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Zwischen Tod und Leben

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»Mama, Papa, Katharina, verzeiht mir, was ich euch in meinem Leben angetan habe, verzeiht mir, was ich euch jetzt antun werde. Ich liebe euch. Verzeiht mir«, flüsterte Verena mit zittriger und weinerlicher Stimme leise vor sich hin.

»Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr.«

Sie saß auf einem kleinen Mauervorsprung auf dem ein Maschendrahtzaun angebracht war. Ihre Arme stützte sie auf ihre Knie, ihr Gesicht drückte sie fest in ihre von Tränen nassen Hände. Sie war kreidebleich, aber das konnte man nicht sehen, denn es war spätabends kurz vor Mitternacht. Die Sterne funkelten in dieser warmen Augustnacht um die Wette.

»Warum ich?«, stammelte sie vor sich hin, »warum ausgerechnet ich?«

Sie schluchzte und versuchte ein lautes Weinen zu verhindern. Aber sie hätte auch laut weinen können, denn in dieser Nacht hätte sie niemand gehört. Weit und breit war keine Menschenseele. Sie war umgeben von Bäumen und Sträuchern, Hecken und Wiesen und einem kleinen Gemüsegarten, der von einer Steinmauer eingegrenzt wurde, auf der der Maschendrahtzaun befestigt war.

»Lieber Gott, steh mir bei.«

Sie fing an zu beten, denn sie war sehr gläubig. Der Glaube hat ihr in ihrem Leben immer wieder geholfen, davon war sie überzeugt. Aber heute, jetzt in dieser Stunde, erwartete sie von Gott eine andere Hilfe als sonst.

»Herr, hilf mir. Gib mir Kraft. Steh mir bei ... ich bitte dich ... steh mir bei.«

Sie saß bereits eine halbe Stunde auf diesem Mauervorsprung. Sie weinte, sie betete, sie flüsterte liebevolle Worte, die an ihre Eltern und an ihre Schwester gerichtet waren, immer wieder vor sich hin. Vor lauter Weinen taten ihr schon die Augen weh. Sie konnte kaum mehr richtig sehen. Sie rieb sich ihre Augen trocken und versuchte sich zu beruhigen. Aber das war ihr nicht möglich. Sie fing am ganzen Körper an zu zittern. Es fröstelte sie, obwohl diese Nacht eigentlich eine besonders schöne und warme Augustnacht war. Diese letzte halbe Stunde kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Ihr ganzes Leben zog an ihrem inneren Auge vorüber, jedoch völlig unkontrolliert. Sie schaffte es nicht, zusammenhängende Gedanken zu bilden. Erinnerungen an die Kindheit, die Jugend, die Schulzeit, ihr Studium, Szenen mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester, immer wieder sah sie Gedankenfetzen vor sich. Aber sie führte diese Gedanken nicht bewusst herbei, sondern sie schossen ihr völlig unkontrolliert durch den Kopf. Sie drehte ihren Kopf etwas zur Seite und schaute in die Ferne. Immer wieder wandte sie ihren Blick in diese Richtung. Plötzlich fuhr ihr ein Blitz durch den ganzen Körper. Oh Gott, dachte sie. Da waren sie. Unverkennbar, das waren sie, diese drei Lichter. Langsam aber stetig näherten sie sich. Verena erhob sich, konnte jedoch kaum richtig stehen. Ihre Beine waren schwer wie Blei und zitterten dennoch so stark, dass sie sich zunächst am Zaun festhalten musste. Tränen schossen ihr erneut in die Augen, sie weinte, ja wimmerte fast wie ein kleines Kind. Dann setzte sie mühsam einen Schritt vor den anderen, sie kreuzte ihre Arme über ihre Brust, ballte beide Hände zu Fäusten zusammen. Ihr Gesicht verzerrt, den Mund jetzt etwas geöffnet, rang sie nach Luft. Schritt für Schritt ging sie vor, sie fühlte sich elend. Sie sah die drei Lichter durch die von Tränen durchtränkten Augen verschwommen, aber deutlich, immer weiter auf sich zukommen.

