sieht so aus, als stünden wir kurz vor dem Durchbruch. Da geht es um viel mehr als nur um ein befristetes Passierscheinabkommen für uns West-Berliner.»

Erstaunt schauten sich Kappe und Galgenberg an. Fluchthilfe war für die meisten West-Berliner immer noch eine ehrenwerte Handlung. Zwar drehte sich langsam der Wind. Dennoch, niemand in der eingemauerten Stadt empfand es als Verbrechen, jemandem in die Freiheit zu verhelfen. Außerdem war es ein offenes Geheimnis, dass die Bundesregierung die Fluchthilfe bisher, wenn auch verdeckt, unterstützt hatte. Selbst der Verfassungsschutz hatte seine Finger im Spiel und warnte Fluchthelfer, wenn ihm bekannt wurde, dass die Staatssicherheit der DDR ihnen auf die Spur gekommen war. Es fiel nicht in den Aufgabenbereich der Mordkommission, sich um derartige Angelegenheiten zu kümmern.

Als könnte Keunitz Kappes Gedanken lesen, hob er beschwichtigend die Hand. «Sie bearbeiten doch beide den Fall der unbekannten Toten von Nikolskoe?»

Kappe, der immer hellhörig wurde, wenn es um neue Details für nasse Fische ging, wie ungeklärte Fälle intern genannt wurden, schaute erst den Chef aller Mordkommissionen und dann Galgenberg an. «Mein letzter Stand ist, dass wir alle diesbezüglichen Ermittlungen einstellen sollten. Das war Ihre Anweisung! Wenn ich mich nicht täusche, ist das nicht einmal ein halbes Jahr her», bemerkte er gereizt. Nur mit Grausen erinnerte er sich an den ungelösten Mordfall. Sie hatten weder die Identität der Leiche klären noch den Mörder überführen, geschweige denn auch nur ansatzweise ein Mordmotiv ermitteln können. Stattdessen hatte seine intensive Beschäftigung mit dem Fall zu einer bedrohlichen Ehekrise geführt.

«Bis auf Weiteres – das waren meine Worte gewesen. Das gilt immer für derartige Verbrechen. Außerdem, was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?», zitierte Keunitz Konrad Adenauer gereizt und ergänzte: «Die Herren vom Verfassungsschutz haben uns freundlicherweise einen Hinweis zukommen lassen. Wir sollen doch mal einem Herrn Wilfried von Thalmann genauer auf die Finger schauen. Fluchthelfer und Lebemann. Dürfte Ihnen kein Unbekannter sein. Eine nicht näher benannte Quelle habe den Hinweis gegeben, dass zwischen der Toten von Nikolskoe und diesem Herrn eine Verbindung bestehen könnte.»

«Der schöne Willi?», fragte Galgenberg verwundert. «Finger dreckig machen ist eigentlich keine Stärke dieses Herrn.»

Kappe, dem die Wut das Gesicht rot färbte, konnte sich nur mit Mühe beherrschen. «Sehe ich das richtig, wir sollen möglichst viel Dreck aufwühlen, damit die Herren Politiker ungestört mit den Kommunisten verhandeln können?»

Keunitz lehnte sich zurück und verschränkte die Hände im Nacken. «Ich würde das nicht so formulieren und öffentlich auch niemals zugeben, aber ja, es trifft wohl den Kern der Sache. Mir ist allerdings mehr daran gelegen, dass das Verbrechen in Nikolskoe aufgeklärt wird. Das ist unsere Aufgabe oder, besser gesagt, Ihre. Also, noch mal das ganze Programm!»

«Ick gloob, mein Schwein pfeift! Sind wa von de Mordkommission jetzt der Stadtreinigung zujeordnet?», empörte sich Galgenberg, der offensichtlich vergessen hatte, dass er vor seinem Chef stand, und seine Bemerkung sofort bereute.

«Kollege Galgenberg, ein bisschen mehr Gelassenheit, wenn ich bitten darf! Ich kann mich nicht daran erinnern, dass der Mörder der Toten von Nikolskoe überführt worden ist, ja dass überhaupt irgendeine Erkenntnis in diesem Fall vorliegt. Also reißen Sie sich bitte zusammen! Und kommen Sie mir nicht mit irgendwelchem Stammtischgezeter. Sie sind Polizist, vergessen Sie das nicht!»

