Читать книгу Lehrbuch Heterogenität in der Schule - Tanja Sturm - Страница 7

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1 Einleitung

„Heterogenität“ ist ein zentraler Begriff des schulpädagogischen Diskurses, der allgemein auf Unterschiede zwischen Schüler / -innen verweist. Vorwiegend wird der Terminus im Zusammenhang mit Ungleichheit in Schule und Unterricht genannt, also mit Benachteiligungen, die Kinder und Jugendliche im schulischen und unterrichtlichen Kontext erfahren. Dieser Fokus wird auch hier gesetzt.

Heterogenität wird zumeist in Differenzkategorien gefasst, die soziale Gruppen umschreiben. Diese Beschreibungen bringen das Dilemma mit sich, einerseits auf einzelne soziale Dimensionen fokussierende Zugehörigkeit zu erzeugen, fortzuschreiben und zu bestätigen und andererseits zum Erkennen und Beschreiben systematischer, gruppenbezogener Benachteiligungen notwendig zu sein.

Die Diskussion um Heterogenität wird in Bildungspolitik und Erziehungswissenschaft mit der Erwartung verknüpft, die aktuell bestehenden Ungleichheiten der Beteiligung an schulischen Bildungsgängen zwischen sozialen Gruppen zu überwinden. Die bestehende Chancengleichheit im Zugang zu Bildungsgängen liegt lediglich formal vor, was sich beispielsweise darin zeigt, dass Kinder und Jugendliche aus sozio-ökonomisch nicht privilegierten Familien im Vergleich zu privilegierten Gleichaltrigen deutlich seltener das Gymnasium besuchen. Von der Realisierung des demokratischen Anspruchs, einen von der familiären Sozialisation unabhängigen Zugang zu Bildung zu ermöglichen, ist die Schule in Deutschland, Österreich und der Schweiz weit entfernt. Benachteiligung besteht über den Zugang zu Bildungsgängen hinaus auch hinsichtlich des fachlichen Kompetenzerwerbs. So weisen Schüler / -innen mit Migrationshintergrund niedrigere Kompetenzwerte im Lesen auf als ihre Peers ohne einen solchen. Die Schule nimmt bei der Reproduktion sozialer Ungleichheiten in struktureller und kultureller Hinsicht eine Schlüsselstellung ein, da sie die Legitimationsgrundlage für den weiteren Schulbesuch sowie berufliche Perspektiven schafft. Dies bezieht sich auf alle Schulformen und Schulstufen der Bildungsorganisation Schule.

Das vorliegende Buch möchte einen Beitrag dazu leisten, die strukturellen und kulturellen Herstellungs- und Bearbeitungsformen von Differenzen in Schule und Unterricht sowie die dabei hervorgebrachten Praktiken von systematischer Benachteiligung sozialer Gruppen zu reflektieren. Es wird eine theoretische Folie bereitgestellt, um Strukturen und Praktiken, die zu Ausgrenzung und Marginalisierung in Schule und Unterricht führen (im Kontext ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs), zu erkennen und eigene unterrichtliche Planungen hieran zu kontrastieren. Mit anderen Worten, Heterogenität bzw. Differenzen werden nicht nur von außen an Schule und Unterricht herangetragen, sondern in ihnen selbst hervorgebracht.

Dass Schule und Unterricht und ihre Akteur/-innen dabei selbst als Produzierende von Heterogenität bzw. Differenzen agieren, ist eine zentrale Linie dieses Buches. Die Akzeptanz des Beteiligtseins an Prozessen von Differenzerzeugung und Benachteiligung ist die Grundlage für einen reflektierten Umgang mit den widersprüchlichen An- und Herausforderungen in Schule und Unterricht. Dies erfolgt hier mithilfe der wissenssoziologisch fundierten Begriffe der „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ (Nohl 2010, 145 ff). Diese Begriffe werden für den Kontext der pädagogischen Organisation Schule aufgegriffen, um Überlegungen zur Einbindung von Milieus in gesellschaftliche Machtverhältnisse erweitert und in einem Ansatz inklusiver Pädagogik spezifiziert. Dies erfolgt mit einem doppelten Anspruch: Die aktuelle Situation der Benachteiligungen in Schule und Unterricht in ihrer Entstehung nachvollziehbar zu machen und Perspektiven für zukünftige Gestaltungsformen und Praktiken aufzuwerfen. Beides orientiert sich am Abbau bestehender Bildungsungleichheit als Voraussetzung und Notwendigkeit für ein demokratisches Miteinander in einer pluralen Gesellschaft.

