Читать книгу Revolution in Russland - Stephen Smith - Страница 14

Die Revolution von 1905

Оглавление

Am 9. Januar 1905 führte der Priester Georgi Gapon, Leiter der Versammlung der russischen Fabrikarbeiter, einer Art Gewerkschaft, die mit Billigung des Innenministers gegründet worden war, eine Prozession von 150.000 Arbeitern mit ihren Familien zum Winterpalais, um dem Zaren eine Petition zu überreichen.118 Sie protestierten gegen die Entlassung von Versammlungsdelegierten aus der Putilow-Fabrik, der mit mehr als 12.000 Arbeitern größten in Russland. St. Petersburg war durch einen Generalstreik lahmgelegt, und die Obrigkeit war überaus nervös. Die Bittschrift war in der für solche Zwecke üblichen, demütig-flehenden Sprache verfasst und an „Väterchen“ Nikolaus gerichtet, aber ihre Forderungen, die man nach Beratungen mit der Befreiungsunion formuliert hatte, waren weitreichend. Es ging um die Unverletztlichkeit der Person, um Rede-, Presse-, Vereinigungs- und Gewissensfreiheit, um die Trennung von Kirche und Staat, Gleichheit vor dem Gesetz, Beendigung der Entschädigungszahlungen, Freiheit zur Bildung von Gewerkschaften, das Streikrecht, einen Arbeitstag von acht Stunden, Lohnerhöhungen und Sozialversicherungen. Unter Absingen von Hymnen und dem Schwenken von Kirchenfahnen zog die Prozession in Richtung Stadtmitte. Der Zar hielt sich außerhalb der Hauptstadt auf, doch ministeriell war angeordnet worden, dass Reiterschwadronen die Demonstranten daran hindern sollten, auf den Platz vor dem Palais zu gelangen. Während der Prozessionszug sich weiterbewegte, eröffneten Infanteristen das Feuer. 200 Demonstranten wurden getötet, 800 weitere verwundet. Der „Petersburger Blutsonntag“ – so wurde das Massaker später genannt – bescherte dem Land ein Trauma. Die nächsten Monate brachten Streiks, Rebellionen, Demonstrationen und politische Organisationstätigkeit. Jetzt schloss sich die im Entstehen begriffene Arbeiterbewegung mit den gebildeten Mittelschichten und dem Landadel zu einem „allrussisch-nationalen Kampf“ für eine Verfassung und Bürgerrechte sowie für eine Beendigung des russisch-japanischen Kriegs zusammen.119


Petersburger Blutsonntag 1905: Truppen feuern auf Demonstranten

Im ganzen Reich breiteten sich den Frühling hindurch bis in den Sommer Streiks aus, die anfänglich eine zornige Reaktion auf den Blutsonntag waren. Mit und in ihnen entstand eine besser organisierte Arbeiterbewegung. Zumeist handelte es sich um (oft sehr heftige) Konflikte mit den Arbeitgebern um Löhne und Arbeitszeiten, doch die Eingriffe der Obrigkeit verliehen diesen Auseinandersetzungen einen politischen Charakter. An einigen Orten gingen die Arbeiter auf die Straße und trugen Plakate mit der Aufschrift „Nieder mit der Autokratie“ und „Nieder mit dem Krieg“, aber Revolutionäre waren bei den Streikenden nicht immer wohlgelitten. Eisenbahnarbeiter in Saratow, die im Januar erfolgreich für einen neunstündigen Arbeitstag und Lohnerhöhungen sowie gegen zwangsweise Überstunden gestreikt hatten, hinderten sozialistische Parteigänger daran, sich in den Streik einzumischen. Der Erfolg der Arbeiter von Saratow ermutigte einen Monat später die Beschäftigten der Südlichen Eisenbahngesellschaft, ebenfalls zu streiken, und auch sie waren erfolgreich: Sie erlangten einen Achtstundentag, konnten Delegierte wählen und man versprach ihnen Versammlungsfreiheit. Als die Regierung über die Eisenbahnen das Kriegsrecht verhängte, um der Streikwelle Einhalt zu gebieten, beschleunigte sie die Bildung des (politisch neutralen) Allrussischen Eisenbahnerverbands.120