Galgenberg hob entschuldigend beide Hände. Kappe stand wie versteinert vor dem Schreibtisch. Dass man sie beauftragte, einen Fall neu aufzurollen, der noch vor Kurzem als hoffnungslos eingestuft worden war, empfand auch er als Kritik an ihrer Arbeit.

Keunitz ahnte offenbar, dass es tief im Innern des Kriminaloberkommissars Kappe rumorte. «Anfang September muss ich turnusmäßig eine Leistungsbeurteilung abgeben, die darüber entscheidet, ob Sie und Ihr Kollege Galgenberg höhergestuft werden. Die Zeiten, in denen nach Alter und Gewicht befördert wurde, gehören glücklicherweise längst der Vergangenheit an. Es gilt das Leistungsprinzip – für alle Mitarbeiter der Mordkommissionen.» Freundlich, wenn auch wenig überzeugend fügte er hinzu: «Politik ist nicht meine Besoldungsstufe und, da stimmen Sie mir sicherlich zu, Ihre erst recht nicht. Außerdem bin ich zu alt für derartige Spiele! Also tun Sie mir den Gefallen, und gehen Sie dem Hinweis unserer Staatsschützer nach. Möglicherweise bringt das was. Ach ja, und reden Sie zuerst mit der Gerichtsmedizin. Es gibt interessante neue Informationen. Im Gerichtsmedizinischen Institut hat es übrigens eine Personalaufstockung gegeben. Ich bin überzeugt, Sie werden begeistert sein.»

Das Telefon klingelte. Keunitz deutete mit einem Nicken an, dass die Unterredung beendet war. Er legte die Hand auf den Hörer, nahm ihn aber noch nicht ab. «Und, Herr Kappe – wie sagten Sie so treffend? –, wühlen Sie möglichst viel Dreck auf!»

Kaum hatten Otto Kappe und Hans-Gert Galgenberg das Büro ihres Chefs verlassen, verkündete Galgenberg mit empörter Stimme: «Otto, ick gloob dit nich! Bei dem müssen ja die Nerven blank liegen. Kann mich nich erinnern, dit der mir mal so anjefaucht hat.»

Kappe entfuhr nur ein zischender Laut. Wieder auf jenen Fall angesetzt zu werden, der ihn monatelang erfolglos beschäftigt hatte, löste in ihm Wut und Verzweiflung aus. Gertruds Beschwerden über die vielen Überstunden und darüber, dass er sogar Arbeit mit nach Hause genommen hatte, klangen ihm noch immer in den Ohren. Einmal hatte sie wütend erklärt, dass sie nicht mehr gewillt sei, sich hinter einer Leiche anzustellen, bis der geliebte Göttergatte bereit war, mit ihr über die täglichen Probleme ihres gemeinsamen Lebens zu reden.

Tatsächlich hatte sich Kappe derart in den Fall der Toten von Nikolskoe verbissen gehabt, dass er auf jede Störung aggressiv reagiert hatte. Selbst das Faustballtrainig hatte er monatelang ausfallen lassen, und auch die Kegelabende bei den Rattenkönigen Charlottenburg in jener Zeit konnte er an fünf Fingern abzählen. Zwischen Otto und Gertrud kriselte es seitdem bedenklich. Noch dazu hatte sein Sohn im Spätsommer des letzten Jahres völlig unerwartet Berlin den Rücken gekehrt. Ausgerechnet Hermann Kappe, der Großonkel und Oberkriminaler der Familie, der seinen Lebensabend am Gümser See im Wendland verbringen wollte, schien Peter sozusagen abgeworben zu haben. Alle in der Familie hatten von der Entscheidung seines Sohnes, Berlin zu verlassen, gewusst, nur Otto nicht. Als Peter schließlich doch mit ihm hatte reden wollen, hatte er nur kurz von seinen Unterlagen aufgeschaut und lapidar bemerkt: «Reisende soll man nicht aufhalten.»

Seitdem arbeitete Peter in der Wendland-Klinik, in einer eher übersichtlichen Abteilung, die psychisch Erkrankte behandelte. Die Familie drohte auseinanderzubrechen, und Otto war daran nicht unschuldig. Erst nachdem er die Akte Nikolskoe auf Keunitz’ Anweisung im Schubfach hatte verschwinden lassen, hatte sich die Situation mit Gertrud wieder zum Besseren gewendet. Das war nun kaum ein Vierteljahr her.

