Читать книгу Die Französische Revolution - Susanne Lachenicht - Страница 9

I. Französische Revolution – ältere und neuere Deutungsmuster

Оглавление

Überblick

Bereits in der Revolutionsphase selbst entstanden sehr unterschiedliche Deutungen der Französischen Revolution. Bei Mallet du Pan (1749–1800) ist sie v.a. eine Phase der Gräuel, bei Edmund Burke (1729–1797) wird sie als illegitim verurteilt, während Louis Blanc (1811–1882) sie als notwendigen Schritt auf dem Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit interpretierte. Daneben gab es liberale Deutungen der Französischen Revolution wie bei Alexis de Tocqueville (1805–1859). Bis heute stehen sich in der Geschichtswissenschaft eine marxistischleninistische Interpretation, die mit den Namen Albert Mathiez, Georges Lefebvre, Ernest Labrousse und Albert Soboul verbunden ist, und eine revisionistische gegenüber, deren Hauptvertreter François Furet und Denis Richet wurden.

Jacques Mallet du Pan

Erste Darstellungen und Erklärungen der Französischen Revolution fallen bereits in die Zeit der Revolution selbst. Neben etlichen anderen Zeitgenossen veröffentlichte Jacques Mallet du Pan (1749–1800), Publizist und Herausgeber einer der national und international wichtigsten Zeitungen des späten Ancien Régime und der Revolutionszeit, des Mercure de France, 1793, nach seiner Flucht aus Frankreich, seine Considérations sur la nature de la Révolution. Diese wurden bereits zur Revolutionszeit in mehrere europäische Sprachen, u.a. ins Deutsche, übersetzt und übten großen Einfluss auf die zeitgenössische Rezeption der Revolution aus. Mallet du Pan hatte der Revolution zunächst durchaus wohlwollend gegenübergestanden, sich dann aber angesichts ihrer Radikalisierung, d.h. der Abschaffung der Monarchie 1792, der Hinrichtung des Königs im Januar 1793 und der Ausschaltung der Gironde im Mai/Juni 1793, von ihr abgewandt. Mallet du Pan forderte die Koalitionsmächte in seiner Schrift auf, energischer gegen die Gräuel im revolutionären Frankreich vorzugehen, also der Terreur von außen ein Ende zu bereiten. Allerdings sah Mallet du Pan die Rückkehr zum Ancien Régime nicht mehr als mögliche Lösung nach der Pazifizierung Frankreichs an, wie dies die Koalitionsmächte intendiert hätten, sondern Letztere sollten an einer politischen Lösung für Frankreich arbeiten, die Monarchie und Freiheit miteinander vereine.

Edmund Burke – Louis Blanc

Der irischstämmige Brite Edmund Burke (1729–1797) veröffentlichte 1790 seine Reflections on the Revolution of France, die die Umwälzungen in Frankreich aus konservativer Sicht als illegitim und den Lauf der Geschichte radikal verändernd interpretierte. Burkes frühe Deutung der Französischen Revolution erwies sich für fast das gesamte 19. Jahrhundert als dominant. Allerdings entstanden im Kontext der Demokratiebestrebungen des 19. Jahrhunderts auch andere Deutungen, sowohl von liberaler als auch von frühsozialistischer Seite. Louis Blanc (1811–1882), Mitglied der provisorischen Regierung der Revolution von 1848, interpretierte in seiner Histoire de la Révolution française die Französische Revolution von 1789 bis 1799 neben der Entstehung des Christentums und der Reformation als wichtigste Etappe hin zu den gesellschaftlichen Veränderungen, die die französischen Frühsozialisten in ihrem Fokus hatten: Demokratie und Brüderlichkeit. Allerdings habe die Französische Revolution ihre Versprechen – Abschaffung des Elends und soziale Gerechtigkeit – nicht eingelöst, ein Umstand, der letztendlich zu weiteren Versuchen, diese zu etablieren, habe führen müssen, also den Revolutionen von 1830 und 1848. Wichtigste und positivste Etappe der Französischen Revolution, so Blanc, sei die Phase der Terreur gewesen, d.h. die Einführung des Lohn- und Preismaximums und damit die vom Volk durchgesetzte staatliche Regulierung der Wirtschaft, sowie die Inhalte der Verfassung von 1793. Die Terreur wurde bei Blanc damit zur Apotheose der Revolution.