»Herr, hilf mir, hilf mir, gib mir Kraft, hilf mir.«

Nur noch wenige Meter. Einfach nur hinlegen, sonst nichts machen, einfach nur hinlegen, dachte sie. So hatte sie sich diesen Moment jetzt vorgestellt, als sie hierher kam. Doch ihre Knie wurden weich – fast wäre sie gestürzt – sie musste sich mit einer Hand am Boden stützen, um sich wieder einigermaßen aufzurichten. Die drei Lichter – sie kamen immer näher. Noch zwanzig Sekunden ... was wird dann sein? ... Wo werde ich dann sein? ... Was wird geschehen? ... noch zehn Sekunden ... Jetzt, jetzt ... hinlegen und nichts denken ...

»Herr, hilf mir, hilf mir!«

Sie wollte weiter nach vorne gehen, aber eine unbekannte Kraft hielt sie zurück.

»Ich kann nicht, oh Gott, ich kann nicht. Hilf mir doch!«, schrie sie weinend in die Nacht.

Sie wandte sich um, ging einige Schritte, sank auf die Knie und hielt sich mit beiden Händen am Maschendrahtzaun fest ... wenige Meter hinter ihr raste der Güterzug durch die Nacht, als sei nichts geschehen ...

Sie hielt sich krampfhaft am Zaun fest, weinte unerbittlich, zitterte am ganzen Körper, sie weinte laut, ja, jetzt sogar laut schreiend in die Nacht hinein, übertönt nur durch das Rattern des vorbeifahrenden Zuges. Sie schrie so laut sie konnte, obwohl sie sonst eine ruhige Frau war und ihre Gefühle immer unter Kontrolle hatte. Sie sank langsam auf den Boden, mit dem rechten Arm auf der Mauer, auf dem ihr Kopf sich ebenso langsam neigte. Ihr Schreien ging in ein leises Winseln über und es wurde wieder still in dieser sonst so friedlichen warmen Augustnacht. Sie war sehr mitgenommen und fiel sogleich vor lauter Erschöpfung in einen tiefen Schlaf.

Gegen Morgen, kurz bevor die ersten Sonnenstrahlen erschienen, erwachte sie. Sie hatte einige Stunden in dieser doch sehr unbequemen Lage verbracht, mit der rechten Hand, am Maschendrahtzaun festhaltend, kam sie langsam wieder zur Besinnung. Sie setzte sich auf die Mauer, ihre Hose und ihr T-Shirt waren auf der rechten Seite von der Erde und vom Gras verschmutzt. Aber das hatte sie noch gar nicht bemerkt. Wieder nicht, dachte sie. Sie erhob ihren Kopf und lehnte diesen an den Zaun. Ihre braunen Augen schauten ins Leere und ihre brauen, fast schulterlangen Haare waren völlig zerzaust. Sie saß da und dachte, dass das Leben jetzt doch wieder so weitergehen wird. Ich schaffe das nicht, dachte sie immer wieder, ich habe einfach Angst. Ich bin einfach nicht mutig genug, aber andere schaffen das doch auch. Ihre Gedanken kreisten unkontrolliert durch verschiedene Epochen ihres Lebens. Immer wieder in ihrem Leben wurde sie von dem Drang zu sterben überwältigt. Aber jedes Mal, wenn sie fest entschlossen war zu handeln, alles bis zum Schluss durchgeplant hatte, den letzten Schritt schaffte sie einfach nicht. Das ist mein Leben, dachte sie, vielleicht muss ja alles so sein.