«Wir können unmöglich einfach beim schönen Willi klingeln und behaupten, es gebe da so einen Hinweis von jemandem, der obergeheim ist, quasi de facto nicht existiert. Demnach solle er etwas mit einer Leiche zu tun haben, zu der wir aber leider überhaupt nichts sagen können», unterbrach Galgenberg Kappes Gedankengang.

Wieder einmal stellte Kappe fest, dass der ehrenwerte Kollege immer dann zu berlinern aufhörte, wenn die Situation ernst wurde.

Um die Absurdität ihrer Aufgabe zu verdeutlichen, schlug sich Galgenberg mehrfach kräftig mit der flachen Hand gegen die Stirn. «Wat solln der schöne Willi darauf antworten? Der lacht sich doch scheckich. Dit können wa voll verjessen!»

Das mit dem Hochdeutsch klappt allerdings nur, wenn Galgenberg nicht wütend ist, stellte Kappe in Gedanken fest. Im Prinzip sah er es genauso wie sein Kollege. Sie hatten nichts in der Hand, um Keunitz den Wunsch zu erfüllen, Dreck aufzuwirbeln. Sie sollten den Hinweis vom Verfassungsschutz mit Vorsicht genießen. Nachgehen aber mussten sie ihm. Es war unmöglich, die Sache zu ignorieren. Doch auch wenn die Informationen äußerst dürftig ausfielen – sie waren ein kleiner Strohhalm. Vielleicht könnten sie den Fall Nikolskoe doch noch aufklären. «Hast du eine Ahnung, wo der schöne Willi sein Domizil hat?», erkundigte sich Kappe.

«Ick gloobe, in Alt-Lübars. Hat so een ufjepeppten Bauernhof jekooft. Über dit Anwesen stand ma wat inne Zeitung.»

«Fahr da am Montag vorbei. Nimm Kynast mit. Schaut euch um. Redet mit ein paar Leuten. Sagt, dass eine unbekannte junge Frau im vergangenen Herbst tot aufgefunden wurde und wir deshalb ermitteln. Alter, Körpergröße und Haarfarbe kennt ihr. Welche Kleidung sie am Tag ihres Todes trug, ist auch wichtig. Ach ja, und dass sie womöglich einen Gehfehler hatte. Dass es um Mord geht, erwähnt ihr allerdings nicht. Über alle anderen Details schweigt bitte auch. Ist jemandem im Mordzeitraum etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Die Frau wurde zwischen November 1968 und Februar 1969 umgebracht. Hat irgendjemand die Frau beobachtet? Lasst euch sehen, und wenn einer von Willis Leuten fragt, zeigt eure Ausweise, sagt was von Routineuntersuchung und verweist darauf, dass wir uns in den kommenden Tagen wieder melden werden. Mehr als auf den Teppich klopfen können wir momentan nicht. Vielleicht staubt es ein bisschen. Wenn wir Glück haben, wird jemand nervös.»

Galgenbergs Stöhnen kam tief aus seinem Innern. «Ick hab schon so wat befürchtet. Alles klar, ick kümmere mir drum!»

Einen Augenblick lang standen beide auf dem Flur, starrten durch ein Fenster auf die Keithstraße und beobachteten die vorbeihastenden Passanten.

«Und was machen wir jetzt, so kurz vorm Wochenende?», erkundigte sich Galgenberg vorsichtig mit deutlicher Betonung des letzten Wortes.

«Ich habe noch etwas in Kreuzberg zu erledigen», erwiderte Kappe. Nach einer kurzen Pause ergänzte er: «Außerdem brauche ich dringend Luft. Ich muss das erst mal verdauen. Geh du zurück ins Büro und stell bitte alles, was wir über diesen Wilfried von Thalmann haben, zusammen. Presseartikel über den bunten Vogel wären auch ganz schön. Ich komme später nach.»

«Dann muss ick in die Stadtbibliothek.»

«Dann mach das!», sagte Kappe schulterzuckend.

Galgenberg zog die Stirn kraus und schaute seinen Chef an, der drehte sich um und lief mit energischen Schritten den Gang entlang.