Jules Michelet

Gleichzeitig entstanden monumentale Deutungen der Französischen Revolution wie die siebenbändige, nationalromantische Histoire de la Révolution française (1847–1853) von Jules Michelet (1798–1874) oder Alphonse de Lamartines (1790–1869) Histoire des Girondins (1847). Jules Michelets Darstellung der Revolution kennt keine Vorgeschichte, keine Ursachenanalyse. Seine Histoire de la Révolution française verherrlicht das Volk, das sich am 14. Juli 1789 erfolgreich gegen Despotismus und Tyrannei zur Wehr gesetzt und mit den Menschen- und Bürgerrechten den vollständigen Sieg errungen habe. Sowohl die Gewalt des Volkes in der Errichtung der Republik 1792 als auch die Revolutionskriege, die letztendlich nur ein Präventivkrieg Frankreichs gegen die Gefahr aus dem Ausland gewesen seien, werden bei Michelet gerechtfertigt und geradezu verherrlicht. Einige der radikalen Revolutionäre wie Georges Jacques Danton (1759–1794) und Camille Desmoulins (1760–1794) werden zu wahren Helden der Revolution stilisiert, andere radikale Montagnards wie Louis Saint-Just (1767–1794) oder Jean-Paul Marat (1743–1793) der Verdammnis preisgegeben. Michelet und auch Lamartine prägen bis heute das Bild der Französischen Revolution in populärwissenschaftlichen Darstellungen und Medien. Sie vertreten eine romantisierende Geschichtsschreibung der Revolution. Von einer heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden, um Neutralität, Komplexität und Multiperspektivität bemühten Interpretation der Französischen Revolution waren diese Autoren allesamt noch weit entfernt.

Alexis de Tocqueville

Für erste Gehversuche in Richtung einer wissenschaftlichen Herangehensweise steht bis heute Alexis de Tocqueville (1805–1859), der in seinem L’Ancien régime et la Révolution von 1856, konservativ eingefärbt, eine der Komplexität der revolutionären Ereignisse und Entwicklungen in Ansätzen entsprechende Ursachen- und Verlaufsanalyse projizierte. Tocqueville entstammte dem normannisch-französischen Adel. Sein Großvater war Opfer der revolutionären Terreur geworden. Trotzdem engagierte sich Tocqueville auf liberaler Seite in der Julirevolution von 1830 und in der Februarrevolution von 1848. Er betonte im Unterschied zu vielen Historikern die Kontinuitäten, die Ancien Régime, Revolution und Restauration miteinander verbanden, und integrierte in seine Darstellung der Französischen Revolution eine detaillierte Ursachenanalyse. Tocqueville optierte zwar für die Durchsetzung von Freiheit und Demokratie, aber nicht mit gewaltsamen Mitteln. Demokratie – so Tocqueville – sei ein politisch-gesellschaftlicher Zustand, den die Geschichte in jedem Fall eines Tages erreichen würde. Damit war Tocqueville ganz deutlich Vertreter eines teleologischen (d.h. auf ein bestimmtes Ziel zulaufenden) und utopischen Geschichtsverständnisses.

Heinrich von Sybel

Ihm folgten Heinrich von Sybel (1817–1895) und Hyppolite Taine (1828–1893), die sich als Erste zu Quellenrecherchen in die Archive begaben und ihre Darstellungen mit einem Fußnotenapparat versahen, der ihre Thesen und Befunde nachprüfbar machte. Taines Origines de la France contemporaine, deren erster Band 1875 erschien, hatte einen klar soziologisch-psychologischkulturhistorischen Ansatz. Taines Ziel war es, die langfristige politische Kultur Frankreichs von ihren Anfängen bis ins späte 19. Jahrhundert zu verfolgen. Die Revolution von 1789 bildete dabei eine Krise in der Geschichte Frankreichs, die durch Reformen der Eliten des Ancien Régime hätte verhindert werden können. England ähnlich hätte Frankreich den Weg in die Moderne auch ohne die gewaltsamen Umwälzungen der Revolutionszeit finden können, so Taines Fazit der Französischen Revolution und ihrer Bedeutung für Frankreich.