Besonders stürmische Unruhen gab es im polnischen Łódź, wo die Konflikte mit der russischen Obrigkeit nationalistisch unterfüttert waren. Der Krieg mit Japan hatte der polnischen Wirtschaft schwer geschadet: 100.000 Arbeiter waren arbeitslos geworden, und so hatte der Blutsonntag für eine überaus heftige Reaktion gesorgt. Am 5. Juni eröffneten Truppen das Feuer auf eine Demonstration und erschossen zehn Arbeiter. Am nächsten Tag begannen zornige Arbeiter mit dem Bau von Barrikaden und töteten einige Polizisten und Angehörige von Militärpatrouillen. Der nun folgende Aufstand wurde von sechs Infanterie- und einigen Kavallerieregimentern, die extra nach Łódź abkommandiert worden waren, niedergeschlagen. Polnische Nationalisten kamen den Aufständischen zu Hilfe, wobei es zu Zusammenstößen zwischen Anhängern der Polnischen Sozialistischen Partei Józef Piłsudskis und den eher rechtsgerichteten Milizionären von Roman Dmowski kam. Russische Truppen warfen den Aufstand gnadenlos nieder, und es gab mehr Tote und Verwundete als am Petersburger Blutsonntag.121

Die Streikwelle erschütterte das ganze russische Reich und umfasste schließlich alle Schichten der Lohnarbeiterschaft, vom Metallfacharbeiter bis zur ungelernten Textilarbeiterin, von Handwerkern bis zu Angestellten. Ein zentrales Anliegen der Streikbewegung war die Gründung von Gewerkschaften und Kooperativen. An der Spitze dieser Bewegung standen städtische Facharbeiter, darunter Handwerker, Angestellte und Ladenarbeiter, die unter den Einfluss von sozialistischen Agitatoren geraten waren. Vor allem die Drucker zeigten sich kampfbereit: Ihr Streik im September für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen war das Vorspiel zum Generalstreik im Oktober.122 Leider ungenauen Zahlen zufolge gab es 1905 an die 14.000 Streiks, an denen sich 2,86 Millionen Arbeiter beteiligten, was auf die internationale sozialistische Bewegung großen Eindruck machte.123

Der Generalstreik, der im Dezember 1904 auf den Ölfeldern von Baku begann, war in vielerlei Hinsicht insofern typisch für die Streiks von 1905, als die Streikenden unbedingt konkrete Verbesserungen anstrebten, ökonomische und politische Forderungen eng miteinander verknüpft waren, zerstörerische Wutausbrüche sich Bahn brachen, Spannungen zwischen Arbeitern und revolutionären Parteien entstanden und im Lager der Revolutionäre selbst erbittert um die Vorherrschaft gekämpft wurde. Im Sommer 1904 kamen die drei Brüder Schendrikow, die einer Kosakenfamilie des Siebenstromlandes entstammten, aus Taschkent in Baku an und gründeten die Organisation der Arbeiter von Balachanski und Bibi-Eibat. Zwar unterstützten die Sozialdemokraten vor Ort (hauptsächlich Menschewiki) die Initiative, doch wurden sie schon bald von den Schendrikows beiseitegedrängt. Die Kosaken griffen auch die kleine Gruppe von Bolschewiki an, weil sie ihr vorwarfen, sie würde die ökonomischen Forderungen der Arbeiter verachten und die demokratische Kontrolle der SDAPR durch Arbeiter ablehnen. Die Brüder, insbesondere Ilja, waren energiegeladene Redner, und ihr Einfluss wuchs rasch. Im Dezember 1904 hatte die Organisation bereits 4000 Mitglieder, während es die Bakuer Sozialdemokratie auf gerade einmal 300 brachte.

Schon im November begann die Organisation mit der Vorbereitung eines Generalstreiks zur Durchsetzung ihrer Forderungen: beträchtliche Lohnzuwächse, ein Dreischichtensystem, Lohnfortzahlung bei Urlaub und Krankheit, die Entlassung all jener Verwalter, die den Arbeitern nicht gefielen, darüber hinaus politische Forderungen nach Bürgerrechten und dem Sturz der Autokratie. Die Bolschewiki wandten ein, dass ein Streik im Winter unsinnig sei, weil weniger Öl durch das Kaspische Meer gepumpt würde, und sie forderten eine politische Demonstration, die zu einem Aufstand führen könnte. Doch als die Organisation der Brüder am 13. Dezember mit der Arbeitsniederlegung begann, folgten ihr 50.000 Arbeiter mit großer Begeisterung. Aber die Bolschewiki verbündeten sich mit der armenischen sozialistischen Partei („Gnchak“) und der „Hummet“, einer hauptsächlich aserbaidschanischen Partei, und konnten so die Führung des Streikkomitees übernehmen. Dieses trat nun in Verhandlungen mit den Arbeitgebern ein und schien einen guten Abschluss erreichen zu können. Das Komitee wies die Arbeiter an, am 28. Dezember die Arbeit wieder aufzunehmen, aber die Organisation bezichtigte das Komitee des Streikbruchs und setzte 265 Bohrtürme in Brand, was der Ölindustrie großen Schaden zufügte. Angesichts dessen gab der Bund der Ölindustriellen nach und erfüllte die meisten Forderungen der Organisation. So wurde der erste kollektive Vertrag in Russland unterzeichnet.