Im Auslieferungslager des Berliner Fuhrunternehmens Liebscher genossen die Fahrer ihre Mittagspause. Niemand kümmerte sich um Helmut Gebhard, der die Lieferpapiere für die kommende Tour ins Bundesgebiet prüfte. Alles schien vollständig und korrekt zu sein. Der Lkw war mit Kisten voller Mikrofone beladen, die neuesten, die es derzeit auf dem Markt gab, die Hecktür war verplombt. Gebhard lief ruhig um das Fahrzeug herum und überprüfte die Reifen. Niemand störte ihn. Er öffnete die Fahrertür, steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn in Startposition, zog dann den Aschenbecher aus seiner Halterung und drückte kräftig auf das darunterliegende Blech, auf einen unauffälligen Schalter, den nur Eingeweihte kannten. Der Stromkreis schloss sich, und ein Anlassermagnet entriegelte verborgene Stifte im Bodenblech. Um sicherzugehen, dass ihn niemand beobachtete, schaute Gebhard prüfend zum Kabuff, in dem die anderen Kollegen ihre Pause verbrachten. Alles war ruhig. Vorsichtig klappte er den Fahrersitz nach vorn. Nun brauchte er nur noch die Bodenplatte wegzuschieben, und ein eigens präparierter Hohlraum wurde sichtbar. Viel Platz bot er nicht. Er reichte gerade für eine Person, die sich in Embryonalhaltung zusammenkrümmte. Das Versteck lag gut getarnt zwischen Motor und Tank. Selbst Spürhunde schlugen wegen des starken Benzin- und Ölgeruchs nie an, wenn er jemanden darin schmuggelte.

Sieben Fluchten hatte Helmut Gebhard bisher mit dem umgebauten Lkw des Fuhrunternehmens ermöglicht. Das Versteck war perfekt. Selbst eine einstündige Inspektion am Grenzübergang Staaken war erfolglos gewesen.

Diesmal würde er die Ladung an einen Partner in Hamburg liefern und anschließend hochwertiges Papier laden, das er am Montag an die Bundesdruckerei in der Kommandantenstraße hinter dem Axel-Springer-Haus übergeben musste. Niemand in der Firma ahnte, dass er in der Nähe von Nauen einen kurzen Zwischenstopp auf einem Waldweg einlegen würde. Nur der Inhaber der Firma Liebscher wusste von dem Umbau des Lkw und seinen regelmäßigen Aktionen. Gebhard kannte das Gerücht, dass der Chef des Unternehmens, Bernd Liebscher, seinen Bruder bei einem Fluchtversuch verloren hatte, als der im Februar ‘64 versucht hatte, den Teltowkanal zu durchschwimmen. Offensichtlich fühlte sich Liebscher schuldig am Tod seines Bruders, weil er ihn nicht von dem irrsinnigen Plan hatte abbringen können. Seitdem tat er alles dafür, anderen bei ihrer Flucht zu helfen. Für ihn war eine derartige Hilfe anscheinend das einzige Mittel, um Abbitte zu leisten.

Den Umbau des Lkw hatte Wilfried von Thalmann an einem Wochenende auf seinem Anwesen vornehmen lassen. Die Idee stammte von einem befreundeten Fluchthelfer, der mit einem Cadillac Flüchtlinge über die deutsch-tschechoslowakische Grenze geschmuggelt hatte. Dem war es drei Jahre lang gelungen, die Grenzposten mit seinem fast sechs Meter langen amerikanischen Schlitten zu narren. Zweihundert Flüchtlingen hatte das Nobelgefährt in die Freiheit verholfen. Das Versteck hatte hinter dem Armaturenbrett gelegen, und wer die Reise gen Westen angetreten hatte, hatte gut getarnt auf dem Rücken mit angewinkelten Beinen im Kotflügel gelegen.

Gebhard prüfte noch einmal den geheimen Raum im Lkw. Wie immer schüttelte es ihn, wenn er an die Enge dachte. Er selbst könnte eine derartige Tortur nicht durchstehen, neigte er doch schon in geschlossenen Räumen zu Atemnot und Panikattacken. Mitfühlend legte er eine zusammengelegte Decke in das präparierte Versteck. Mehr konnte er nicht tun. Sorgsam zog er die Bodenplatte wieder in ihre Verankerung, stellte den Sitz zurück und steckte den vollen Aschenbecher in seine Halterung. Zufrieden schaute er auf die Uhr. Mindestens sieben Stunden dauerte eine Fahrt über die Fernverkehrsstraße 5 nach Hamburg, vorausgesetzt, die Kontrolle am Grenzübergang Lauenburg würde sich nicht wieder endlos in die Länge ziehen.