Heinrich von Sybels Interpretation der Französischen Revolution in seiner fünfbändigen, zwischen 1853 und 1872 erschienenen Geschichte der Revolutionszeit 1789 bis 1795 steht am Anfang einer durchaus eigenständigen wissenschaftlichen Perzeption der Ereignisse im deutschsprachigen Raum. Von Sybel hat die deutsche Geschichtswissenschaft jedoch weit über seine Interpretation der Französischen Revolution hinaus geprägt. Als kleindeutsch denkender Nationalliberaler gab er ab 1856 die Deutschen Reichstagsakten heraus; ebenso prägte er ab 1859 die bis heute erscheinende Historische Zeitschrift. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom August 1789 lehnte von Sybel als allgemeingültigen Bezugsrahmen für alle Nationen ab, nicht zuletzt, da sie durch ihren Universalitätsanspruch den gewaltsamen Export der Revolution in die Territorien des Alten Reichs begünstigt und damit die Freiheit anderer Völker pervertiert hätte. Freiheit – dies zeige die Französische Revolution – könne sich in ihr Gegenteil verkehren; das habe die Jakobinerdiktatur deutlich gemacht. Von Sybel propagiert statt Revolutionen Reformen, statt Freiheitsstreben der Völker einen starken Staat, dem seine Bürger gehorchen.

Erst im Kontext der endgültigen Abschaffung der Monarchie und der Ausrufung der Dritten Republik in Frankreich (1871) wurde die Revolutionsgeschichte zu einem integralen Bestandteil der französischen Nationalgeschichtsschreibung und des französischen Nationalbewusstseins. Nun dominierte in der französischen Historiographie nicht mehr die Angst vor der Revolution, wie sie in der bürgerlich-konservativen Geschichtsschreibung eines Hyppolite Taine typisch gewesen war. Vielmehr entwickelte sich die Französische Revolution bzw. bestimmte Parteien in ihr wie die Gironde oder die Montagne zu einem Identifikationsfeld für unterschiedliche Strömungen innerhalb des französischen Republikanismus des späteren 19. Jahrhunderts.

Société de l’Histoire de la Révolution française

1881 wurde von republikanischen Intellektuellen die Société de l’Histoire de la Révolution française gegründet, die 1886 den ersten Kurs zur Französischen Revolution an der Sorbonne anbot, dessen Leiter, Alphonse Aulard (1849–1928), auch den ersten Lehrstuhl für die Geschichte der Französischen Revolution an der Sorbonne bekleiden sollte. Zum bis heute wichtigsten Publikationsorgan wurde die 1908 gegründete Zeitschrift Annales révolutionnaires, die 1928 in Annales historiques de la Révolution française umgetauft wurde. Sie besteht bis heute. Aulards Histoire politique de la Révolution française, publiziert zwischen 1893 und 1924, arbeitete vor allem die politischen Institutionen, Ereignisse und Biographien der Revolutionäre systematisch auf. Sozial-, wirtschafts- und mentalitätsgeschichtliche Ansätze finden sich in Aulards Werk noch nicht, da er hierfür die Quellenlage seiner Zeit für nicht ausreichend hielt. Aulard kommt zu dem Schluss, dass die Radikalisierung der Revolution von 1792 nicht hätte verhindert werden können, da in der konstitutionellen Monarchie von 1791 demokratische Elemente gefehlt hätten, wie sie in den Menschen- und Bürgerrechten von 1789 eigentlich angedacht, 1791 nicht realisiert und erst in der Verfassung von 1793 konsequent weiterentwickelt worden seien. Bei Aulard finden sich also deutliche Sympathien für die radikale Revolution von 1792 bis 1794.

Sozialistisch-jakobinische Schule

Gleichzeitig entstand eine sozialistische Interpretation der Französischen Revolution, die auf Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895) aufbauend die Französische Revolution vor allem als einen Umbruch von Gesellschaft und Wirtschaft Frankreichs verstand: Der Ausbruch bzw. der Verlauf der Revolution seien das Ergebnis eines „Klassenkampfes“ zwischen Adel und Bourgeoisie gewesen, die Radikalisierung der Revolution verdanke sich dem Klassenkampf zwischen Unterschichten und privilegierten Gruppen. Die Unterschichten oder das Proletariat seien nach 1794 von der kapitalistisch agierenden Bourgeoisie sukzessive unterdrückt worden. Erstere seien jedoch die eigentlichen Träger des historischen Fortschritts, der letztendlich in eine Weltrevolution und die Diktatur des Proletariats münden müsse.

