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Freundschaft

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Drei Monate vor jenem Abend hatte sich Verena an einem herrlichen Maitag mit ihren Freundinnen Sabine und Nicole getroffen. Da es an diesem Tag sehr heiß war, beschlossen sie, einen Nachmittag zusammen an einem Baggersee zu verbringen. Schon während ihrer Schulzeit verbrachten sie öfters einen Nachmittag zusammen am Baggersee, doch seit sie ihre Studien beendet hatten, lebten sie in verschiedenen Städten, so dass sie sich nur noch ab und zu an den Wochenenden sehen konnten. Sabine hatte das Lehramt eingeschlagen und unterrichtete an einem Gymnasium Deutsch und Geschichte. Nicole studierte Philosophie und arbeitete gerade an ihrer Promotion. Sie trafen sich an einem Samstagnachmittag an einem Baggersee unweit ihrer Heimatgemeinde. Sie lagen auf großen Decken im frisch gemähten Gras einige Meter vom Ufer entfernt, an dem ein großer, künstlicher Strand mit feinem Sand errichtet war. An dieser Stelle konnte man bequem ins Wasser gehen. Rechts und links davon befinden sich Laufstege aus Holz, die einige Meter in den See hinein ragen und von deren Ende man ohne Gefahr ins kühle Nass springen konnte. Häufig aber saßen die Badegäste einfach nur darauf und ließen ihre Beine davon herabhängen oder Kinder spielten darauf, allerdings nur unter der strengen Aufsicht der Erwachsenen, denn die beiden Stege signalisierten auch das Ende des flachen Badestrandes. Außerhalb dieses Bereiches fiel die Böschung am Ufer stark, fast senkrecht, ab. Der herrliche Tag lockte viele Besucher an und schon bald mussten sich die ankommenden Badegäste ein noch freies Plätzchen in der Menschenmenge suchen. Verena und Sabine hatten am Baggersee immer ihre Bikinis an während Nicole einen Badeanzug bevorzugte.

»Warum trägst du nicht mal einen Bikini?« wollte Sabine von Nicole wissen.

»Ich finde einen Badeanzug bequemer«, sagte Nicole. »Und außerdem gaffen dann die Männer einem nicht dauernd so dämlich an.«

»Ich mag das, wenn mir die Männer nachschauen. Von mir aus können die auch ruhig etwas mehr von mir sehen. Mir gefällt das.«

Sabine hatte schon einige Männerbekanntschaften hinter sich, aber ihrer Meinung nach war nie der Richtige dabei. Sie trauerte ihren Verflossenen auch nicht lange nach – im Gegenteil – sie genoss dann ihre neue Freiheit wieder in vollen Zügen. Nicole war seit einigen Monaten mit einem Mann liiert, der in Stuttgart lebte, in der Stadt, wo sie an ihrer Promotion arbeitete. An manchen Wochenenden fuhr Nicole in ihre Heimat zu ihren Eltern und Großeltern, denn zu Hause hatten sie ein Gestüt und Nicole war eine begeisterte Reiterin.

»Von mir brauchen die gar nichts zu sehen«, sagte Nicole. »Das ist alles für meinen Friedrich vorbehalten.«

»Gibt’s bei euch in der Bank keine schönen Männer?«, fragte Sabine Verena.

»Du siehst von uns dreien am besten aus und bist immer noch solo«, sagte Nicole. »Eigentlich hättest du als erste einen Freund haben müssen.«

»Ach, das hat Zeit«, sagte Verena etwas verlegen, denn sie sprach nicht gerne über dieses Thema.

»Die wartet, bis sie im Alter eines Bankvorstands ist, dann greift sie zu«, sagte Sabine zu Nicole. »Sie ist die Schlauste von uns allen.«

»Aber dann wird sie noch einige Jahren warten müssen, denn so junge Bankvorstände gibt es nicht.«

»Es gibt doch Ältere, die auf junge Frauen stehen. Vor allem bei den gut situierten. Ich würde an deiner Stelle einen Ex-Vorstand suchen, der bereits einige Jahre in Pension ist. Dann wartest du noch einige Jahre bis er den Löffel abgibt, und du hast dann Kohle satt und kannst ein Leben in Luxus genießen«, sagte Sabine.