Otto Kappe musste nichts in Kreuzberg erledigen. Er hatte dies nur vorgegeben, um ungestört zu sein. Nach dem Gespräch mit Kriminalrat Friedhelm Keunitz war er in den neuen VW Käfer gestiegen, den sich seine Frau Gertrud und er Anfang des Jahres geleistet hatten. Inzwischen war er fünf Stundenkilometer schneller unterwegs, als die Polizei erlaubte. Warum er geradewegs zum Kreuzberg fuhr, wusste er selbst nicht. Er stellte das Auto in der Methfesselstraße ab. Zügig ging er an den vor zwei Jahren angelegten Weinstöcken vorbei. Normalerweise schmunzelte er über derartige Ambitionen. Einige Enthusiasten glaubten ernsthaft, dass Berlin auch als Weinstadt einen Ruf zu verteidigen hatte. Tatsächlich hatten Bauern vom 15. bis zum 18. Jahrhundert auf der ursprünglich Götzescher Weinberg genannten Erhebung Weinbau betrieben. Einen Namen für den Rebensaft, der hier künftig wieder hergestellt werden sollte, gab es auch schon: Kreuz Neroberger.

Kappe ließ sich auf einer Bank unterhalb des gusseisernen Nationaldenkmals für die Siege in den Befreiungskriegen nieder und erinnerte sich an einen Sonntag im September des vergangenen Jahres. Es war ein wunderbarer Tag gewesen, der letzte für eine lange Zeit. Gertrud und er hatten auf der Terrasse des Blockhauses Nikolskoe gesessen, mit Heißhunger riesige Wiener Schnitzel verspeist und die freie Zeit genossen. Von dort bot sich ein wunderschöner Ausblick auf die untere Havel und die Pfaueninsel. Andächtig hatten beide dem Glockenspiel der Kirche St. Peter und Paul gelauscht, die nur einen Steinwurf entfernt lag. Damals hatte er nicht geahnt, dass nur Stunden später kaum einen Kilometer entfernt eine Frauenleiche im Wald gefunden werden würde.

Aus seinen Gedanken auftauchend, starrte Kappe auf das in Form eines gotischen Tabernakels gestaltete Denkmal auf dem Kreuzberg. Die zwölf Genien erinnerten an gewonnene und verlorene Schlachten und waren allesamt preußischen Heerführern und Mitgliedern des Königshauses nachempfunden. Mit der Einweihung des Denkmals war aus dem Götzeschen Weinberg der Kreuzberg geworden, zumindest hatte Kappe das in einem Zeitungsartikel gelesen. Grund für die Umbenennung war wahrscheinlich jenes eiserne Kreuz, das das heroische Denkmal krönte.

Siege und Niederlagen prägten auch Kappes Leben. Erfolge waren für ihn eine Selbstverständlichkeit. Ungelöste Fälle ließen ihn dagegen nachts nicht schlafen. Die jahrelange Arbeit in der Mordkommission war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Sicher, er liebte seinen Beruf, doch all die Verbrechen, mit denen er in seinem langen Berufsleben konfrontiert worden war, wirkten wie eine Bleivergiftung. Die Tote von Nikolskoe glich dem berühmten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.

