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Am Vorabend des Krieges

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Die Goldminengesellschaft Lena, von der etwa 30 Prozent der Anteile in britischer Hand waren, lag in Sibirien nordöstlich des Baikalsees. Die Arbeitsbedingungen waren ein Dauerthema bei Beschwerden der Arbeiter, und die Kritik am miserablen Essen führte im März 1912 zu einem Streik. Die Streikenden forderten unter anderem den Achtstundentag, eine 30-prozentige Lohnerhöhung, die Beseitigung von Geldstrafen und die Verbesserung der Nahrungsversorgung. Diese Forderungen wurden der Gesellschaft vorgetragen, die die Mitglieder des Streikkomitees verhaften ließ. Am 4. April eröffneten Soldaten das Feuer auf Minenarbeiter, die die Freilassung ihrer Kollegen forderten. Dabei wurden 200 Arbeiter getötet und 400 schwer verletzt.45 Das Massaker löste einen Sturm der Empörung aus, der in seiner Wucht den Reaktionen auf den Petersburger Blutsonntag vergleichbar war. Im ganzen Reich flammten Streiks und Demonstrationen auf, die von einer breiten Öffentlichkeit mitgetragen wurden. Besonders intensiv waren die Streiks in den Großstädten wie St. Petersburg, Moskau und Riga. Die Wirtschaft boomte wieder, und somit waren die Streikenden eher bereit, ihre Arbeit niederzulegen.

Den Statistiken der Fabrikinspektionsbehörde zufolge, die etwa zwei Drittel der Gesamtzahl an Fabrikarbeitern erfasste, gab es 1912 insgesamt 2032 Streiks mit 725.491 Beteiligten; 1913 waren es 2404 mit 887.096 Beteiligten, und in der ersten Hälfte von 1914 zählte man 3534 mit über 1,3 Millionen Beteiligten. Darüber hinaus waren in diesem Jahr die Streiks vorwiegend politischer Provenienz, wobei Metallarbeiter in der Hauptstadt die große Mehrheit bildeten.46 Die Radikalisierung der Arbeiterbewegung erreichte ihren Höhepunkt am 3. Juli 1914, als Regierungstruppen auf Arbeiter der Putilow-Werke schossen und dabei zwei töteten. Das führte zu einem Generalstreik, bei dem auf den Straßen der Hauptstadt sogar Barrikaden errichtet wurden. Die Petersburger Gesellschaft der Fabrik- und Werksbesitzer, „die militanteste arbeiterfeindliche Vereinigung von Geschäftsleuten im Reich“, reagierte mit Aussperrung.47 In Berichten der Geheimpolizei heißt es, der Streik habe „äußerst scharfe und beunruhigende Formen angenommen“. Doch trotz ihrer Befürchtungen blieb sie allezeit über die Aktivitäten der revolutionären Linken gut informiert und konnte die Führer von Untergrundgruppen unschädlich machen, wenn es darauf ankam.48

Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen konnten sich Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre in den Jahren 1912 bis 1914 nur recht mühsam erholen, da sie ständig polizeilicher Infiltration und Verhaftung ausgesetzt waren. Im Januar 1912 trafen sich 18 Bolschewiki in Prag und bestimmten ihr eigenes Zentralkomitee (dessen eines Mitglied, Roman Malinowski, die Ochrana in allen Einzelheiten über die Vorgänge informierte), und dieses Ereignis gilt für gewöhnlich als der Beginn einer eigenständigen bolschewistischen „Partei“. Im Mai 1912 gaben Bolschewiki in Russland die Zeitung Prawda („Wahrheit“) heraus, die viele Leser aus der Arbeiterschaft anzog. Bei den Gewerkschaften gab es in der politischen Führerschaft einen Linksruck; in den Gewerkschaften der Metallarbeiter und Schneider in St. Petersburg und in der Schneidergewerkschaft von Moskau verdrängten bolschewistische Unruhestifter die eher vorsichtigen Menschewiki von der Spitze.49 Aber das Fraktionengerangel in der sozialistischen Linken schreckte viele Arbeiter ab, und eine beträchtliche Anzahl entwickelte zu politischen Parteien aller Art eine feindselige Haltung.

