Читать книгу Pädagogische Diagnostik und Differenzierung in der Grundschule - Tanja Sturm - Страница 8

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1 Einleitung

Inklusion ist im zweiten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts zu einem zentralen Thema in Schule und Unterricht avanciert. Unter Verweis auf die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, kurz UN-BRK, (United Nations 2006; 2008) werden von bildungspolitischer Seite Reformprozesse angestoßen, die Schule und Unterricht nachhaltig verändern können und sollen. Die Neuerungen zeichnen sich wesentlich dadurch aus, dass separative schulische Settings, die je nach Bundesland als Sonder- und / oder Förderschulen bezeichnet und nachfolgend synonym verwendet werden, ab- und inklusive Settings aufgebaut werden. Inklusion steht dabei für einen Bruch mit der Vorstellung einer (leistungs-)homogenen Schülerschaft. Ein Bezugspunkt, der in der Schulpädagogik bereits seit vielen Jahren als „Fiktion“ (Tillmann 2008, 172) verhandelt wird, aber bisher insofern keine bildungspolitische Mehrheit gefunden hat, als nach wie vor Formen der äußeren Differenzierung die schulische Struktur im deutschsprachigen Raum prägen. Trotz innerer ebenso wie von außen angemahnter Kritik (Muñoz 2006; United Nations 2015) an der (frühen) Selektivität, die mit der Mehrgliedrigkeit einhergeht und die Diskriminierungen befördert, wird an dem System bildungspolitisch weiterhin festgehalten. Wenngleich im Zuge der Gestaltung inklusiver Schulen die Zahl von Sonder- und Förderschulen rückläufig ist, bleibt die prinzipielle Separation nach Bildungsgängen und Schulformen im System erhalten; mehrere Bundesländer sichern dies durch sogenannte Schulfrieden (z. B. NRW: CDU et al., 2011). Die Mehrgliedrigkeit erfordert einen kontinuierlichen Vergleich von SchülerInnen mit- und untereinander sowie gegenüber curricularen, sozialen und empirischen Normen, um zu prüfen und zu legitimieren, ob sie noch im ‚richtigen‘ Bildungsgang bzw. Schultyp sind. Während der bildungspolitische Fokus von Inklusion auf der gemeinsamen Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf resp. besonderen Bildungsbedarf – insbesondere in den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung – liegt, wird in den schul- und sonderpädagogischen Diskursen ein grundsätzlicheres Verständnis von Inklusion verhandelt. Dieses ist sozialwissenschaftlich fundiert und damit anschlussfähig an die menschenrechtlichen Prämissen der UN-BRK (Bielefeldt 2010). Es versteht Inklusion v.a. als Abbau jener Strukturen und Praxen, die Behinderungen und Benachteiligungen in schulischen Lern- und Bildungsprozessen hervorbringen und setzt Inklusion dabei in Relation zu Exklusion, sodass eine analytische Beschreibung sowie eine reflexive Auseinandersetzung möglich sind (Sturm 2016a, 133ff.).

Trotz des einseitigen bildungspolitischen Verständnisses von Inklusion, das im Titel der KMK-Empfehlungen (2011) „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen“ insofern zum Ausdruck kommt, als Inklusion in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Gruppe von SchülerInnen verstanden wird, stellt das Dokument vonseiten der Bildungspolitik das erste dar, in dem die allgemeinbildende Schule ohne Ressourcenvorbehalt als Beschulungsort für SchülerInnen mit attestiertem Förderbedarf vorgesehen wird. Dies kann als Anerkennung unterschiedlicher sozialer und biografischer Lernausgangslagen der SchülerInnen einer Lerngruppe verstanden werden. So unterscheiden sich die SchülerInnen darin voneinander, in welcher Art und Weise und in welchem Umfang sie in ihrer (vorschulischen) Lebenswelt mit (gesamtgesellschaftlich) relevanten und kulturell bedeutsamen Gegenständen konfrontiert wurden und sich z. B. mit der Schriftkultur auseinandergesetzt haben. Haben einzelne Kinder diese Schriftkultur als positiv oder als negativ besetzte Gegenstände erfahren und erlebt? Sind ihre bildungsrelevanten Bezugspersonen der Schriftsprache mächtig und haben ihnen z. B. regelmäßig in angenehmer Atmosphäre vorgelesen? Eine Wertschätzung unterschiedlicher Lernausgangslagen, die ein zentrales Primat schulischer Inklusion darstellt, korrespondiert mit der Erwartung an die Lehrpersonen, dass sie diese nicht nur beobachten und verstehen, sondern auch, dass sie sie zum Ausgangspunkt unterrichtlicher Lern-, Entwicklungs- und Bildungsprozesse heranziehen, also bei der Gestaltung individueller und kooperativer Lehr-Lern-Situationen.