Ein Förster hatte die Überreste der jungen Frau, die im Unterholz des Düppeler Forstes versteckt worden waren, gefunden. Einen Tag später hatte Kriminalrat Keunitz den Fall Kappe und seinen Kollegen übertragen. Kappe hatte als Erstes mit dem Mann gesprochen, der den Fund gemeldet hatte. Genau genommen war Trotzki, der Dackel des Försters, der Entdecker der Leiche. Der Waldhüter gab zu Protokoll, dass er gerade die Überprüfung eines Spätbrutplatzes der vom Aussterben bedrohten Schleiereule abgeschlossen hatte und auf dem Rückweg gewesen war, als sein Hund sich aufgeregt gebärdet habe. Er habe einen Augenblick zu spät reagiert, aber schon geahnt, dass etwas nicht stimmte. Trotzki sei unruhig um einen Stapel Holz herumgerannt und habe herzzerreißend gejault. Genüsslich habe er dann seinen Oberkörper über etwas Undefinierbarem gewälzt. Für den Förster ein klares Zeichen dafür, dass unter dem Gestrüpp Verwesendes lag. Weiterhin hatte er zu Protokoll gegeben, dass alle Versuche, den Hund zum Einhalten zu bringen, erfolglos gewesen waren. «Trotzki hat sich aufduften wollen, um seinen Eigengeruch zu kaschieren. Die Ausdünstungen von madenzerfressenem Fleisch sind für Hunde so etwas wie Chanel No. 5.» Kappe erinnerte sich noch genau an die Worte des Försters. Erst dann sei dem Mann klar geworden, dass er die Überreste eines Menschen vor sich hatte. Geschockt sei er zurückgewichen, habe aber wahrgenommen, dass der Körper in einem bunten Kleid steckte.

Bei der stark verwesten Leiche handelte es sich um eine junge Frau, Mitte oder Ende zwanzig, mit mittellangen brünetten Haaren, zirka 1,72 Meter groß. Besondere Kennzeichen: keine. Ihr Kleid stammte von C & A und war schon seit einigen Jahren aus der Mode. Dennoch hatte Kappe prüfen lassen, wer dieses Modell produziert hatte, wo es hergestellt und wohin es geliefert worden war. Alle Filialen in West-Berlin und im Bundesgebiet schienen es im Sortiment zu haben. Auch die einschlägigen Versandhäuser. Fast war es Kappe so vorgekommen, als besäße jede modisch bewusste Frau ein Sommerkleid dieser Art.

Das Opfer war erschlagen worden. Das Gerichtsmedizinische Institut im Krankenhaus Moabit hatte eindeutig eine tödliche Verletzung am Schädel nachgewiesen. Der Schlag war mit einem spitzen Gegenstand, einem kleinen Hammer, einem handlichen Eispickel oder etwas Ähnlichem, ausgeübt worden und hatte das Schläfenbein im oberen Bereich zerstört. Wahrscheinlich war der Tod nicht sofort eingetreten. Laut Bericht war entweder ein Blutgefäß, vermutlich die Arteria meningea media, getroffen worden, sodass das Opfer verblutet war, oder es hatte eine durch den Schlag bedingte Gehirnverletzung zum Tod geführt. Der Zeitpunkt der Ermordung lag laut dem verantwortlichen Gerichtsmediziner Dr. Konrad König zwischen Anfang November 1968 und Ende Februar des vergangenen Jahres. Eine genauere Eingrenzung des Zeitpunkts war wegen des Zustands der Leiche und der witterungsbedingten Einflüsse nicht möglich gewesen. Aufgrund des harten Winters 1968 / 69, der als sonnenscheinärmster seit Beginn regelmäßiger Wetteraufzeichnungen galt, war der Verwesungsprozess nur langsam vorangeschritten und die Tote sozusagen bis zum Frühjahr auf Eis gelegt gewesen. Daher die Ungenauigkeit. Noch im März hatte man in Dahlem eine Schneehöhe von 52 Zentimetern gemessen, in Potsdam waren es sogar 70 Zentimeter – Werte, wie man sie zu dieser Jahreszeit noch nie registriert hatte. Die warmen Monate von April bis August hatten den Verwesungsprozess dann aber beschleunigt. Die Tatsache, dass die Tote zum Zeitpunkt ihrer Ermordung ein Sommerkleid getragen hatte, passte nicht zum prognostizierten Todeszeitpunkt und hatte daher für einige Spekulationen gesorgt. Inzwischen glaubte Kappe fest daran, dass der Täter dem Opfer die Kleidung angezogen hatte. Nur warum, war ihm ein Rätsel.