»Ich will kein Leben in Luxus führen und von den Typen, die sich eine um Jahrzehnte jüngere Frau suchen, halte ich auch nichts.«

»Da muss ich ihr zustimmen«, sagte Nicole mit erhobenen Zeigefinger. »Mit einem wesentlich älteren Mann wirst du nicht glücklich werden. Es gibt ja viele Politiker, die sich scheiden lassen und dann eine wesentlich jüngere Frau heiraten.«

»Lieb' mich bis ans Lebensende, kriegst dafür 'ne satte Rente«, sagte Sabine ironisch.

»Die wollen dich nur besitzen und in ihren Clubs vorführen«, fuhr Nicole fort. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine von denen glücklich ist. Verena sucht sich schon den Richtigen aus, wenn es soweit ist. Der läuft dir auch noch über den Weg. Es gibt keinen Grund in Panik zu verfallen.«

»Also ich könnte das nicht aushalten. Mir macht das Spaß, wenn die mich betatschen und wenn ich an denen alles anfassen kann, und ich meine wirklich alles.«

»Ach, hör doch auf«, sagte Nicole.

Die drei schwiegen eine Zeitlang, als dann Sabine sagte:

»Vor zwei Wochen war ich in einer Sauna und habe mich danach dann auch noch massieren lassen.«

»Na und«, sagte Nicole. »Das ist doch nichts besonderes.«

»Ja, das stimmt. Aber ich habe mich von einem Mann massieren lassen.«

»Heh, Sabine, was ist denn daran besonderes. Was willst du uns sagen? Hast du dich in ihn verliebt?«

»Nein, aber mir gefällt das. Ich, ... ich meine, also, ich war dann auch mal in Nürnberg, also ich meine, da gibt es auch die Möglichkeit, sich massieren zu lassen.«

»Deswegen brauchst du doch nicht nach Nürnberg zu fahren. Da kostet ja das Benzingeld mehr als die Massage«, erwiderte Nicole.

»Nicht ganz«, fuhr Sabine fort. »Das war eine besondere Massage, versteht ihr, da wirst du von einem Mann massiert, und der hat auch nichts an.«

Sabine hielt kurz inne, während sich Verena und Nicole anschauten und gespannt waren, was Sabine jetzt zu erzählen hat.

»Ja, also, und der massiert dich mit seinem ganzen Körper und auch mit einem ganz bestimmten Körperteil. Der massiert deinen ganzen Körper, ohne Ausnahme. Ja, wirklich, ohne Ausnahme. Der massiert dich oben und auch unten. Und du kannst auch selbst bestimmen, wie intensiv und in welcher Stellung, im Liegen, im Stehen, du sitzt auf ihm oder er auf dir, und, naja, also, du darfst auch ihn überall massieren, ja, überall.«

»Na ich weiß nicht«, sagte Nicole. »Und was ist, wenn er ..., na du weißt schon?«

»Nein, das machen die nicht. Dann ist der Laden zu. Du darfst natürlich nur in seriöse Studios gehen.«

»Und wie heißt der Laden?«, fragte Verena, um auch wieder ins Gespräch zu kommen.

»Erotisches Massagestudio für Sie und Ihn. Das ist schon ein seriöser Laden. Ich hatte die ganze Zeit keine Angst, dass er zu weit gehen würde. Das ist ja der Unterschied zu den Schmuddelbuden. Es geht nur ums berühren, einfach nur anfassen und angefasst werden. Geküsst wird auch nicht.«

»Na das wäre ja noch schöner«, sagte Nicole. »Aber ich weiß nicht. Mit einem wild fremden Mann, den du vorher noch nie gesehen hast. Da halte ich mich lieber an meinen Friedrich.«

»Ach, ich war halt wieder solo, und hatte einfach Sehnsucht nach ein paar zärtlichen Streicheleinheiten, und das völlig unverbindlich. Du gehst danach wieder raus und das war's. Du brauchst dir dann nicht die Leier von den Typen anzuhören, wie verliebt sie in dich sind, und wie toll du bist, und bla bla bla. Oh, wie die als nerven. Einmal sagte einer sogar: 'Ich bestehe darauf, dass du mich liebst.' Total bescheuert. Da gehst du raus und hast deine Ruhe. Amen und aus. Finito.«

»Du treibst dich halt immer mit so schrägen Typen 'rum. Wenn dir mal der Richtige begegnet, änderst du auch deine Meinung. Glaube mir«, sagte Nicole.