Diese dem Historischen Materialismus verpflichtete sozial- und wirtschaftshistorische oder auch jakobinische Schule innerhalb der Geschichtsschreibung zur Französischen Revolution reicht von Jean Jaurès (1859–1914) über Albert Mathiez (1874–1932), Georges Lefebvre (1874–1959), Ernest Labrousse (1895–1988) und Albert Soboul (1914–1982) bis hin zu Michel Vovelle (geb. 1933). Nach der Universitätsreform von 1970/71 ist diese Schule mit der Université Paris I, Panthéon-Sorbonne und dem 1937 gegründeten Institut de l’Histoire de la Révolution française verbunden. Lefebvre und Soboul setzen sich ab den 1930er bzw. 1950er Jahren mit den „Massen“ in Frankreich auseinander: Lefebvre 1925 in seinen Paysans du Nord pendant la Révolution française und der Grande Peur (1932/1963), Soboul mit den Sansculotten von Paris (Les sans-culottes en l’an II [1958]). Auch wenn viele Historiker bis heute den ideologischen Implikationen dieser Geschichtsschreibung im Sinne des historischen Materialismus nicht folgen möchten, so haben sich seit Labrousse und Soboul die ökonomische Krise des späten 18. Jahrhunderts und das Missverhältnis der Leistungskraft städtischer und ländlicher Mittel- und Unterschichten und ihrer politischen Partizipationsmöglichkeiten als klassische Ursachen der Revolution etabliert. Doch auch die jakobinisch-sozialistische Schule ist alles andere als homogen. Während Albert Mathiez’ zufolge Reichtum und intellektuelle Eliten Frankreichs die Revolution ausgelöst hätten, war es laut Georges Lefebvre die Armut der französischen Massen. Mathiez Interpretation der Französischen Revolution ist, dass diese eine bürgerliche Revolution gewesen sei, die im Sinne der marxistischen Teleologie die Notwendigkeit einer Revolution des Proletariats nach sich gezogen habe. Diese habe sich dann 1917 in Russland eingestellt. Georges Lefebvre ordnete seine ebenfalls jakobinische Interpretation der Französischen Revolution wesentlich mehr als Mathiez in einen internationalen Kontext ein und etablierte Verbindungslinien zu den englischen Revolutionen der 1640er Jahre und von 1688/89 sowie zur Amerikanischen Revolution von 1776.

Mit der marxistisch-sozialistischen Interpretation der Französischen Revolution und ihrer Dominanz in der französischen Revolutionsforschung hatte sich diese scheinbar endgültig von Personenkult und Institutionengeschichte verabschiedet und sich gesellschaftlichem Wandel und schließlich auch den Mentalitäten zugewandt.

Stichwort

Historischer Materialismus

Der Historische Materialismus ist eine von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelte Theorie, die die Geschichte und die Menschen von ökonomischen Prozessen gesteuert sieht. Ausgehend von einer Stammesgesellschaft, die von geringer Produktivität, minimaler Arbeitsteilung und gemeinschaftlichem Eigentum an Produktionsmitteln bestimmt sei, entstehe durch die Steigerung der Produktivität ein Mehrwert, d.h. ein Überschuss an Produziertem, der verwaltet werden müsse. Daraus bilde sich eine neue Klasse, die die produzierenden Klassen oder Schichten zunehmend versklavt (Sklavenhaltergesellschaften der Antike). Auf die Sklavenhaltergesellschaft folgte in Europa – so Marx und Engels – die Feudalgesellschaft, die von Leibeigenschaft und Akkumulation von Besitz und Privilegien Weniger geprägt gewesen sei. Durch die Förderung von Handwerk sei in ihr eine Klasse von Bürgern entstanden, die mehr Partizipation an der Macht verlangt habe und durch Revolutionen („bürgerliche Revolutionen“, „Klassenkampf“) den Feudalismus abgeschafft und eine kapitalistische Gesellschaft erschaffen habe. Durch die „Ausbeutung“ der produzierenden Klassen im Kapitalismus sei das Proletariat entstanden, das sich in einer Weltrevolution – so Marx und Engels – gegen den Kapitalismus erheben und nach der Diktatur des Proletariats eine klassenlose Gesellschaft herausbilden würde (Kommunismus). Marx und Engels haben ein teleologisches Geschichtsbild: Die Menschheit wird sich – so ihre Theorie – zwangsläufig in Richtung Kommunismus entwickeln. Klassenkämpfe prägen in jeder Phase und Gesellschaftsform die Beziehungen zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden.

Kritik erfuhr die dominante sozialistische Geschichtsschreibung, zu deren Vertretern neben Lefebvre, Labrousse und Soboul auch der DDR-Historiker Walter Markov (1909–1993) und der Italiener Armando Saitta (1919–1991) gehören, vor allem im englischsprachigen Raum, durch den britischen Historiker Alfred Cobban (1901–1968), der die Französische Revolution interpretiert als „bürgerliche Revolution“ als Mythos bezeichnete. Sie könne keinesfalls im Sinne der jakobinischen Geschichtsschreibung als Klassenkampf oder bürgerliche Revolution gedeutet werden, da alle drei Stände (Klerus, Adel und Dritter Stand) und eine Vielfalt von unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in allen politischen Faktionen (vormoderne Parteien) der Zeit vertreten gewesen seien. Cobban zufolge könne man die Französische Revolution keinesfalls aus einem Missverhältnis von Produktionskräften, Produktionsmitteln, mangelnder politischer Partizipation und dem Willen zur Abschaffung des Feudalismus erklären. Letzterer hätte am Vorabend der Revolution so gut wie keinen Bestand mehr gehabt. Für Cobban und viele andere amerikanische und britische Autoren war die Interpretation der Französischen Revolution mit Hilfe des Historischen Materialismus à la Marx hinfällig geworden.