Die Beschreibung und Analyse unterschiedlicher gegenstandsbezogener Lern- und Entwicklungsstände von SchülerInnen als Ausgangspunkt für die Konzeption von Lehr-Lern-Arrangements wird in erziehungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Diskursen als Diagnostik und / oder Diagnose bezeichnet. Kornmann, einer der Pioniere pädagogischer Diagnostik, bezeichnet diagnostisches Handeln als ein Beobachten und Überprüfen, das als „Entscheidungshilfe“ (Kornmann 1985, 843) für die Gestaltung unterrichtlicher Lehr-Lernangebote dient. Pitsch versteht diagnostizieren als Tätigkeit, der wir permanent nachkommen, um handlungsfähig zu sein und Entscheidungen zu treffen, und formuliert – in Anlehnung an Watzlawick – „man kann nicht nicht diagnostizieren.“ (Pitsch 2015, 43).

Während die Definition von Pitsch Diagnostik als permanente Tätigkeit des Alltags begreift, gilt es, dieses von systematischen und theoriebasierten Diagnosen abzugrenzen, die in professionellen Zusammenhängen vorgenommen werden. Letztgenannte unterscheiden sich mindestens in zweifacher Hinsicht von der Alltagsdiagnostik: Zum einen liegen Sinn und Zweck diagnostischen Handelns in der gezielten Annäherung bzw. Bearbeitung der übergeordneten Lern- und Bildungsziele und zum zweiten sind professionelle AkteurInnen aufgefordert, über ihre Fragestellungen, ihr Vorgehen und ihre Ergebnisse Auskunft zu geben. Das heißt, sie sind dazu verpflichtet, gegenüber ihren KollegInnnen, aber auch gegenüber Eltern und den SchülerInnen, ihre Entscheidungen und das damit einhergehende Vorgehen jederzeit erläutern und begründen zu können.

Der Kern pädagogischen Handelns in Schule und Unterricht ist ein doppelter: Erziehung und Bildung. Beide Aspekte verweisen auf das pädagogische Handlungsziel, Lernprozesse von SchülerInnen zu initiieren und herauszufordern. Entsprechend sind LehrerInnen aufgefordert, diese Lernprozesse, die lernende Auseinandersetzung der SchülerInnen mit unterschiedlichen sozialen und materialen Gegenständen, verstehen und nachvollziehen zu können (Schuck 2004, 350).

Diagnostisches Handeln stellt einen Teil pädagogischen Handelns dar. Als solches bedarf es Wissen und Konzepte über die Sozialisationsbedingungen der SchülerInnen und ihre fachlich-gegenständlichen Lernprozesse ebenso wie über die Fachgegenstände selbst und die lernende Auseinandersetzung mit diesen, wie sie die Fachdidaktik bereitstellt. Ein weiteres Element diagnostischer Prozesse sind sozialwissenschaftliche Methoden, die die Voraussetzung systematischer Erkenntnistätigkeit sind. Mit ihnen erfolgt eine empirische Annäherung an die jeweiligen gegenstandsbezogenen Vorstellungen der Lernenden. Hierzu zählen gezielte Beobachtungen, Analysen von Schülerprodukten, wie z. B. einem geschriebenen Text oder einer bearbeiteten Mathematikaufgabe sowie Gespräche mit SchülerInnen. Diagnostische Situationen können sich aber auch spontan im Alltag ergeben, z. B. wenn eine Lehrperson im Rahmen der Pausenaufsicht die anwesenden SchülerInnen zählt; sich ein / e SchülerIn zu ihr gesellt und mit ihr zählt. Beide Situationen – intendierte und zufällige – erfordern entsprechendes fachdidaktisches und pädagogisches Wissen, um darauf aufbauend Lernprozesse möglichst gezielt initiieren und herausfordern zu können.

Neben diesen erziehungswissenschaftlichen, fachlichen und fachdidaktischen Bezügen und Prämissen ist diagnostisches Handeln in Schule und Unterricht immer auch in die formalen Rahmenbedingungen der Organisation eingebunden, in der sie stattfindet. Die pädagogische Bedeutung diagnostischer Handlungen und daran anschließender pädagogischer Maßnahmen ist nicht gänzlich loszulösen von den schulsystemischen Verwertungszusammenhängen, die neben der gezielten Unterstützung der SchülerInnen auch die Vergabe von Noten umfasst, mit denen ihrerseits Selektionsentscheidungen legitimiert werden (können). In mehrgliedrigen Schulsystemen, wie sie in den deutschsprachigen Ländern üblich sind, ist der letztgenannte Verwertungszusammenhang, der sich von pädagogischen Ideen unterscheidet, durchgängig gegeben (Schuck 2007, 147). Er verliert mit der Gestaltung inklusiver Schulen zwar zunehmend an Bedeutung, aufgehoben ist er jedoch noch nicht.