»Kommt, wir gehen eine Runde schwimmen«, sagte Verena, und die drei standen auf und rannten so gut es ging an den anderen Badegästen vorbei über den kleinen künstlichen Strand ins kühle Nass.

Obwohl es heiß war, hatte das Wasser doch noch nicht die Temperatur wie im Hochsommer, und so schwammen sie in kräftigen Zügen einige Minuten, um sich dann wieder auf ihre Decken zu legen. Sie schwiegen und registrierten kaum, was um sie herum geschah. Kleine Kinder spielten am Ufer und jedes Mal, wenn eines von einem anderen nass gespritzt wurde, kam ein lautes Kreischen hervor. In der Ferne lief ein Radio und man hörte, wie man einander zurief und antwortete. Die Menschen redeten wild durcheinander doch selbst, wenn man wollte, hätte man kaum ein Gespräch aufmerksam verfolgen können. Die drei dösten vor sich hin und Verena dachte, vielleicht sollte sie da auch mal hingehen. Aber das muss doch ekelhaft sein, von irgend so einem Typen begrapscht zu werden. Nein, das ist nichts für sie. Wenn das jemand erfahren würde.

So lagen sie eine gute viertel Stunde da, ohne ein Wort zu reden.

»Was macht deine Promotion?«, wollte Verena von Nicole wissen, indem sie das Schweigen der drei beendete.

»Ach, es geht voran.«

»Über was schreibst du wieder?«

»Über Werte in den verschiedenen Kulturen und deren Bedeutung im zwanzigsten Jahrhundert.«

»Ach du liebe Zeit«, sagte Sabine, »wie kann man nur sein Leben mit so etwas vergeuden.«

»Ich finde das interessant«, sagte Verena. »Das heißt, du untersuchst, welchen Stellenwert zum Beispiel Treue, Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit oder Ehre in den unterschiedlichen Kulturen im letzten Jahrhundert hatten.«

»Genau. Ich analysiere aber auch die Werte in den früheren Epochen, also zum Beispiel in der Antike oder im Mittelalter, und das rund um den Globus. Dann untersuche ich noch, ob und wie sich diese Werte bis heute erhalten oder gewandelt haben. Und da jede Kultur unterschiedliche Werte hat, gibt es alleine schon deshalb unterschiedliche Lebensauffassungen. Aber auch gleiche Werte haben in unterschiedlichen Kulturen verschiedene Bedeutungen.«

»Welche zum Beispiel?«, wollte Verena wissen.

»Nehmen wir einmal die Treue. Treue in der Ehe bedeutete im zwanzigsten Jahrhundert hier in Mitteleuropa die absolute Monogamie. Ohne wenn und aber. Es gibt aber auch Kulturen in den arabischen Staaten, da haben die Männer mehrere Frauen. Wenn die sich nur ihren Ehefrauen hingeben, und sonst keiner anderen Frau, ist das auch Treue. Nach unserem Verständnis unvorstellbar. Oder in Europa im Mittelalter, da hatten die Frauen unter ihren zehn Kindern bestimmt fünf Kuckuckskinder. Aber die Männer nahmen das als selbstverständlich hin, da sie ja auch für die Kuckuckskinder bei den anderen Frauen sorgten. Da hielt man es mit der Treue nicht so genau, obwohl die Kirche, die damals ja sehr mächtig war, seit jeher die Monogamie lehrt. Und bei den Eskimos war es früher sogar Brauch, einem Gast seine Ehefrau für eine Nacht zu überlassen. Und es wäre eine üble Beleidigung gewesen, wenn der Gast sie zurückgewiesen hätte. Das Wort Treue existierte in früheren Zeiten bei den Völkern dieser Region überhaupt nicht. Tja, Sabine, du müsstest bei den Eskimos leben und einen Fußballspieler heiraten, dessen Mitspieler dann regelmäßig zu Besuch kommen. Das wär's, was?«

Sabine lachte laut heraus und Verena fand dieses Thema durchaus interessant.

»Ich würde an deiner Stelle auch noch den Wert der Kinder in der Gesellschaft untersuchen«, sagte Verena.