Während des Frühlings 1905, als die Arbeiter sich überall im russischen Reich erhoben, wuchs die Organisation, die sich nun Union der Arbeiter von Baku nannte, noch weiter und organisierte bei einer ganzen Reihe großer Ölgesellschaften Streiks. Grundforderung war, dass Arbeiterkommissionen gewählt werden sollten, die das Recht hätten, mit den Arbeitgebern zu verhandeln. Im November 1905 spielten diese Kommissionen eine entscheidende Rolle bei der Errichtung eines Sowjets in Baku, der von den Mitgliedern der Organisation und von Menschewiki dominiert wurde. Allerdings hatten auch die Bolschewiki in den vergangenen Monaten an Stärke gewonnen und beredeten am 13. Dezember den Sowjet dazu, einen Generalstreik auszurufen. Der brachte indes keine Resultate, wohl auch deswegen, weil die Brüder Schendrikow nicht mehr so darauf erpicht waren, die Arbeitgeber anzugreifen. Unterdessen verloren ihre menschewistischen Bündnispartner das Vertrauen in die Union, weil es Hinweise darauf gab, dass die Brüder von der Ölindustrie Zahlungen erhielten. Möglicherweise war der Vorwurf der Bolschewiki, die Union sei von Anfang an der Versuch gewesen, eine regierungstreue Gewerkschaft ins Leben zu rufen, nicht ganz unbegründet. (Auch der Polizeichef, Sergej Subatow, hatte eine solche gegründet.) Doch wenn die Brüder tatsächlich von den Industriellen oder der Polizei finanziell unterstützt wurden, taten sie jedenfalls nichts, um die Militanz der Arbeiter einzuschränken, ganz im Gegenteil. Allerdings richtete das Exposé, das den Brüdern ihre Nähe zu den Arbeitgebern vorwarf, dauerhaften Schaden an, und die Union zerfiel. Ironischerweise wurde Ilja, der charismatischste der Brüder, nach der Oktoberrevolution Repräsentant der kosakischen Heerscharen des Siebenstromlandes unter Admiral Koltschak. 1925 gründete Ilja in Schanghai einen Kosakenbund.124

Unterdessen wuchs im Sommer 1905 auch die liberale Opposition rasch und übte einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die Arbeiterbewegung aus. Studentenproteste führten zur monatelangen Schließung von Universitäten, und der Bund der Bünde [der Zusammenschluss der Berufsverbände; d. Ü.], der für das allgemeine Wahlrecht für Männer eintrat, half Freiberuflern, Angestellten und einigen Arbeitergruppen, Berufsverbände zu bilden. Bis Oktober hatten sich 100.000 Personen dem Bund angeschlossen. Am 6. August stimmte Nikolaus II. der Bildung einer Beratenden Versammlung zu – eine Konzession, die der liberalen Opposition entgegengekommen wäre, wenn der Zar sie bereits im Februar gemacht hätte. Jetzt aber war es zu spät. Am 4. Oktober begann die Gewerkschaft der Eisenbahnarbeiter mit einem Streik, der das ganze Land lahmlegte. Das war der Zündfunke für den Generalstreik, der das Machtgefüge zugunsten der oppositionellen Kräfte verschob. Während der nächsten Wochen legten Hunderttausende von Arbeitern die Arbeit nieder, um einen Achtstundentag und das Ende der Autokratie zu fordern. Der Streik wurde von Studenten und Freiberuflergruppen unterstützt. In Moskau kamen vom 12. bis zum 18. Oktober Intellektuelle und Freiberufler zusammen, um die Partei der Konstitutionellen Demokraten zu gründen (kurz: KD, deshalb „Kadetten“). Diese liberale Partei forderte das allgemeine Wahlrecht, eine Verfassunggebende Versammlung, eine Landreform und viele radikale Sozialreformen.