Atlantische Revolutionen

Zu einer im Zusammenhang mit dem Kalten Krieg interessanten Verbindung mit der Analyse und Interpretation der Atlantischen Revolutionen kam es, als der französische Historiker Jacques Godechot in den 1950ern als Gastwissenschaftler an der Universität Princeton weilte und dort Robert R. Palmer, Spezialist für die Französische (und Amerikanische) Revolution (1776–1789), traf. 1955 stellten Godechot und Palmer auf dem Internationalen Historikertag in Rom ihr Konzept der Atlantischen Revolutionen vor. Die USA und Frankreich könnten seit dem späten 18. Jahrhundert auf eine gemeinsame Tradition demokratischer Revolutionen zurückblicken, die von den gleichen Werten – Aufklärung, Freiheit und Demokratie – und durch vielfache personelle, militärische und ideelle Verflechtungen geprägt seien. Frankreich und die USA seien die wichtigsten Staaten, die eine gemeinsame „Atlantische Zivilisation“ geprägt hätten. Diese gemeinsamen Wurzeln sollten Frankreich nun – in den 1950ern – ins Konzert der atlantischen Mächte, sprich in die North Atlantic Treaty Organization (NATO) führen. Palmer und Godechot wurde vorgeworfen, im Kontext des Kalten Krieges mit ihrer These von den demokratischen Revolutionen im atlantischen Raum eine Ideologie geschaffen zu haben, die der NATO mehr als dienlich gewesen sei.

Godechots und Palmers Atlantische Revolutionen waren indes nichts Neues. Bereits Thomas Paine (1737–1809), in England geborener (Mit-)Gründervater der Amerikanischen Revolution und wichtiger Mittler zwischen den jungen Vereinigten Staaten von Amerika und dem revolutionären Frankreich, hatte in seinen Rights of Man (1791) – einer polemischen Antwort auf Edmund Burke – auf die engen Verbindungen zwischen dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und der Französischen Revolution hingewiesen. Die traditionelle, jakobinische Geschichtsschreibung lehnte meistenteils die Integration der Französischen Revolution in den Komplex der atlantischen demokratischen Revolutionen ab, da diese die Einzigartigkeit und die nationalen Besonderheiten der Französischen Revolution in Frage zu stellen drohten. Heute stellt die Einordnung der Französischen Revolution in das Zeitalter der Demokratischen Revolutionen (Palmer 1959 und 1964) kein Problem mehr da. Es geht letztendlich darum, Parallelen und Analogien der Revolutionen ebenso herauszuarbeiten, wie nationale Unterschiede in Ursachen, Verlauf und Wirkungen. Gerade der Vergleich kann, so Marc Bloch (1886–1944), Besonderheiten schärfen helfen.

Revisionistische Schule

Ab den 1950er Jahren formierte sich auch in Frankreich Kritik an der sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Deutung der Französischen Revolution. Herausragendste Vertreter der Revisionistischen Schule waren François Furet (1927–1997) und Denis Richet (1927–1989). In ihrem gemeinsamen Werk La Révolution (1965) insistierten beide, dass die Französische Revolution weder ein Ergebnis eines Klassenkampfes zwischen Adel und Bourgeoisie gewesen sei, noch als Sieg des Dritten Standes über das Ancien Régime interpretiert werden könne. Darüber hinaus diagnostizierten sie für die Phase der Radikalisierung der Französischen Revolution ab August 1792 ein „Entgleisen“, ein „Abgleiten“ (dérapage) der Revolution. Furet und Richet zufolge hätten sich die aufgeklärten bürgerlichen, adligen und klerikalen Eliten, die Träger der Revolution zwischen 1789 und 1792 gewesen seien, durchaus auf Kompromisse einigen können, die zu einer Konsolidierung der Verhältnisse und einem langsamen Prozess in Richtung Liberalismus und bürgerliche Gesellschaft geführt hätten – so wie dies auch nach 1689 in England der Fall gewesen sein soll. Lediglich die Volksmassen in den Bauernunruhen in den Provinzen und den Aufständen der Sansculotten in Paris und anderen Städten hätten durch ihr Rückwärtsgewandsein, durch ihre vormoderne „Tendenz zu Raserei und Irrationalität“ die Revolution weiter vorangetrieben und den bürgerlichen Kompromiss unmöglich gemacht. Diese These hat Furet allerdings bereits 1980 wieder zurückgenommen und sich damit Michel Vovelle angenähert. Heute sieht die revisionistische Schule in der Französischen Revolution vor allem die Genese einer neuen politischen Kultur (Furet 1980).