Die Ausführungen sollen es ermöglichen, Strukturen und Praktiken mithilfe des begrifflich-theoretischen Werkzeugs zu betrachten, einzuordnen und zu reflektieren. Es wird eine begrifflich-theoretische Perspektive eingenommen, die entsprechend exemplarisch bleiben muss, wenn es um spezifische Formen von Heterogenität in der unterrichtlichen und schulischen Bearbeitung geht. Dies erfolgt entlang darzustellender Möglichkeiten einer Bearbeitung, welche die pädagogischen Professionen zwar herausfordern, nicht aber überfordern oder als alleinig verantwortlich verstehen. Vielmehr wird Heterogenität als ein wünschenswerter und notwendiger Teil einer demokratischen Gesellschaft gesehen, die sich egalitär begegnen. In Schule und Unterricht treffen vielfältige Milieus aufeinander und können in Austausch miteinander gelangen. Dieser eröffnet die Möglichkeit eines pädagogisch reflektierten Miteinanders unterschiedlicher Personen bzw. Milieus.

Vornehmlich adressiert das Buch Studierende, deren Ziel es ist, als Lehrer / -innen bzw. in anderen pädagogischen Professionen in der Organisation Schule zu arbeiten. Es richtet sich gleichermaßen an interessierte Personen, die bereits im schulischen Feld tätig oder mit der (Aus-)Bildung von Lehrkräften betraut sind, sei es in der ersten, der zweiten oder der dritten Phase der Lehrerbildung.

Die vorliegende Einführung bietet eine wissenschaftlich fundierte Form der Auseinandersetzung mit der Praxis und ihrer Reflexion. Dennoch ist hervorzuheben, dass es sich um ein Studienbuch handelt, das als solches nur einen begrenzten Umfang hat, sodass nur ausgewählte Themen platziert werden und Darstellungen keine vergleichbare Tiefe aufweisen können, wie dies in spezifischer Fachliteratur möglich ist; auf entsprechende Fachliteratur wird jeweils am Ende der Kapitel verwiesen. Mit dieser Einführung möchte ich zur Auseinandersetzung mit dem komplexen Themenfeld „Heterogenität in Schule und Unterricht“ einladen und neugierig machen, sich anschließend mit der Thematik weiter und tiefgehender auseinanderzusetzen.

Meine eigene berufliche Tätigkeit, in Form von Forschung und Lehre an Universitäten und Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, verdeutlicht mir in mehrfacher Hinsicht, dass der schulgesetzliche ebenso wie der schulstrukturelle Kontext und die Gestaltung der Lehrerbildung erheblichen Einfluss auf die Praxis der Differenzherstellung und -bearbeitung im Unterricht haben. Dass diese Punkte nicht in allen Einzelheiten in diesem Buch diskutiert und miteinander verglichen werden können, gibt der begrenzte Rahmen einer grundlegenden Einführung vor. Zugleich fordert eben dieser zu einer abstrakteren Betrachtung heraus, in der Gemeinsamkeiten deutlich werden. An jenen Stellen, an denen die konkreten Rahmenbedingungen ausgeführt werden, wird dies explizit angeführt.

Das Ziel des Buches, Reflexionsebenen und -inhalte darzustellen und in ihrem Zusammenspiel vorzustellen, findet sich in seinem strukturellen Aufbau wieder, der in aufeinander aufbauenden Einheiten konzipiert ist: Im Anschluss an diese Einleitung wird im zweiten Kapitel eine allgemeine Definition von Heterogenität gegeben, die auf die Perspektive der praxeologischen Wissenssoziologie aufgebaut, und um die Theorie sozialer Felder erweitert wird. Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden entsprechend von Milieus gedacht, deren Angehörige bei der Strukturierung ihres Alltags auf vergleichbare Erfahrungen zurückgreifen. Das Kapitel endet mit der Einführung in die Spezifität, mit der sich Milieus in gesellschaftlichen Organisationen begegnen und ihre gemeinsame Praxis gestalten.