Während des Generalstreiks im Oktober wurde eine neue Organisationsform geschaffen. Sie sollte für die zukünftige revolutionäre Bewegung von weitreichender Bedeutung sein. Am 13. Oktober wurde in St. Petersburg von menschewistischen Arbeiterführern ein Sowjet gebildet, der schon bald die Rechte und Pflichten einer revolutionären Regierung versah: Er stellte eine Miliz auf die Beine, verteilte Lebensmittel und veröffentlichte eine im ganzen Reich verbreitete Zeitung. Allerdings lehnte der Sowjet das politische Programm der SDAPR ab und erklärte, es gebe „keine Parteien mehr“. Schon bald gab es in gut 50 Städten Sowjets, die nicht nur Streiks organisierten, sondern darüber hinaus Milizen aufstellten, den Zug- und Postverkehr kontrollierten und Zeitungen druckten. In Noworossijsk am Schwarzen Meer waren nach einer Meuterei der Garnison die städtische Duma und der Bürgermeister bereit, die Befehlsgewalt des Sowjets anzuerkennen.125 Die Bildung von Sowjets könnte den Ausschlag dafür gegeben haben, dass der Zar endlich Wittes Rat befolgte und ernsthaft bereit war, politische Konzessionen zu machen, denn am 17. Oktober unterschrieb er ein Manifest, das Bürgerrechte und eine legislative Versammlung oder Duma garantierte, die auf allgemeinem, aber ungleichem Wahlrecht beruhte und durch ein Oberhaus, den sogenannten Staatsrat, ergänzt werden sollte. Für die gemäßigten Kräfte der liberalen Opposition, denen die Eskalation der Gewalt auf dem Lande und die Arbeiterunruhen in den Städten unheimlich zu werden begann, war das ein Sieg. Die Linke aber war unzufrieden.

Anfang November verlor der Generalstreik in der Hauptstadt an Kraft, und die Unternehmer planten eine Aussperrung. In Moskau jedoch wurde erst Ende November auf Initiative der Menschewiki mit Unterstützung durch Bolschewiki und Sozialrevolutionäre ein Sowjet gebildet. Am 2. Dezember traf die Sowjetbewegung ein empfindlicher Schlag, als 260 Abgeordnete des Petersburger Sowjets verhaftet wurden. Unter ihnen befand sich auch Leo Trotzki, der als ein Vorsitzender des Sowjets bei den turbulenten Ereignissen eine führende Rolle gespielt hatte. Nach einigem Zögern war der Moskauer Sowjet bereit, einen Generalstreik auszurufen, dem zu seiner großen Überraschung 80.000 Arbeiter folgten. Das spornte die Bolschewiki an, mit aller Macht auf das hinzuarbeiten, was sie schon das ganze Jahr über gefordert hatten: den bewaffneten Aufstand. Am 9. Dezember, nach harten Zusammenstößen zwischen Regierungstruppen und Streikenden, errichteten Arbeitermilizen im Stadtteil Presnia Barrikaden. Bei den Straßenschlachten der folgenden Woche belegten die Regierungstruppen die Streikenden mit Sperrfeuer und schossen den Aufstand mit entsetzlicher Brutalität zusammen. Insgesamt kamen an die 700 Aufständische zu Tode, 2000 wurden verwundet, während die Gegenseite nur 70 Opfer zu beklagen hatte.126