Als die Leiche im September 1969 gefunden worden war, war ihre Verwesung so weit fortgeschritten, dass weder Gesicht noch Fingerabdrücke Auskunft über ihre Identität hätten geben können. Dr. König hatte bei der Obduktion eine chirurgische Schraube gefunden, die auf eine komplizierte Hüftoperation hinwies. Zweifelsfrei musste die junge Frau vor ein paar Jahren einen Unfall erlitten haben, höchstwahrscheinlich einen Autounfall. Da das rechte Bein seitdem etwas kürzer war, ging der Gerichtsmediziner davon aus, dass sie gehinkt hatte. Das gefundene medizinische Implantat wurde seit Jahren in westdeutschen und West-Berliner Operationssälen verwendet. Doch trotz der klar umrissenen Diagnose und der Röntgenbilder des längst verheilten Bruchs fand sich kein Krankenhaus, das eine Patientin mit einer derartigen raktur behandelt hatte. Die Befragungen der Mitarbeiter des Wirtshauses Moorlake, des Blockhauses Nikolskoe und des Restaurants Pfaueninsel an dem Fähranleger brachten ebenfalls keine Erkenntnisse. Und der Ordner mit den Vermisstenmeldungen half auch nicht weiter. Selbst die Nachforschungen bei Interpol verliefen ergebnislos. Niemand schien die Frau zu vermissen. Nach sechs erfolglosen Monaten hatte Keunitz schließlich die Anweisung gegeben, die Akte vorerst im Fach für nasse Fische verschwinden zu lassen. Ein weiterer Fall, der auf eine geniale kriminalistische Eingebung oder einen Zufall wartete. Seitdem ruhte die Unbekannte auf dem Friedhof Schöneberg. Der kleine Stein am Kopf des Grabes trug nur eine Nummer.

Dass der Verfassungsschutz die Tote nun mit Wilfried von Thalmann in Zusammenhang brachte, war kein Zufall, das wusste Kappe. Man hatte einem blinden Huhn ein Korn zugeworfen.

Am Nachmittag kehrte Otto Kappe in sein Büro zurück. Auf seinem Schreibtisch fand er eine schmale Akte, einen kurzen Bericht über Wilfried von Thalmann, geborener Böttcher. Galgenberg hatte die Unterlagen wie immer akkurat zusammengetragen. Daneben lag ein Zettel: Bin in der Stadtbibliothek, Zeitschriften schmökern. Und dann ist Wochenende!

Kappe wusste, am Montag würde sein Kollege eine erlesene Sammlung von Zeitungsartikeln vorlegen, denen eines gemeinsam sein würde: Sie würden reißerisch über Wilfried von Thalmann berichten. Neugierig nahm er die Akte in die Hand und begann zu lesen.

Wilfried Böttcher, 1935 in Guben geboren, lebte seit 1955 in West-Berlin. 1962 war er als 26-Jähriger von Nora von Thalmann adoptiert worden. Es folgten Angaben über seinen Wohnort in Alt-Lübars und das Register seiner Straftaten. Otto Kappe überflog die Liste kleinkrimineller Vergehen: Diebstahl, Hehlerei, Betrug, Körperverletzung … Das war nichts Besonderes, auffällig erschien ihm nur, dass keines der eingetragenen Delikte direkt mit Fluchthilfe in Verbindung stand. Lediglich ein Eintrag aus dem letzten Jahr deutete auf ein Passvergehen oder etwas Ähnliches hin. Es hieß, dass gegen Thalmann Ermittlungen wegen Urkundenfälschung eingeleitet worden seien. Allerdings waren die Untersuchungen wegen Geringfügigkeit eingestellt worden.

Strafrechtlich ließ sich Wilfried von Thalmann nicht beikommen. Es bedurfte weiterer Informationen. Wenn der Verfassungsschutz seine Finger im Spiel hatte, musste er mehr über den schönen Willi wissen. Kappe erinnerte sich, von einem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes gehört zu haben, der Kontakt zur Fluchthelferszene hielt. Glaubte man den Gerüchten, leitete dieser nicht nur relevante Informationen, sondern auch Geld, das er von dritter Seite erhielt, an die einzelnen Fluchthelfergruppen weiter. Der Mann agierte unter einem Decknamen. Wenn Kappe seinem Gedächtnis vertrauen durfte, lautete dieser Merlin.

Otto Kappe nahm den Telefonhörer zur Hand und ließ sich zu Kriminalrat Keunitz durchstellen. Sein Vorgesetzter wollte, dass er Dreck aufwirbelte, also musste er ihm auch das nötige Werkzeug zukommen lassen.

Geschwisterliebe

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