Sie vernahm das Zwitschern der Vögel und sie konnte sich sonst daran unendlich erfreuen. Das Gezwitscher wirkte beruhigend auf sie, aber dessen war sie sich gar nicht bewusst. Die Blumen, die Bäume, die Insekten, ja die gesamte Tierwelt liebte sie seit ihrer Kindheit über alles. Die Natur war ihr vertraut, sie hatte Ehrfurcht vor allen Lebewesen und seit ihrer Kindheit achtete sie darauf, dass ihnen kein Leid geschieht. Die ersten Sonnenstrahlen verdrängten die Nacht und sie konnte nun die Umgebung langsam erkennen, in der sie sich befand. Sie atmete mehrmals kräftig durch und ordnete ihre Gedanken. Aufstehen, die Kleider sauber machen, zum Auto gehen und zur Wohnung fahren, dachte sie. Sie erhob sich langsam und wischte sich die Erde und einige Grashalme von ihrer dunkelblauen Jeanshose und von ihrem roten T-Shirt. Mit einem Papiertaschentuch wischte sie den Schmutz von ihren Schuhen ab und sie machte sich auf zu ihrem Auto, das sie etwa fünfzig Meter weiter weg abgestellt hatte. Sie öffnete die Autotür und ließ sich regelrecht auf den Fahrersitz fallen. Sie zwang sich einfach nichts mehr zu denken, sie wollte sich jetzt auf den Heimweg konzentrieren. Sie warf noch einen Blick in den Innenspiegel, richtete ihre Haare so gut es ging zurecht und wischte sich noch einmal ihre Augen. Sie schaltete das Radio ein, doch die Tanzmusik, die gerade gesendet wurde, konnte sie nicht ertragen und schaltete das Radio gleich wieder aus. Dann startete sie den Motor und fuhr einige hundert Meter einen Feldweg entlang bis zur Landstraße. Von da an waren es noch etwa zehn Autominuten bis zu ihrer Wohnung. Den Weg kannte sie gut, da sie diese Strecke täglich von ihrer Wohnung zu ihrem Arbeitsplatz zurücklegte. Aber an diesem Morgen schien alles irgendwie anders. Zu so früher Stunde war sie diese Strecke noch nie gefahren. Ein Reh querte etwa einhundert Meter vor ihrem Auto die Straße. Es blieb kurz stehen, schaute in Verenas Richtung und verschwand sogleich in einem Waldstück, wo Laub- und Nadelbäume weit in den Himmel ragten. Kein Fahrzeug traf sie auf dieser Strecke um diese Zeit an und sie ließ sich Zeit und versuchte sich gedanklich abzulenken. Einerseits fühlte sie eine völlige Leere in sich, andererseits kamen ihr auf der Heimfahrt immer wieder allerlei Gedanken völlig unkontrolliert in den Sinn.

Zuhause angekommen, parkte sie ihr Auto wie gewohnt auf ihrem Stellplatz vor dem Haus, in dem sie wohnte. Es war ein dreigeschossiges Wohnhaus mit insgesamt sechs Wohneinheiten. Sie bewohnte eine Dachgeschosswohnung, die sie sich gemütlich eingerichtet hatte, als sie vor vier Jahren hierher zog, um eine Arbeitsstelle anzutreten. Mühsam schleppte sie sich das Treppenhaus hinauf, in dem es auch an heißen Sommertagen relativ kühl blieb. Die Steinwände und die Marmortreppe wirkten auf sie vertraut, sie fühlte den Luftstrom, der durch ein geöffnetes Fenster im Eingangsbereich bis zu einer im Sommer ständig geöffneten Dachluke zog. Nachdem sie ihre Wohnung betreten hatte, ging sie direkt ins Schlafzimmer und gab als erstes ihrem Stoffhasen, den sie seit ihrer Kindheit hatte, einen Kuss und flüsterte:

»Da bin ich wieder, Susi. Freust du dich? Ja? Ich mich auch.«

Sie nahm Susi in ihre Arme und drückte sie fest an sich. Sie kämpfte gegen ihre Tränen. Dann ging sie ins Wohnzimmer und ließ sich in den Sessel fallen, in dem sie immer saß, wenn sie im Wohnzimmer war. Sie hatte im Wohnzimmer kein Licht angemacht, denn durch die aufgehende Sonne war es schon soweit hell, dass sie die Einrichtung erkennen konnte. Sie hielt Susi immer noch fest in ihren Armen. Dann setzte sie Susi auf die Couch und ging in die Küche, um ein Glas Mineralwasser zu trinken. Sie fühlte sich immer noch sehr elend und beschloss, eine Dusche zu nehmen. Sie zog im Flur ihre Schuhe aus, ohne sie jedoch entgegen ihrer Gewohnheit gleich in den Schuhschrank zu stellen, sondern ließ sie einfach liegen. Dann ging sie ins Schlafzimmer und zog ihre Kleider aus. Barfuß ging sie ins Badezimmer, sie hatte gar nicht daran gedacht, ihre Hausschuhe anzuziehen, die sie sonst immer anzog, sobald sie ihre Wohnung betrat. Doch in dieser Nacht verlief alles ganz anders als sonst. Unter der Dusche ließ sie sich einige Minuten lang warmes Wasser über ihren zarten Körper fließen. Dann duschte sie sich gründlich, denn sie fühlte sich schmutzig und elend. Nach dem Abtrocknen ging sie ins Schlafzimmer. In der mittleren Tür ihres Kleiderschrankes war ein Spiegel über die ganze Höhe eingelassen. Sie blieb davor stehen, strich ihre nassen Haare mit beiden Händen über den Kopf nach hinten und begutachtet sich von oben bis unten. Sie war eine hübsche Frau und sie war sich dessen bewusst. Ihr Körper war wohl proportioniert, schlank, die Taille konnte nicht besser geformt sein, ihre Haut hatte ein leichter brauner Teint und mit einer Körpergröße von einmeterfünfundsiebzig, hatte sie eine ideale Größe für eine so zierlich wirkende Frau von achtundzwanzig Jahren. Ihr Gesicht war makellos, ja, sie hatte eigentlich noch sehr kindliche Züge an sich. Sie blieb einige Minuten so vor dem Spiegel stehen, dann streichelte sie sich mit ihren Händen zärtlich über ihre Brüste und ihre Taille. Was wäre jetzt, wenn ich vorhin mehr Mut gehabt hätte, dachte sie.