Dezember 1905: Der bewaffnete Aufstand in Moskau

Die repressiven Staatsorgane blieben weitgehend intakt. Von Januar bis Oktober 1905 musste die Armee nicht weniger als 2700-mal ausrücken, um Bauernaufstände niederzuschlagen.127 Die meisten Soldaten aber waren Bauern, die nur unwillig gegen ihre eigenen Leute vorgingen, weshalb es Zweifel an ihrer Verlässlichkeit gab. Doch selbst bei der Infanterie, dem Armeeteil, der am stärksten von Unruhen betroffen war, blieben zwei Drittel der Einheiten und die überwiegende Mehrheit der Offiziere loyal. So konnte die Regierung mit relativ kleinen, gutbewaffneten Trupps wirkungsvoll gegen schlecht ausgerüstete Gruppen von Bauern und Arbeitern vorgehen. Am stärksten war die Unzufriedenheit in der Marine verbreitet, wo die Nachwirkungen der Niederlage gegen Japan unmittelbar zu spüren waren. Am 14. Juni 1905 rebellierten Matrosen der Schwarzmeerflotte auf dem Panzerkreuzer Potemkin gegen die Offiziere; direkter Anlass waren verdorbenes Fleisch und die miserablen Arbeitsbedingungen. Matrosen waren zumeist alphabetisiert und hatten genügend Zeit, um ihre Probleme mit umfassenderen politischen Themen zu verbinden. Es war daher kein Wunder, dass nach dem Generalstreik vom Oktober die Disziplin nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Der im September unterzeichnete Vertrag von Portsmouth beendete den Krieg mit Japan, trug aber nichts dazu bei, den wachsenden Unmut zu dämpfen: Im November/Dezember gab es mehr als 200 weitere Zwischenfälle, und noch einmal 130 zwischen Januar und Juni 1906.128 Ende 1905 schien es der Regierung angeraten, 100.000 Kosaken zu aktivieren, deren Privilegien mit Sonderurkunden bestätigt wurden. Doch Verlass war nicht einmal auf die Kosaken – den einzigen sozialen Stand, der durch seine militärische Verpflichtung dem Staat gegenüber definiert war. Im Juni 1906 revoltierten die Kosaken des Ust-Medwedizkij-Distrikts im Dongebiet und erklärten, „der Polizeidienst [sei] mit dem Titel eines Kosaken als Kämpfer und Verteidiger des Vaterlands unvereinbar“.129 Bei Soldaten und Bauern kam es anlässlich der Eröffnungssitzung der Ersten Duma Ende April 1906 zu weiteren Turbulenzen, weil eine umfassende Landreform erwartet wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Arbeiterbewegung ihren Höhepunkt jedoch bereits überschritten, was der Regierung ermöglichte, ihre Autorität allmählich zurückzugewinnen.

Mit dem Frühling 1905 breitete sich eine riesige Welle von Bauernaufständen über die zentrale Schwarzerderegion, die mittleren Wolgaprovinzen (Pensa, Samara, Saratow und Simbirsk) und die Ukraine aus. Bis zum Sommer wuchs sie an, ging im Spätsommer zurück und erhob sich erneut nach dem Oktobermanifest des Zaren. Dann verebbte sie, um von Mai bis August 1906 mit neuer Kraft zurückzukehren.130 Die Bauern nutzten die zu starke Belastung der repressiven Staatsorgane, um mit den Großgrundbesitzern abzurechnen, sie „aus ihren Adelsnestern auszuräuchern“. In Woronesch, einer der unruhigsten Provinzen der zentralen Schwarzerderegion, ballte sich die Rebellion in jenem Drittel der Landkreise zusammen, die von Großgrundbesitzern beherrscht wurden.131 Sie wurden von den Bauern in einem bislang nicht gekannten Umfang angegriffen: Die Bauern verbrannten und zerstörten Gutshöfe und Nebengebäude, hackten illegal Holz für den Eigenbedarf, eigneten sich Wiesen, Weiden und Ackerland an, plünderten Scheunen und Kornspeicher, verweigerten Pachtzahlungen und Arbeitsleistungen. In den baltischen Provinzen und im Kaukasus waren zudem noch nationale Gefühle im Spiel, weshalb die Bauern ihre Angriffe gegen Institutionen und Symbole der russischen Obrigkeit richteten.132

Die Regionen mit hoher Militanz der Bauern waren zumeist jene, in denen die soziale Differenzierung der Bevölkerung weniger entwickelt war. Die Mehrheit der an den Unruhen Beteiligten entstammte dem größten Teil der Bevölkerung, der bäuerlichen Mittelschicht, wobei auch wohlhabendere Bauern an den Aufständen teilnahmen.133 In den Provinzen der Westukraine – Kiew, Podillja und Wolhynien –, in denen der Agrarkapitalismus weiter entwickelt war, ging der Aufruhr häufig von den armen Bauern aus.134 Junge Männer waren die Anführer, während die Frauen eine wichtige Rolle bei der kollektiven Beschaffung von Nahrungsmitteln und Tierfutter spielten.135 Sicher hungerten die Bauern nach Land, doch muss bezweifelt werden, dass wirtschaftliche Not allein die direkte Ursache für die Revolte war. In Teilgebieten der zentralen Schwarzerde- und der mittleren Wolgaprovinz hatte es 1905 Missernten gegeben, doch im Jahr zuvor eine Rekordernte, und in der Ukraine waren die Erträge normal. Die entscheidenden Faktoren waren wohl zum einen die Lähmung, die die Obrigkeit befallen hatte, und zum anderen der Einfluss der Revolution selbst, die zu einer raschen Politisierung von Teilen der Landbevölkerung führte. Die Sozialrevolutionäre waren auf dem Land sehr aktiv; sie riefen bäuerliche Brüderschaften ins Leben und schürten Erwartungen im Hinblick auf einen Sozialismus. Doch der im Juli 1905 gegründete Allrussische Bauernbund hatte seine Basis in den Semstwos und wollte die Bauern von gewaltsamen Aktionen abbringen. Stattdessen sollten sie eine Massenpartei bilden, die sich dem „gesamtnationalen Kampf“ für eine Verfassung und vollständige Bürgerund politische Rechte anschließen und schon bald die Abschaffung des Privateigentums an Land durchsetzen würde.136