In diesem Buch fokussieren wir die Gestaltung eines diagnosebasierten Unterrichts in der Primarstufe. Diese verstehen wir als Bildungsstufe und grenzen uns damit von Schularten ab, wie sie in den Bezeichnungen Grundschule (in Deutschland) oder Volksschule (in Österreich) zum Ausdruck kommen. Im Verständnis der Primarstufe als Bildungsstufe beziehen wir alle Schularten ein, die dieser zugeordnet werden: neben inklusiven Schulen zählen hierzu auch separative Formen wie die Förder- und Sonderschulen sowie nicht-inklusive Primarstufenschulen. Ebenso wie den Schweizer Kantonen obliegt es auch den deutschen Bundesländern, über die Dauer der Primarstufe zu entscheiden. Diese liegt zwischen vier und sechs Jahren.

In der Primarstufe „bilden Deutsch, Mathematik und Sachunterricht den fachlichen Kernbereich der Grundschule.“ (KMK 2015, 11). Ihnen kommt entsprechend eine bedeutende Rolle zu. In ihnen werden unterschiedliche Lehr-Lerngegenstände, zu denen v.a. der Erwerb kultureller Symbolsysteme zählt, vermittelt. Ziel dieses Buchs ist es, exemplarisch für die zwei Lernfelder aufzuzeigen, wie fachbezogene, diagnostische Prozesse theoretisch fundiert gestaltet und als Grundlage für pädagogische Förderung in einem inklusiven Unterricht herangezogen werden können. Dieses Vorhaben findet seinen Ausdruck in der Konzeption und im Aufbau des Buchs: Im Anschluss an die Einleitung wird zunächst, losgelöst von fachlichen Inhalten, ein schul- und sonderpädagogisches Verständnis von Diagnostik dargelegt. Dies beginnt mit einer Einführung in zentrale Begriffe, mit denen Diagnostik im Kontext von Schule und Unterricht unmittelbar im Zusammenhang steht: Behinderung und Inklusion. Hieran anknüpfend werden unterschiedliche diagnostische Verständnisse und Vorgehensweisen vorgestellt sowie der Zusammenhang von Didaktik und Diagnostik im schulischen Kontext erläutert. Auf dieser Grundlage erfolgt eine Verortung der diesem Buch – vertieft für die Fächer Deutsch und Mathematik – zugrundeliegenden diagnostischen resp. didaktischen Perspektive.

Die Kapitel drei und vier, die über einen vergleichbaren Aufbau verfügen, sind den zwei Unterrichtsfächern Mathematik und Deutsch gewidmet. Sie beginnen mit einer Skizzierung des Fachverständnisses, das dem Unterricht in der Schulstufe zugrunde liegt. Im Anschluss an die Einführung erfolgt eine Beschreibung zentraler theoretischer Fachbezüge und ihrer Bedeutung in diagnostischen Prozessen ebenso wie in der darauf aufbauenden Planung inklusiver Lehr-Lern-Settings. In beiden Kapiteln wird dies anhand von Beispielen erklärt und illustriert. Das Buch schließt mit einem Kapitel, in dem die zuvor erarbeiteten fachspezifischen Perspektiven exemplarisch aufeinander bezogen werden. Die drei zentralen Kapitel enden mit Verständnis- und Anwendungsfragen, die von den Lesenden bearbeitet werden können, um ihr eigenes Verständnis zu überprüfen. Die Antworten finden sich auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlags.

Durch dieses Vorgehen möchten wir einen Überblick über die Möglichkeiten diagnostischen Handelns in und für pädagogische Prozesse geben, die ihrerseits eng mit den fachunterrichtlichen Bezügen verbunden sind. Wir betrachten das Buch als ein Gesamtwerk, das als solches über eine Addition unterschiedlicher Perspektiven – aus Schul- und Sonderpädagogik sowie den Fachdidaktiken – hinausgeht. Entsprechend empfehlen wir für die Lektüre, die fachbezogenen Kapitel nicht losgelöst von Kapitel zwei zu lesen.

Pädagogische Diagnostik und Differenzierung in der Grundschule

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