»Das habe ich auch noch vor. Allerdings will ich das Verhalten der Menschen, beziehungsweise der Eltern, ihren Kindern gegenüber untersuchen. Diese Beziehungen zu den Kindern erlebt ja jede Generation immer aufs Neue, und gerade hier kann man kulturelle Veränderungen gut erkennen.«

»Vor allem der Einfluss der Religionen und der Gesetzgebung.«

»Genau Verena. Die Religionen haben die verschiedenen Gesellschaften sehr stark geprägt. Wobei auch Religion und Staat, und damit die Gesetzgebung, sehr stark verflochten waren und bis heute mancherorts auch noch sind.«

»Dann musst du noch die religiöse Literatur durchstöbern, die Bibel, die Tora, den Koran.«

»Genau, und ich will auch im asiatischen Bereich noch recherchieren. Der Buddhismus und der Hinduismus haben ihre eigene Gesetzmäßigkeiten, während die jüdische, christliche und islamische Religion stark verflochten sind.«

»Wie denn das?«, fragte Sabine.

»Also, vereinfacht gesagt, glauben die Juden, die Christen und die Mohammedaner alle an Abraham beziehungsweise Moses und das, was im Alten Testament steht. Dann erschien Jesus. Das führte dazu, dass einige an ihn glaubten, andere wiederum nicht. Diejenigen, die an ihn glaubten, bezeichneten sich als Christen, die anderen als Juden. Das heißt, hier gab es eine erste Spaltung einer religiösen Gemeinschaft innerhalb der Gesellschaft. Dann wurde das Neue Testament niedergeschrieben und diente den Christen als Grundlage ihrer Religion. Sechshundert Jahre später kam dann Mohammed, und begründete den Islam, indem er den Koran verfasste. Aber die Christen und die Juden erkannten Mohammed nicht an, und diejenigen, die ihn anerkannten, spalteten sich von den anderen ab. Ab dann gab es eben die Juden, die nur an Abraham glauben, aber nicht an Jesus und Mohammed, dann die Christen, die an Abraham und Jesus glauben, aber nicht an Mohammed und die Islamisten, die an Abraham, Jesus und Mohammed glauben. Alle Religionen haben den gleichen Ursprung und haben sich dann doch im Laufe der Zeit sehr stark gewandelt. Ähnliche Strömungen gibt es auch beim Buddhismus. Aber ob ich das Thema so intensiv bearbeiten kann, weiß ich noch nicht, das ist wohl eine Doktorarbeit für sich.«

»Ich finde das sehr interessant«, sagte Verena. »Alles basiert im Endeffekt auf den Zehn Geboten«, fügte sie hinzu.

»Du sollst nicht töten«, sagte Sabine. »Wenn ich dann die Geschichte mir anschaue, dann haben die Menschen sich nie an diese Gebote gehalten.«

»Was die Geschichte angeht, haben sich die Menschen schon an diese Gebote gehalten, die einfachen Menschen zumindest. Das ganze Gemetzel das in den Geschichtsbüchern steht, geht doch auf das Konto der Herrscher und Mächtigen im Kampf um die Macht und die Gier nach Geld und Reichtum«, erwiderte Nicole und Verena fügte hinzu:

»Ein paar wenige Herrscher und Machthungrige haben das Elend zu verantworten, das in den Geschichtsbüchern zu finden ist. Ich halte die Menschen von Natur aus für friedlich. Wenn du sie allerdings zum Töten trimmst, wie beim Militär, dann werden sie zu Killermaschinen. Und früher war das bestimmt noch extremer. Da wurden sie mit hohen Positionen im Staat gelockt und zu grausamen Kriegen regelrecht angestiftet.«

»Da sind wir uns alle einig«, sagte Sabine. »Bei den Waklimi, einem afrikanischen Stamm, der vor eintausend Jahren existierte, wurde der König getötet, wenn er gegen geltendes Recht verstoßen hat oder das Volk unzufrieden war. Wahrscheinlich hat das einfache Volk jemand aus ihrer Mitte zum König erklärt und der musste dann die Aufgaben des Königs erfüllen. Gelang es ihm nicht, war sein Schicksal besiegelt. Da ging die Macht noch vom Volk aus, nicht so wie heute. Heutzutage ist es das beste, man denkt nicht darüber nach, da wird man ja richtig krank davon.«

»Und wie war die Lage der Kinder in den verschiedenen Religionen früher?«, fragte Verena Nicole.