Stichwort

Sansculotten

Als Sansculotten („Ohne Hosen“) werden die Einwohner von Paris bezeichnet, die sich vor allem in den Vorstädten (Faubourgs) Saint-Antoine und Saint-Marcel in städtischen Sektionen und revolutionären Komitees organisierten, um den revolutionären Prozess im Sinne der städtischen Mittel- und Unterschichten zu steuern. Bei den sogenannten journées, beispielsweise am 10. August 1792, dem 31. Mai und 2. Juni 1793, übten die Sansculotten auf die Legislative bzw. den Nationalkonvent von der Straße aus Druck aus, um die Abschaffung der Monarchie bzw. die Säuberung des Konvents von den Girondisten durchzusetzen. Zu den Forderungen der Sansculotten gehörten die Einführung des Lohn- und Preismaximums ebenso wie die Überwachung und Ahndung gegenrevolutionärer Tendenzen im Staat. Die Sansculotten waren keine städtischen Unterschichten, sondern entstammten dem Handwerkertum, waren Ladenbesitzer oder Tagelöhner. Benannt sind sie nach ihren pantalons, d.h. ihren langen Hosen. Sie trugen demonstrativ nicht die culotte, also die Kniehose der bürgerlichen und adligen Eliten. Zu ihrem typischen Kleidungsstil zählten auch ein offenes Hemd, darüber eine kurze Weste (die carmagnole), eine rote Mütze (bonnet rouge), als Waffe diente eine Pike. Sansculotten lehnten das Siezen ab und titulierten sich gegenseitig als citoyen („Bürger“).

Geschichte der Mentalitäten

Aus der jakobinischen Schule erwuchs, beginnend mit den Arbeiten Lefebvres zur Grande Peur von 1789, eine Geschichte der Mentalitäten.

Stichwort

Grande Peur

Als Grande Peur wird seit Georges Lefebvre die Massenpanik bezeichnet, die fast alle Regionen Frankreichs zwischen dem 20. Juli und dem 6. August 1789 erfasste. Auf dem Land verbreiteten sich Gerüchte, dass Banditen und marodierende Soldaten, die im Dienste der Aristokratie stünden, die Ernte vernichten würden. Bauern und Städter griffen zu den Waffen, plünderten die Schlösser ihrer Herren und setzten diese in Brand. Dabei wurden Besitzurkunden und Pachtverträge verbrannt und damit in einem symbolischen Akt die Überreste der Feudalherrschaft in Frankreich. Erklärt wird die Grande Peur oft als eine Massenhysterie, die durch die Umwälzungen in Frankreich und die Furcht vor der Rückkehr zu vorrevolutionären Verhältnissen ausgelöst worden sei. Beendet wurde sie durch die offizielle Abschaffung der Privilegien des Ersten und Zweiten Standes in der Nacht vom 4. August 1789.