Das Oktobermanifest hatte sich über die Landfrage ausgeschwiegen, aber weithin herrschte die Annahme vor, dass die Duma den Übergang von Ländereien der Großgrundbesitzer in die Hände der Bauern veranlassen würde. Doch die Erwartungen der Landbevölkerung gingen noch weiter in Richtung auf eine Verstaatlichung des Landes, eine gewählte Verfassunggebende Versammlung, Bürgerrechte und eine politische Amnestie.137 Vor allem war es die Einberufung der Duma im April 1906, die das politische Bewusstsein auf eine entscheidend neue Stufe hob. An die Duma gerichtete Petitionen der Bauern – die aufzusetzen ihnen politische Aktivisten und die ländliche Intelligenzija geholfen hatten – zeichneten ein düsteres Bild von Armut, Ruin, Unwissen und fehlenden Rechten. Hauptsächliche Forderungen richteten sich auf die Abschaffung privaten Grundbesitzes und seine Umverteilung an diejenigen, die das Land bearbeiten würden. Selbst in einer nicht der Schwarzerderegion angehörenden Provinz wie Wladimir, 190 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegen, verlangte über ein Viertel der Petitionen die Rückgabe von Ländereien, die einst von Leibeigenen bearbeitet worden, aber 1861 im Besitz des Adels geblieben waren.138 Darüber hinaus wurden Forderungen nach Abschaffung der Entschädigungszahlungen und indirekten Steuern und für die Aufteilung von Wäldern und Heuwiesen erhoben. Diese Petitionen zeigen, dass die politische Isolierung des Landes sich aufzulösen begann. Als 1907 die Revolution niedergeschlagen war, hatte das russische Reich die heftigste Welle bäuerlicher Aufstände seit der Pugatschow-Rebellion von 1773–75 erlebt, und der jahrhundertealte Glaube an den Zaren als „Väterchen“ war in sich zusammengebrochen.139

In den nicht-russischen Grenzgebieten setzte die Revolution die Energien eines separatistischen Nationalismus frei. In der Ukraine hatte bereits 1900 ein Studentenkongress in Charkow eine Revolutionäre Ukrainische Partei gegründet, die sozialistisch orientiert war und die Selbstbestimmung für die Ukraine anstrebte. Im Dezember 1905 wurde daraus die Sozialdemokratische Arbeiterpartei der Ukraine, doch wenngleich es zunehmende Unterstützung für bestimmte Formen von Autonomie gab, arbeiteten viele Sozialisten, die Massenstreiks und Landnahmen organisierten, im Rahmen der allrussischen Parteien, insbesondere der SDAPR, der Sozialrevolutionären Partei (SR) und dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund (kurz: „Bund“).140 Im Südkaukasus war die Revolution besonders gewalttätig; es gab unzählige Massenstreiks, bewaffnete Zusammenstöße und Mordanschläge auf Regierungsbeamte. Im georgischen Gurja organisierten Menschewiki, Lehrer und Priester die Bauern, um die zaristische Verwaltung auszuschalten. An ihre Stelle trat ein revolutionäres Gremium, das die Leitung der Kommune übernahm.141 In Armenien beklagte der Leiter der zaristischen Polizei, dass die sozialistische Bewegung namens Daschnakzutjun („Armenische Revolutionäre Föderation“), die von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt wurde, einen quasi-unabhängigen Staat mit eigener Miliz, Verwaltung und Gerichtswesen ins Leben gerufen hatte.