Trotz positiver Entwicklungen warf K. K. Jurenjow, Führer der „Meschrajonzy“, einer im November 1913 zur Wiederherstellung der Einheit der Sozialdemokraten gegründeten Gruppe, einen düster gefärbten Blick zurück auf den Zustand der Petersburger Sozialdemokratie zu dieser Zeit: „Es waren die trübsten Tage in der Geschichte der SDAPR; in diesen Jahren florierten Liquidationismus und Feindschaft gegenüber politischen Parteien, und es herrschten die abscheulichsten fraktionellen und interfraktionellen Streitereien. Die Auseinandersetzungen zwischen Bolschewiki und Menschewiki erreichten ihren Höhepunkt mit Konflikten über Vereine und Bildungseinrichtungen.“50 Es sieht so aus, als hätten die Bolschewiki das neue Klima der Arbeitermilitanz besser nutzen können als ihre Gegner, und sie haben wohl zu dieser Zeit die Führung der lettischen Sozialdemokraten übernehmen können.51 Doch sollte man das Ausmaß der Erholung der revolutionären Linken nicht übertreiben. Die Anzahl der sozialdemokratischen Organisationen, die 1911 mit 109 ihren Tiefpunkt erreicht hatte, stieg bis 1913 auf 132 an, fiel dann aber nach Kriegsausbruch dramatisch ab: Im Februar 1917 arbeiteten nur noch 39 Organisationen, zumeist auf Provinzebene. Die Anzahl der sozialrevolutionären Organisationen stieg während dieser Zeit überhaupt nicht; 1913 gab es 102 Gruppen und 1917 nur noch 18.52

Unterdessen stolperte die etablierte Politik auf ihrem kurzsichtigen Kurs weiter – Duma, Zarenhof und Ministerrat waren unfähig zur Zusammenarbeit. Ein vielsagendes Beispiel ist die 1913 gefällte Entscheidung, die Alkoholherstellung zu verbieten, obwohl der Verkauf von Alkoholika 28 Prozent des Steuereinkommens der Regierung ausmachte.53 Seit Ende des 19. Jahrhunderts hatten Geistliche und Gesundheitsexperten damit begonnen, den Alkoholkonsum zu kritisieren, und 1907 verfügten Temperenzgesellschaften über insgesamt 100.000 Mitglieder, aber die Entscheidung, das von Nikolaus 1896 eingeführte Staatsmonopol für den Wodkaverkauf zugunsten eines Totalverbots aufzugeben, scheint seinen Ursprung lediglich in einer Streiterei zwischen Fürst Meschtscherski, dem Herausgeber der Zeitung Der Bürger, und W. N.

Kokowzow, dem Ministerpräsidenten und ehemaligen Finanzminister, gehabt zu haben.

1912 machte Kokowzow sich unbeliebt, als er Rasputins Entfernung vom Hof forderte, was den Zaren verärgerte. Meschtscherski warf dem Ministerpräsidenten „Hysterie“ und „grenzenlose Gehässigkeit“ vor, woraufhin er seinerseits den Vorwurf zu hören bekam, er betreibe „die jüdische Nachsicht gegenüber der Beschädigung des Staats“. Ende 1913 konnte Meschtscherski die Duma gegen Kokowzow aufwiegeln, indem er Kokowzows Erhöhung der Alkoholsteuer aus dessen Zeit als Finanzminister anprangerte. Ohne Rücksicht auf die fiskalischen Folgen redeten Meschtscherski und sein Gefolge dem Zaren ein, es sei seine „heilige Pflicht“, den Alkoholverkauf zu verbieten, um den Gesundheitszustand des russischen Volks zu verbessern. Überraschenderweise stimmte Nikolaus dem Ansinnen zu, und ohne den Finanzminister zu konsultieren, wurde im August 1914 das Totalverbot verkündet. Natürlich kam es zu einem gewaltigen Rückgang der Steuereinnahmen: 1913 hatten sie noch 26,5 Prozent des Staatshaushalts ausgemacht, während es 1916 nur noch 1,5 Prozent waren.54