»Da muss ich mich noch genauer mit beschäftigen. Kinder wurden geopfert, gefoltert, versklavt, zu Kaisern gekrönt, zwangsverheiratet und was weiß ich noch alles.«

»Ich habe mal in dem Reisebericht von Alexander von Humboldt gelesen«, sagte Sabine, »als er seine fünfjährige Südamerikareise unternahm, dass Missionare einer einheimischen Frau ihre Kinder wegnehmen wollten, um sie nach europäischem Vorbild zu erziehen. Die Frau verweigerte die Herausgabe ihrer Kinder und dann haben die Missionare die Kinder einfach entführt. Der Frau gelang es wieder, ihre Kinder zurückzuholen, aber die Missionare entführten abermals die Kinder und brachten sie an einen entfernten Ort. Die Frau durchquerte dann alleine den Urwald und Sümpfe. Krokodile, Schlangen und was da alles so im Urwald unterwegs ist, konnte sie nicht davon abhalten. Nach drei Tagen und Nächten kam sie an den Ort, an dem sie ihre Kinder vermutete. Sie konnte abermals ihre Kinder befreien, aber die Missionare nahmen sie ihr dann wieder weg und als die Frau erkannte, dass sie ihre Kinder nicht mehr zurückerhalten wird, verweigerte sie die Nahrungsaufnahme, bis sie starb.«

»Tja, den Missionaren war wichtig, dass die Kinder sozusagen zivilisiert wurden, und trotzdem handelten sie unchristlich und unmenschlich«, sagte Nicole.

»Ja, früher geschah viel Unrecht, ohne dass es gesühnt wurde«, sagte Verena. »Ich habe mal gelesen, dass zu der Zeit, als viele Europäer nach Nordamerika ausgewandert sind, sich die Indianer über die Gewalt der Europäer gegenüber ihren eigenen Kindern gewundert haben. Die Indianer selbst sind mit ihren Kindern sehr rücksichtsvoll und friedfertig umgegangen, während der gesamten Erziehung. Die Indianer verachteten die brutalen und gewalttätigen Europäer sogar.«

»In Deutschland wurde im Mittelalter sogar ein Gesetz erlassen, das den Müttern untersagte, ihre kleinen Kinder während der Nacht mit ins Bett zu nehmen«, sagte Nicole.

»Warum denn das?« fragte Sabine erstaunt.

»Weil es immer wieder vorkam, dass diese ihre Kinder im Schlaf erdrückten und daraufhin viele Kinder auch gestorben sind. Um das zu verhindern kam halt ein Gesetz heraus. Während die Frauen in der Karibik das überhaupt nicht verstehen können. Für sie ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ihre kleinen Kinder bei ihnen im Bett schlafen, und die können auch gar nicht verstehen, wie man im Schlaf seine Kinder erdrücken kann.«

»Die fetten deutschen Spinatwachteln sind halt plump und unsensibel«, sagte Sabine.

»Ja, die Kinder haben zu früheren Zeiten schon einiges mitgemacht. Bei Platon oder Aristoteles, ich weiß nicht mehr genau bei wem, wird sogar erwähnt, dass, wenn eine Gesellschaft ihre maximal erwünschte Einwohnerzahl erreicht hätte, man die Neugeborenen einfach sterben lassen sollte. Aus rein ökonomischen Gründen.«

»Kam die Idee von den philosophischen Einfallspinseln, die sich mit hochgezogenen Augenbrauen und mit gerunzelter Stirn über Allem und Jedem erhaben fühlten?«, fragte Sabine und fügte sogleich hinzu: »Ich hoffe, du nimmst mir die Äußerung nicht übel.«

»Ich weiß es nicht mehr genau. Das habe ich früher mal gelesen. Ich müsste das nochmals nachlesen, ob die das einfach nur berichtet haben oder ob die Idee von ihnen stammt.«