Auch in den baltischen Provinzen war die Revolution am Werk. In Lettland fand am 13. Januar 1905 eine Demonstration statt, auf der Streikende gegen den Petersburger Blutsonntag protestierten. Russische Truppen eröffneten das Feuer, töteten 73 Demonstranten und verwundeten 200. Während des ganzen Sommers traten Land- und Industriearbeiter in den Streik, Bauern verweigerten Pachtzahlungen und plünderten die Güter deutscher Großgrundbesitzer, während die Öffentlichkeit von Russen geleitete Gerichte und Verwaltungseinrichtungen boykottierte.142 Am 16. Oktober lösten russische Truppen in Reval (Tallinn) eine Demonstration, bei der zum ersten Mal die estnische Flagge gezeigt wurde, gewaltsam auf: Es gab 94 Tote und 200 Verwundete. Nun wurde auch die erste estnische Partei, die Nationale Fortschrittspartei, gegründet.

Von der Revolution sehr viel weniger betroffen war die umfangreiche Bevölkerung der fast 20 Millionen Muslime im russischen Reich, zu denen die unterschiedlichen Ethnien Zentralasiens, die Aseri-Türken und die Bergvölker Transkaukasiens sowie die Tataren der mittleren Wolga, des Urals und der Krim gehörten.143 Letztere bildeten in gewisser Weise eine Ausnahme, weil sich hier ein beginnender Nationalismus abzeichnete. Die Tataren, im Reich zwischen den Russen verteilt, waren die sozioökonomisch fortgeschrittenste Gruppe unter den muslimischen Ethnien: In der Wolgaregion gab es eine Bourgeoisie, während auf der Krim ein Landadel nach wie vor seine Privilegien bewahrte. Unter den Tataren hatten reformistische Intellektuelle, Vertreter des Dschadidismus (der Name stammte von der „neuen Methode“, die sie für die schulische Erziehung propagierten), in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts damit begonnen, die muslimische Kultur gemäß den Ideen von Fortschritt und Aufklärung neu zu entwerfen, wobei sie in den ulama, den Religionsgelehrten des Islams, erbitterte Gegner fanden. 1905 gründeten Kaufleute, Geistliche, Lehrer und Anwälte, die hauptsächlich aus Kasan, Ufa und anderen Städten der Wolga- und Uralregionen stammten, die Ittifak al-Mülimin, den „Bund der russischen Muslime“. Er forderte ein Vertretungsorgan für alle Muslime, das gleiche Recht für Mullahs wie für orthodoxe Priester und die Lockerung von Beschränkungen für Schulerziehung und Presse. Allerdings gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass die Muslime in diesen Regionen nach einem unabhängigen Staat strebten.144

Die zahlenmäßig stärkste muslimische Bevölkerungsgruppe lebte in Turkestan, das 1867 dem Reich angegliedert worden war, dessen vollständige Eroberung sich aber bis 1899 hinzog. Turkestan war, zusammen mit den alten Städten Samarkand und Buchara in Transoxanien, eine ausgedehnte Region der Oasen- und Flusskultur, die im Norden durch Wüstensteppe (das heutige Kasachstan) und im Südwesten durch Wüste (das heutige Turkmenistan) begrenzt wurde. Die sesshaften Bewohner der Oasen, die unter den Bolschewiki Identität als Usbeken und Tadschiken entwickelten (wobei Letztere der iranischen Kultur näherstanden als den Turk-Kulturen), verbanden Landwirtschaft mit Handel und Handwerk. Eine Mehrheit der in den nördlichen Steppen lebenden Kasachen, die Kirgisen der östlichen Hochländer – die von den Zeitgenossen beide unter der Sammelbezeichnung „Kirgisen“ fungierten – sowie die Turkmenen im Südwesten verbanden nomadische Viehzucht mit Karawanenhandel und marginaler Landwirtschaft.

In ganz Zentralasien bestimmte sich Identität über die Zugehörigkeit zu Clans, Dörfern oder Oasen und, auf der Makroebene, über die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Muslime. Ethnisch-nationale Identitäten traten erst nach 1917 hervor und klassenmäßig bestimmte Identitäten so gut wie gar nicht. In dieser Region sorgte die russische Kolonisierung für zukünftige Konflikte, und das besonders in der kasachischen Steppe, die länger unter russischer Kontrolle gestanden hatte als Turkestan, und wo sich zwischen 1906 und 1912, mit Hilfe der von Orenburg nach Taschkent führenden Eisenbahnlinie, 1,5 Millionen Russen ansiedelten. Taschkent, die größte Stadt Turkestans, hatte bereits eine zahlenmäßig umfangreiche russische Bevölkerung. Der zukünftige Konflikt sollte zwischen Einheimischen und Siedlern ausgetragen werden. Es ging dabei um Land- und Wasserrechte, denn das Ferghana-Tal war ein wichtiger Wasserlieferant für den intensiven Baumwollanbau.145