Kehren wir zur Frage vom Beginn dieses Kapitels zurück: Entfernte sich Russland am Vorabend des Kriegs von der Revolution?55 In einem nachdenklich stimmenden Buch kommt Wayne Dowler zu dem Schluss, dass die unterschiedlichen Kräfte trotz „erheblicher Spannungen … vor dem Krieg eindeutig auf Zusammenarbeit und Integration zielten“.56 Für diese optimistische Aussage lassen sich Zeugnisse anführen. Klar ist, dass die in den „Jahren der Reaktion“ dezimierten revolutionären Parteien der Linken nicht wieder zu der substantiellen Größe von 1906 hatten zurückfinden können. Aber auch die radikale Rechte war im freien Fall begriffen und wurde nur durch Subventionen der Regierung am Leben erhalten.57 Zudem blieb es auf dem Lande ruhig.58 Nach einer revolutionären Situation sah es also nicht aus, selbst wenn man an die Barrikaden in der Hauptstadt denkt. Mit der wichtigen Ausnahme von Gebieten wie dem Kaukasus und, in geringerem Maße, dem Baltikum, schienen Polizei und Innenminister davon auszugehen, mit inneren Unruhen ohne das Eingreifen der Armee fertig zu werden.59

Dowler entgehen die widersprüchlichen Tendenzen in der Zeit nach 1905 natürlich nicht, aber seinen optimistischen Schluss – „mit der Zeit wären unter friedlichen Bedingungen wahrscheinlich die liberalen Mittelschichten gestärkt worden“ – hätten die damaligen Zeitgenossen nicht gezogen. Zu Beginn des Jahres 1913 fragte die Zeitschrift Ogonjok („Flamme“) einige führende Persönlichkeiten nach ihren Erwartungen für das Neue Jahr. Viele erwähnten die „äußerst gedrückte gesellschaftliche Stimmung“, und ein Essay zum Neujahrstag in der Gazeta Kopeika bemerkte, die letztjährigen Wünsche für „neues Glück“ hätten kein „neues“ Glück, sondern „überhaupt kein Glück“ gebracht, stattdessen „Bitterkeit und Enttäuschung“.60 Zwar saß die Zivilgesellschaft fester im Sattel als 1905, doch ist ihre bloße Existenz kein Garant für sozialen Zusammenhalt. Der Drang nach friedlichen Reformen war abgeebbt, und die Regierung wirkte nahezu paralysiert. Das war nicht nur wegen innerer sozialer Konflikte von Bedeutung, deren Gefahr zunahm, sondern weil nunmehr die Gefahr eines Krieges unmittelbar gegeben und die Regierung schlecht darauf vorbereitet war, wenngleich das russische Militär besser dastand als 1904. Die Marine verfügte über moderne Schlachtschiffe, ein großes Heer war gut ausgerüstet, und das Offizierskorps hatte sich qualitativ sehr verbessert.61

Doch hatte die Aufrüstung einerseits Russland militärisch gestärkt, so hatte sie andererseits auch die Spannungen zwischen den Großmächten und damit die Wahrscheinlichkeit eines Krieges erhöht. Es gab Stimmen wie die des ehemaligen Innenministers P. N. Durnowo, der im Februar 1914 warnte, ein Krieg mit Deutschland hätte furchtbare Auswirkungen auf die innenpolitische Stabilität, doch zog es die politische Elite überwiegend vor, das Risiko zu ignorieren, statt angesichts der aggressiven Haltung Österreichs zurückzuweichen und den Status einer Großmacht zu verlieren.62 Optimisten verteidigen ihre Anschauungen oft damit, dass der Krieg gewissermaßen vom Himmel gefallen wäre und das Reformschiff zum Sinken gebracht hätte. Aber so war es nicht. Die zaristische Regierung hatte eine Aufrüstungs- und Außenpolitik betrieben, die den Krieg wahrscheinlicher machte, und sein Ausbruch sollte die tiefgreifenden sozialen Spannungen, die Russland seit der regierungsseitig auf den Weg gebrachten Modernisierung heimsuchten, erheblich verschärfen.

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