»Verena, wer bist du? Was machst du? Warum bist du so? Warum bin ich so? Warum kann ich nicht so glücklich sein, wie alle anderen Menschen auch? Was soll ich nur machen? Was soll ich nur machen?« sprach sie leise.

Und hätte sie zuvor nicht ihre ganzen Tränen vergossen, so wären sie auch jetzt wieder in Strömen geflossen. Aber es kamen keine Tränen, obwohl ihr zum Weinen zumute war. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich in ihren Sessel. Sie nahm Susi in ihren linken Arm und mit der rechten Hand streichelte sie sich über ihren noch immer unbekleideten zarten Körper. Die ersten Sonnenstrahlen trafen nun ins Wohnzimmer, von dem aus sie einen herrlichen Ausblick auf ein weitläufiges Waldgebiet hatte. Hier ging sie regelmäßig joggen und unternahm auch ausgiebige Wanderungen, die sie direkt vor ihrer Haustür starten konnte. Obwohl sie die Gegend auswendig kannte, und fast schon auf die Minute ihre Gehzeit einschätzen konnte, blieb sie bei ihren Ausflügen in die Natur ihrem Wald treu. Sie wollte keine neuen Gegenden erkunden, sondern einfach nur draußen sein in der Natur. Sie sprach mit den Bäumen und mit den Sträuchern, denen sie teilweise sogar Namen gegeben hatte. Sie beobachtete die Tiere in ihrem Verhalten und manchmal konnte sie stundenlang auf einem Felsen oder auf einer Bank sitzen und den Tieren einfach nur zuhören und zuschauen. Vögel, die um die Wette sangen, Schmetterlinge, die in ihrer Farbenpracht von einer Blüte zur nächsten flogen, sich auf dem Boden niederließen und manchmal sogar auf ihrer Hand, wenn sie lang genug einfach nur ruhig dasaß. Gelegentlich nahm sie auch einen Notizblock mit, um kleine Gedichte oder Kurzgeschichten zu verfassen. Doch sie wusste, dass sie zum Schreiben kein Talent hat, und gab diesem inneren Drang nur selten nach. Häufiger kam es vor, dass sie einen Malblock mitnahm, um Blumen, Landschaften oder auch Tiere in Öl festzuhalten. Dabei lies sie auch ihrer Phantasie und Kreativität freien Lauf. Aber sie hatte einen Hang zum Perfektionismus und so kam es vor, dass sie an einem Bild manchmal monatelang malte, mit dem Resultat, dass sie dann häufig immer noch nicht zufrieden war. Ihr Auge erzeugte in ihrem Gehirn ein detailliertes Bild mit allen Feinheiten und sie versuchte, diese Feinheiten bis ins Kleinste auf das Papier oder auf die Leinwand zu bringen. Sie war der Meinung, ein Bild sollte man von der Realität nicht unterscheiden können. Ein allzu vereinfachtes Zeichnen verachtete sie. Künstler, die in wenigen Minuten ein Werk auf die Leinwand brachten, konnte sie keinen Respekt entgegenbringen. Auch um ihrem Hobby, dem Malen, nachgehen zu können, hatte sie sich damals bewusst für diese Wohnung entschieden, obwohl sie damit täglich fünfzehn Autominuten zu ihrem Arbeitsplatz zurücklegen musste. Aber die Lage direkt am Waldrand, die herrliche Aussicht und die Abneigung gegen das Stadtleben machten ihr damals die Entscheidung für diese Wohnung sehr leicht. So saß sie nun in ihrem Sessel und blieb mit ihren Gedanken an Erinnerungen hängen, die sie mit den einzelnen Gegenständen, die