Michel Vovelle – Bicentenaire

Beeinflusst nicht zuletzt durch die von Marc Bloch und Lucien Febvre 1929 begründete Schule der Annales, die sich mit langfristigem historischem Wandel vor allem auf der Ebene von Gesellschaften, Kulturen und Mentalitäten auseinandersetzt, hat sich mit Michel Vovelle ab den 1970er Jahren eine Interpretation der Französischen Revolution gerade auf diesen Ebenen entwickelt. Untersucht werden Veränderungen von kulturellen und mentalen Verhaltensweisen vor, in und nach der Französischen Revolution anhand von Notariatsakten, Testamenten, Eidesformeln und Ähnlichem. Überprüft werden soll hier, inwieweit in Frankreich selbst die Revolution wirklich zu tiefgreifenden Veränderungen im Denken, Handeln und Fühlen der Menschen führte, wie revolutionär die Revolution langfristig tatsächlich war. Neben dem Handeln der Massen werden konkret auch im Sinne Michel Foucaults Diskurse untersucht; typische Sprechweisen der Zeit, die sich in unterschiedlichsten Quellen wie Liedern, Pamphleten, politischen Reden, Zeitungstexten, Gerichtsprotokollen, Testamenten und Eidesformeln manifestieren. Ebenso beschäftigt sich die Mentalitätsgeschichte mit der Bildsprache der Revolution, mit der Verbreitung revolutionärer Symbolik wie der Kokarde oder der Guillotine auf Alltagsgegenständen wie Spielkarten, Geschirr, Möbeln, Kleidung und Wandschmuck. In Verbindung mit quantifizierender Sozial- und Mentalitätsgeschichte sind im Kontext der Revolutionsforschung Begriffe wie „Menge“ oder „Massen“ fragwürdig und letztendlich obsolet geworden. Denn der Historiker ist gefragt, genau zu analysieren, um welche sozialen Schichten, selbst um welche individuellen Akteure es sich bei den Erhebungen der sogenannten Massen handelt. Anhand der seriellen Auswertung von Quellen wie Verhaftungslisten oder Gerichtsprotokollen können „Massen“ genauer identifiziert werden; mittels der exakten Auswertung von Daten der Aufstände (so häufen diese sich an Sonntagen, wo viele Menschen sich zum Besuch der Messe zusammenfanden, an Wochenmarkttagen, zu Zeiten der Weinlese, bei der Kirchweih) konnte die neuere Revolutionsforschung kollektive Verhaltensweisen ebenso wie die Zusammensetzung der „Kollektive“ genauer bestimmen. Für den Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789, dem ersten Sieg der „Massen“ gegen die Reaktion des Königs, fand beispielsweise George Rudé heraus, dass es sich bei den Siegern der Bastille zu einem hohen Prozentsatz um unabhängige Produzenten, d.h. Kleinhändler und selbständige Handwerker handelte, also keineswegs um städtische Unterschichten. Einen neuen Impetus erhielt die Revolutionsforschung weltweit durch die Zweihundertjahrfeiern zur Französischen Revolution im Jahr 1989 (Bicentenaire). Über 540 Kolloquien, Tagungen und Konferenzen zum Thema wurden weltweit gezählt, über 2000 neue Titel erschienen auf dem Markt. Neue Forschungsrichtungen haben sich jedoch daraus nicht ergeben. Neben der die Revolution feiernden jakobinisch-französisch-republikanischen Tradition gab es auch immer wieder Anleihen bei einer sie dämonisierenden Geschichtsschreibung, die von der jakobinischen Forschung oft als konterrevolutionär beschrieben wird.

Im deutschsprachigen Raum halten sich bis heute sehr unterschiedliche Deutungen der Französischen Revolution. Die eine – heute repräsentiert durch u.a. Helmut Reinalter und Axel Kuhn – vertritt eine teleologische Geschichtsschreibung, die der französischen jakobinischen Tradition in vielen Punkten ähnelnd eine klare, notwendige Entwicklung von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts bis zur Durchsetzung von Demokratie und Freiheit in Europa im 19. bzw. weltweit im 20. und 21. Jahrhundert sieht. Die Französische Revolution steht dabei am Beginn der Moderne, d.h. einer Staatenwelt, die von freiheitlichen Demokratien geprägt ist. Was diese Interpretation der Französischen Revolution oft übersieht, ist zum einen, dass es keine zwangsläufige Entwicklung in diese Richtung gab; zum anderen ignoriert oder minimiert sie sehr häufig die Rolle von Terreur und den Export der Revolution mittels Krieg, „auf den Spitzen der Bajonette“ (ein Ausspruch, der dem französischen Revolutionär und späteren Minister Ludwigs XVIII., Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838), zugeschrieben wird). Beides prägte die zehn Jahre der Französischen Revolution in Europa und beschwor letztendlich auch Nationalismen herauf, die wiederum zu nicht nur europäischen Kriegen führten. Freiheit und Demokratie, „auf den Spitzen der Bajonette“ importiert, führten auch zu Irritationen über die Exportware selbst und generell zur Ablehnung demokratischer und freiheitlicher Prinzipen. Mit diesem Erbe des Exports von Freiheit und Demokratie befasst sich das internationale Staatensystem bis heute. Die Reaktionen auf Gewalt und Terreur waren – nicht nur in Bezug auf die Französische Revolution – Gegengewalt und Nationalismen, die zu weiterer Gewalt führen konnten. Freiheit und Demokratie stehen damit in einem unlösbar erscheinenden, dialektischen Verhältnis zu Gewalt und negativen Formen von Nationalismus, etwas, das nicht zwangsläufig zu Vernunft und Demokratie weltweit führte. Ein Bewusstsein für dieses der Revolution inhärente Dilemma – Freiheit und Demokratie auf der einen Seite, Gewalt und Zwang zu deren Durchsetzung auf der anderen – mag nicht nur im Kontext der Französischen Revolution zu einem besseren Verständnis von deren Komplexität führen.