Im dritten Kapitel wird dies für die Bildungsorganisation Schule konkretisiert. Die Funktionen, welche die Schule in der Gesellschaft übernimmt, werden vorgestellt, ebenso der historische Prozess, in dem sich diese Funktionen in ihrer heutigen Konkretheit herausgebildet haben. Diese Betrachtung der formalen Seite der Schule nimmt deren strukturelle Verfasstheit in den Blick, die eine Rahmenbedingung innerschulischer Herstellung und Bearbeitung von Heterogenität darstellt. An der Vergabe von Noten wird dies konkretisiert.

Das vierte Kapitel zeigt entlang von vier ausgewählten Differenzdimensionen auf, wie sich Benachteiligungen in Schule und Unterricht zeigen. Das Zusammenspiel struktureller und kultureller Bearbeitung wird entlang der sozialen Gruppen sozio-ökonomisch bedingter, migrationsbedingter, geschlechtsbedingter und behinderungsbedingter Heterogenität konkretisiert, unter besonderer Berücksichtigung von Benachteiligungen, die mit ihnen einhergehen. Diese vier Kategorien wurden ausgewählt, da sie besonders aussagekräftig in der Reproduktion von Ungleichheit in und durch Schule und Unterricht sind, und um die der Leistung ergänzt. Letztere stellen schul- und unterrichtsspezifische Formen von Differenz dar.

Das fünfte Kapitel widmet sich einer perspektivisch ausgerichteten Zusammenfassung, indem Inklusion als Möglichkeit für Reflexion über Heterogenität und Bearbeitung von Heterogenität in Schule und Unterricht insgesamt aufgeworfen wird. Das Konzept der Inklusion wird anhand erziehungswissenschaftlicher Orientierungen veranschaulicht. Eine konkrete Reflexionsfolie für das Erkennen und die Bearbeitung von Heterogenität im Unterricht, die an der Überwindung von Benachteiligung orientiert ist, wird aufgegriffen. In dem Kapitel fließen die Darstellungen der vorangegangenen Kapitel zusammen, da Unterricht jener Interaktionsraum ist, in dem die sozialen Milieus der Schüler / -innen und Lehrpersonen aufeinandertreffen – mit dem Ziel von Erziehung und Bildung im organisatorischen Kontext der Schule. Entlang dieses Ziels wird zunächst zusammengefasst vorgestellt, was Lern- und Bildungsprozesse charakterisiert. Anschließend wird deren Spezifität im schulischen Kontext beleuchtet und schließlich vorgestellt, wie sich Lehrpersonen diesen Prozessen systematisch annähern können. Darauf aufbauend werden Bezüge für die Reflexion von Heterogenität im Unterricht, aus der Perspektive von Lehrkräften, betrachtet.

Die Gestaltung einer inklusiven Schule, die perspektivisch formuliert wird, stellt zugleich die Chance und Herausforderung für angehende Lehrer / -innen dar, diesen Prozess aktiv mitzugestalten. Die Möglichkeit besteht, eine schulische Lernkultur zu gestalten, die zwar im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion angesiedelt ist, jedoch die Mitgliedschaft und Verteilung von Privilegien nicht in vergleichbarer Weise reproduziert, wie es aktuell zu beobachten ist. Ziel dieses Buches ist es, einzuladen, an dieser Gestaltungsaufgabe zu partizipieren.

Mit diesem Vorhaben möchte dieses Buch dazu anregen, Heterogenität als Chance für Schul- und Unterrichtsentwicklung zu begreifen, ihren Anteil an der systematischen Benachteiligung sozialer Gruppen zu erkennen und Alternativen zu entwickeln. Dies erfordert, dass die Leser / -innen sich zuweilen darauf einlassen, ihre bisherigen Vorstellungen von Schule und Unterricht irritieren zu lassen. Es sollen Perspektiven aufgeworfen und Neugierde geweckt werden, sich weitergehend mit der Thematik auseinanderzusetzen; hierfür werden Literaturhinweise gegeben und Übungsaufgaben bereitgestellt. Letztere sollen zum Diskutieren anregen und so gleichermaßen eine vertiefte Auseinandersetzung herausfordern. Das Buch möchte einen Anlass für eine reflektierte Auseinandersetzung und Bearbeitung von Heterogenität in Schule und Unterricht schaffen.

Basel, im August 2015

Lehrbuch Heterogenität in der Schule

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