»Tolle Welt«, sagte Sabine. »Die einen lassen ihre Nachkommen sterben, damit die alten Tattergreise ihre letzten Tage noch genießen können, die anderen zerquetschen im Schlaf ihre Kinder. Und heute? Heute drücken sie Kindern ein Maschinengewehr in die Hand, damit sie andere Kinder niedermetzeln können.«

»Müssen«, korrigierte Verena, »sie müssen andere Kinder töten. Wenn sie sich weigern würden, droht man eines ihrer jüngeren Geschwister zu töten. Und schon machen sie was man ihnen befiehlt.«

»Du meinst die Kindersoldaten in Afrika?«

»Ja, genau. Wenn man bedenkt was da manche Kinder mitmachen müssen. Grauenhaft. Und in der Stunde, seit wir hier sind, sind weltweit wahrscheinlich siebenhundert bis eintausend Kinder unter fünf Jahren gestorben, weil sie nichts zu Essen haben oder wegen fehlender medizinischer Versorgung.«

»Die Kinder sind am schwächsten in der Gesellschaft. Die trifft es als erstes«, ergänzte Nicole.

Die drei verfielen in ihre eigenen Gedanken und dösten vor sich hin, ohne jetzt viel zu reden.

Verena dachte über das Gesprochene noch nach und grübelte über Recht und Unrecht und das Leid, das viele Kinder wohl auch jetzt durchmachen müssen. Die Äußerungen von soeben, lies sie über Gott und die Welt nachdenken. Wie war die Menschheit früher? Wie haben die Menschen früher gelebt? Wie hat sich das alles, die Gesellschaft, das Rechtssystem, die Werte der Menschen, ja, eigentlich alles entwickelt? Muss alles so sein wie es ist, auch das Schlechte? Oder machen es sich die Menschen da zu einfach, weil sie sich gerne treiben lassen und die Muße der Anstrengung bevorzugen, das Einfache dem Schwierigen, lieber den niedrigen Trieben nachgaben, anstatt sich an gesellschaftliche Werte zu halten? Aber wer hat das Recht, Werte zu definieren und warum?

»Was meint ihr«, unterbrach Verena die Stille unter den dreien abermals, »was ist wichtiger, Religion oder der Staat mit seinem Rechtssystem?«

»Können wir uns nicht über Männer unterhalten?«, fragte Sabine gelangweilt.

»Ich meine der Staat ist wichtiger«, sagte Nicole. »Wie kommst du jetzt darauf?«

»Stellen wir uns eine Situation vor, wie jetzt heute«, sagte Verena. »Wir sitzen an einem schönen Sommernachmittag am Baggersee, mit weiteren eintausend Menschen. Wir sehen, wie ein zirka zweijähriges Kind am Wasserrand spielt. Plötzlich fällt dieses Kind ins Wasser. Wir sehen das. Was machen wir? Wir können uns schnell auf den Weg zu der Stelle machen, in der das Kind ins Wasser stürzte, um es zu bergen und damit zu retten. Aber wir können uns auch auf andere verlassen, dass diese reagieren werden. Werden diese aber reagieren? Haben sie den Vorfall beobachtet? Wir wissen es nicht. Wenn sonst keiner den Vorfall beobachtete, und wir warten zu lange, kann dies für das Kind den sicheren Tod bedeuten. Rein menschlich gesehen hat man also gar keine andere Wahl als zu reagieren. Juristisch gesehen könnten wir es uns erlauben, nicht zu reagieren. Denn es kann niemand den Nachweis erbringen, was wir gesehen haben, ohne sich selbst als Beobachter zu outen. Würde jemand die Behauptung aufstellen, wir hätten den Vorfall beobachtet und hätten das Kind retten können, dann müsste auch er selbst reagieren. Täte er das nicht, würde auch er sich juristisch schuldig machen. Vor Gott aber müssen wir reagieren. Wir können nicht so tun, als ob wir nichts gesehen hätten. Ich meine, dieses Beispiel dient doch symbolisch auch für das richtige Leben. Wenn wir die Not anderer Menschen sehen, zum Beispiel die Situation in den Entwicklungsländern mit den Hungersnöten und so, und reagieren nicht, dann machen wir uns schuldig. Die Menschen, die nichts sehen, weil sie zu sehr mit den alltäglichen Problemen beschäftigt sind oder aus anderen Gründen, wird man nicht zur Rechenschaft ziehen können, wenn sie nicht aktiv werden. Aber die Menschen, die die Not der anderen sehen und nicht reagieren, machen sich schuldig. Das heißt, juristisch und staatsgläubig gesehen, können wir die Hilfe unterlassen, ohne belangt zu werden. Menschlich gesehen, unter den Werten der Religion, machen wir uns schuldig, wenn wir nicht handeln. Versteht ihr was ich meine? Und das würde bedeuten, dass die Religion uns zu höheren Menschen erziehen kann als der Staat mit all seinen Gesetzen. Allerdings dürfen die Religionsvertreter selbst nicht gegen die Menschlichkeit verstoßen, so wie diese Missionare.«