Rolf Reichardt

Zu den Forschern, die sich mit der französischen Historiographie zur Revolution am intensivsten auseinandergesetzt und diese im Sinne eines akademischen Transfers auch in die deutsche Geschichtswissenschaft eingebracht haben, gehört neben Ernst Schulin, Eberhard Schmitt und Hans-Ulrich Thamer vor allem der Mainzer Historiker Rolf Reichardt. Reichardt zeichnet maßgeblich dafür verantwortlich, dass die deutsche historische Forschung zur Französischen Revolution nicht in den 1960er und 1970er Jahren steckengeblieben ist, sondern sich der Französischen Revolution als Kulturrevolution geöffnet und die Frage des Kultur- und Systemtransfers zu einem ihrer wichtigsten Themen gemacht hat. Die in den 1990er Jahren sehr populäre Kulturtransferforschung, gerade für die Bereiche neue politische Kultur, Medien, Bilder, Symbole, Sprache, Kommunikation, wie sie von Michel Espagne und Michael Werner konzipiert, etabliert und in Deutschland breit rezipiert wurde, geht nicht zuletzt auf die Vermittlungen von Rolf Reichardt und Hans-Jürgen Lüsebrink zurück.

Kulturrevolution

Es scheint heute Konsens darüber zu bestehen, dass die Französische Revolution eine „Kulturrevolution“ gewesen ist, jenseits der immer noch vorhandenen ideologischen Gräben innerhalb der internationalen Forschung. Die Französische Revolution als Kulturrevolution steht zentral im Werk der amerikanischern Historikerin Lynn Avery Hunt (geb. 1945), die sich mit symbolischen Praktiken und Ritualen in den Machtzentralen der Revolution ebenso auseinandergesetzt hat wie mit revolutionären Festen, Zeremonien und der Reinterpretation klassischer Mythologien im Kontext der „Erfindung“ neuer, republikanisch-revolutionärer Traditionen – Ansätze, die man auch in der französischen Mentalitätsgeschichte wiederfindet.

Die Revolutionsforschung sieht sich gegenwärtig vor allem damit konfrontiert, Generalisierungen, die für das gesamte Frankreich der Revolutionszeit immer wieder vorgenommen wurden, anhand von Studien zu einzelnen Dörfern, Städten, Departements bzw. Regionen zu überprüfen, wie dies Michel Vovelle und seine Schüler exemplarisch getan haben. Ebenso steht seit 2008 erneut die Frage der Integration der Französischen Revolution in andere Atlantische Revolutionen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts im Raum, wie die Neuausrichtung des Pariser Institut de l’Histoire de la Révolution Française zeigt. Dazu kommt – im Sinne einer allgemeinen europäischen Geschichtsschreibung oder Geschichtsschreibung innerhalb eines geeinten Europas – die Fragestellung nach den unmittelbaren Auswirkungen der Französischen Revolution auf freiheitlich-demokratische Prozesse in Europa. Hier stehen die Direktorialzeit (1795–1799) und die napoleonische Zeit (1799–1815) mit ihren Versuchen des Exports der Freiheit durch die Revolutions- bzw. napoleonische Armee und Administration ebenso im Mittelpunkt wie das Ausstrahlen der französischen Freiheitsbewegung in den atlantischen Raum.

Auf einen Blick

Bedeutsam in diesem Kapitel ist der Unterschied zwischen der marxistisch-leninistischen und die revisionistischen Schule. Wie grundlegend ist dieser?

Wie ist die Haltung Edmund Burkes zur Französischen Revolution zu erklären? Und wie die von Louis Blanc?

Michel Vovelle beschäftigte sich mit kollektiven Mentalitäten und regte zahlreiche Studien zur Französischen Revolution auf der Ebene von Regionen, Departments, Städten und Dörfern an. Was heißt „kollektive Mentalitäten“ in diesem Kontext?

Inwieweit ist die Geschichte der „Grande Peur“ eine Geschichte der Wahrnehmungen?

Rolf Reichardt ebnete in Deutschland den Weg zu einer Interpretation der Französischen Revolution als Kulturrevolution. Was heißt Kulturrevolution in diesem Kontext?

Die Französische Revolution

Подняться наверх