sie in ihrem Wohnzimmer hatte, in Verbindung brachte. Sie schaute auf eine Photographie, das sie mit ihren Eltern und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Katharina zeigt. Wenn ihr wüsstet, was in mir vorgeht, dachte sie. Auf dem Familienfoto lächelte sie – wie alle anderen auch. Es wurde kurz nach ihrer Abiturabschlussfeier gemacht. Aber auch damals schon haderte sie mit ihrem Leben. Dieser Todesdrang begleitete sie bis zum heutigen Tag. Nur selten gab es Augenblicke, in denen sie ganz unbeschwert das Leben genießen konnte. Ihr Lieben, wenn ihr wüsstet …, dachte sie noch einmal. Sie legte ihren Stoffhasen auf die Couch und streichelte sich mit beiden Händen zärtlich über ihren Körper. Diese Streicheln beruhigte sie. Sie richtete ihren Blick auf den Fernseher, dann auf eine Vase, die mit Blumen und mit leuchtenden, in allen Farben blühenden Blüten, verziert war. Diese Vase stammte noch aus der Schulzeit. Im Fach Bildende Kunst hatte sie sie aus Ton gefertigt und dann anschließend selbst bemalt. Dann fiel ihr Blick auf ein Ölgemälde, das sie, als sie in diese Wohnung einzog, als erstes gemalt hatte. Über ein Jahr war sie damit beschäftigt. Nach Feierabend nutzte sie als viele freie Stunden, um daran zu arbeiten. Es war ein Landschaftsbild, wie sie sie am liebsten mochte. Tiefblauer Himmel über einer Waldlandschaft bestehend aus dichten Nadelbäumen, davor war ein kleiner Karsee, dessen Oberfläche spiegelglatt war und sich Grünpflanzen auf einem Teil des Sees ausbreiteten. Kleine Felsbrocken liegen wahllos in der Landschaft und auf einer Wiese im Vordergrund wachsen kleine Pflanzen, mit roten, gelben, violetten und blauen Blüten. Auf dieser Wiese stehen zwei Rehe mit gespitzten Ohren, die aus dem Bild heraus direkt auf den Betrachter schauen. Rechts und links im Bild befindet sich Gestrüpp und einige quer liegende Stämme, die sich selbst überlassen wurden. Bilder dieser Art hatte sie bereits mehrere gemalt. Dann fiel ihr Blick auf ein Foto, das den Papst zeigt. Dieses Foto hatte sie als Schülerin selbst auf dem Petersplatz gemacht, als sie mit einer Jugendgruppe die Osterfeiern in Rom verbrachte. Längere Zeit schaute sie auf dieses Bild, dann erhob sie sich vom Sessel, ging auf die Knie, stützte ihre Arme auf dem Sessel ab, und betete:

»Herr, Vater im Himmel, nimm mir diese Gedanken, mache, dass ich eine glückliche Frau werde. Ich danke dir, dass du mich heute Nacht vor dieser Dummheit bewahrt hast. Du musst mir helfen. Ich schaffe das nicht alleine. Hilf mir, Herr, ich bitte dich, hilf mir. Sei mir Sünderin gnädig. Amen.«

Sie bekreuzigte sich und setzte sich wieder in den Sessel. Ihre Augen schauten jetzt ins Leere. Sie sah zwar die Gegenstände in der Wohnung und die freie Natur durchs Fenster, aber sie war zu erschöpft, diese Eindrücke zu verarbeiten oder auch sonst nur darüber irgendwie nachzudenken. Sie streichelte nochmals mit geschlossenen Augen für einige Sekunden ihren Körper, nahm Susi in ihre Arme und fiel dann in einen tiefen Schlaf.

Verena

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