»Das ist sehr abstrakt und sehr schwer zu beurteilen«, sagte Nicole. »Denn die Religion verlässt sich auf das Gute im Menschen, das Schlechte wird aber erst im Jenseits bestraft. Das würde doch, vor allem für die Ungläubigen, einen Freibrief zur absoluten Willkür bedeuten. Der Staat aber, der sie jetzt bestraft, im Diesseits, zwingt sie daher eher darauf zu achten, die Gesetze und Verordnungen zu beachten. Die Religion setzt mit Sicherheit die höheren ethischen und moralischen Ziele, aber die Erfahrung zeigt doch, dass erst die Gesetze die Menschen einigermaßen zum gegenseitigen Respekt zwingen.«

»Ja, da hast du vielleicht Recht.«

»Du bist zu idealistisch, Verena. Die Menschen neigen halt von Natur aus zum Schlechten und zum Bösen«, sagte Sabine.

»Tja, ohne den Tod kein Leben, ohne den Hass keine Liebe, ohne die Nacht kein Tag, ohne das Böse nicht das Gute. Das wussten schon die alten Chinesen«, sagte Verena.

»Yin und Yang«, ergänzte Sabine.

»Genau«, sagte Nicole. »Wenn es diese Gegensätze nicht gäbe, könnte man das, was wir als positiv empfinden, also Leben, Liebe oder das Gute, gar nicht definieren. Wahrscheinlich wird der Menschheit all das erhalten bleiben, was wir auch als negativ empfinden, weil sonst der andere Part, also das Positive, nicht mehr an Wert geschätzt werden könnte.«

»Dann wird es deiner Meinung nach immer Krieg geben. Denn das positive Gegenteil wäre ja Frieden. Und Kant kann sich seinen 'Ewigen Frieden' an den Hut stecken«, sagte Verena.

»Das würde ich jetzt nicht sagen. Bei Krieg und Frieden sehe ich das etwas anders. Krieg ist etwas, das die Menschen aktiv geschaffen haben. Vielleicht schafft es die Menschheit einmal, ohne Krieg zu leben. Da würde ich jetzt eine Ausnahme machen.«

»Da bin ich aber beruhigt«, sagte Verena und die drei dösten wiederum eine Zeitlang wortlos auf ihren Decken vor sich hin.

Die Ruhe unter den dreien wurde durch ein lautes »Hehhh« von Sabine unterbrochen.

Ein Wasserball landete auf ihrem Kopf und unmittelbar darauf folgte ein:

»'tschuldigung, war Absicht.«

Sabine drehte sich um und hinter ihr stand Arnold, ihr Exfreund.

»Ach, du bist das. Hätte ich mir denken können.«

»Na ihr drei hübschen Zicken. Sieht man euch auch mal wieder?«

»Ich helf' dir gleich mit deinen Zicken«, sagte Sabine und zog den Stöpsel aus dem Wasserball raus.

»Sehr komisch«, sagte Arnold, entriss ihr den Wasserball und blies ihn sogleich wieder auf. »Darf ich mich zu euch legen oder spielt ihr mit Wasserball?«

»Weder noch«, sagte Sabine. »Erstens ist hier kein Platz mehr für dich und zweitens ist viel zu viel los, da hast du ja nicht viel Platz zum Spielen, so wie es da im See jetzt von Menschen wimmelt.«

»Ach, wenn du kommst, hauen die schon ab, da hab ich keine Bedenken«, war die Antwort von Arnold.

»Ha, ha«, lachte Sabine gezwungenermaßen und wandte ihr Gesicht von Arnold ab.