Die Revolution von 1905 machte die Beziehungen zwischen Russisch-Orthodoxer Kirche und Staat enorm schwierig. Ein Edikt vom 17. April 1905 garantierte den Untertanen des Reichs Gewissensfreiheit, was in praxi hieß, dass Mitglieder der orthodoxen Kirche zu einer anderen christlichen Denomination übertreten konnten. Die Geistlichen waren wütend, weil sie vom Edikt positive Auswirkungen auf die schnell wachsenden protestantischen Denominationen wie etwa Baptisten und Evangelikale sowie auf die Uniaten in der Ukraine befürchteten. Sie interpretierten die Maßnahme als direkten Angriff auf die russische Identität. Die Geistlichen unterstützten die Nationalisten in der Duma (während sie für die Protofaschisten auf der Straße blind blieben) und konnten so verhindern, dass aus dem Edikt ein Gesetz wurde. Nikolaus belastete die Beziehungen zur Kirche auch durch sein Verbot, ein Konzil abzuhalten (das letzte war 1681/82 zusammengetreten). Auch kirchenintern kam es durch die Revolution zu Spannungen: Radikale Geistliche forderten eine Reform an Haupt und Gliedern, während im November aufgrund von studentischen Protesten 43 theologische Seminare geschlossen wurden. Hier und da trat ein Bischof wie z.B. Antonin Granowski gegen die Autokratie auf, doch die Mehrheit der Kirchenoberen betrachtete die revolutionäre Bewegung mit Misstrauen, und eine zahlenmäßig nicht eben geringe Minderheit kritisierte lautstark alle Zugeständnisse, die auf eine Verfassung oder Bürgerrechte hinausliefen. Dennoch waren die Beziehungen zwischen Nikolaus und der Kirche unheilbar zerrüttet, und die Geistlichkeit ließ ihn im Februar 1917 bedenkenlos im Stich.

Immerhin ging die Autokratie relativ unbeschädigt aus der Revolution hervor, was jedoch wenig mit kluger politischer Taktik zu tun hatte. Während des ganzen Jahres 1905 war die Regierung unfähig, einer viele soziale Schichten umfassenden Bewegung, die politischen und gesellschaftlichen Wandel forderte, wirksam zu begegnen. Hätte man schon früh im Jahr Zugeständnisse gemacht – zwei offizielle Kommissionen hatten empfohlen, den Arbeitern Vertretungen, Gewerkschaften und das Streikrecht zu gewähren –, wären die Eskalation der politischen Ambitionen und die Gewaltwelle, die das Land überrollte, vielleicht verhindert worden. Aber die Empfehlungen wurden ad acta gelegt. Zum Glück für die Autokratie waren die oppositionellen Gruppierungen – der liberale Bund der Bünde ebensowenig wie die Arbeiter-, die Bauern- und die nationalistische Bewegung – nicht besonders gut organisiert. Alle entstanden für sich aus dem Chaos der Ereignisse, und es brauchte Zeit, bis sich eine Führerschaft, politische Strukturen und Ziele herauskristallisiert hatten.

Bis zum Oktobermanifest gab es eine locker gefügte Einheit, die als Ziel die Einführung von Bürgerrechten und eine Art von demokratischem Gemeinwesen verfolgte, doch eine einheitliche nationale Führung war nicht vorhanden. Das Manifest trieb einen Keil in die Bewegung, der die Reformer von den Revolutionären trennte. Darüber hinaus hatte jede Bewegung ihr eigenes Tempo: Es gab Unterschiede zwischen Stadt und Land wie auch zwischen Bauerntum und Arbeiterbewegung, und diese fehlende Synchronizität konnte von der Regierung ausgenutzt werden. Das Oktobermanifest machte bedeutsame Zugeständnisse, die allerdings nicht ausreichten, um die Unruhen zu besänftigen, und als die Regierung sah, welche Radikalisierung die „Tage der Freiheit“ mit sich brachten, meinte sie, die Ordnung nur durch gewaltsame Unterdrückung wiederherstellen zu können. Auch hatte die Regierung Glück, dass die Streitkräfte trotz schwankender Loyalität überwiegend zuverlässig blieben. In dem Maße, in dem die Bewegung an Kraft verlor, setzte eine immer unbarmherziger werdende Unterdrückung ein.

Revolution in Russland

Подняться наверх