Er klemmte den Wasserball unter seinen Arm und öffnete eine Flasche, die mit eiskaltem Mineralwasser gefüllt war, und kaum hatte Sabine ihr Gesicht abgewandt, ergoss sich ein eiskalter Wasserstrahl über ihren Rücken. Von Sabine war ein entsetzliches Kreischen zu hören und Verena und Nicole krümmten sich vor Lachen.

»Du Depp!«, schrie sie und wollte Arnold gegen den Fuß treten, traf ihn aber nicht richtig.

Der ging laut lachend davon und rief noch: »Vielleicht sehen wir uns später noch.«

Dann traf er sich mit Freunden im See, die bereits auf ihn warteten, und sie spielten sich gegenseitig den Ball zu, so wie es sich gerade ergab. Der Ball flog auch über die Köpfe der anderen Badegäste hinweg, und manche schlugen auch den Ball wieder in die Runde zurück, oder sie spielten einfach mit, das Arnold und seinen Freunden sehr gefiel. Sie waren im örtlichen Wassersportverein und freuten sich über jeden, der sich gerne im Wasser aufhielt und natürlich auch über jedes neue Mitglied in ihrem Verein.

»Warum seid ihr nicht mehr zusammen?«, wollte Verena wissen.

»Wir haben uns gestritten, naja, und das war's dann.«

»Wegen einem Streit?«, fragte Nicole erstaunt.

»Ach, was soll's, vorbei ist vorbei«, und sie merkten, dass Sabine nicht weiter darüber reden wollte.

Sie respektierten einander ihr Privatleben und drangen nicht zu sehr in die Privatsphäre der anderen ein. Freundschaft bedeutet nicht, dass man alles voneinander wissen muss, war ihre Ansicht. Und wahrscheinlich hat ihre Freundschaft deshalb so gut gehalten, weil sie nicht zu sehr in das Leben der anderen eindrangen.

»Warum machst du keine Doktorarbeit?«, wollte Sabine von Verena wissen.

»Ach, mir ist das zu anstrengend. Und zudem ist die Materie viel zu trocken.«

»Du könntest doch in der Bank dir einen Bereich aussuchen, der dir besonders liegt.«

»Ja, aber das Bankgewerbe ist durchgehend eine sehr trockene Materie. Paragraphen und Zahlen. Berichte und Bilanzen. Wenn man da promovieren will, muss man schon etwas verrückt sein.«

»Aber die letzte Finanz- und Wirtschaftskrise eröffnet doch bestimmt interessante Themenbereiche?«

»Das stimmt. Aber wenn du in einer regional organisierten Bank eine Promotion schreiben willst, erwarten die von dir, dass du dann Themen bearbeitest, die für die Bank von Nutzen sind. Ein globales Thema wie die Finanz- und Wirtschaftskrise sollte nach deren Meinung international aufgestellte Banken oder Institute bearbeiten. Bei denen müsste ich schon eine neue Software implementieren oder neue Produkte entwickeln, einführen und dann den Erfolg statistisch auswerten. Ne, ich habe zu 'ner Promotion auch keine Lust mehr.«

»Wie habt ihr die Wirtschaftskrise überstanden?«, fragte Nicole.

»Wir sind lokal aufgestellt und waren davon kaum betroffen. Klar haben wir die Verunsicherung der Kunden bemerkt, aber in unserer Bilanz hatte die Krise kaum Spuren hinterlassen. Eigentlich gar keine.«

»Wenn man bedenkt wie da einige wenige Leute mit Milliarden um sich werfen und die Finanzwelt ins Chaos stürzen können«, sagte Sabine.

»Ich glaube, da waren auch viele Politiker hoffnungslos überfordert«, ergänze Verena.

»Natürlich waren die Politiker überfordert«, sagte Nicole. »Weil sie keine Ahnung von der Materie haben. Und jetzt kommen sie und erlassen ein Gesetz nach dem anderen. Sie tun so als ob sie aktiv wären.«

»Die Politiker müssen natürlich Entscheidungen treffen, und wenn man bedenkt, dass viele Experten untereinander uneins sind, auf wen sollen dann die Politiker hören? Die einen empfehlen dies, die anderen das«, sagte Verena.

»Ja, und von den Pappnasen in den Regierungen kannst du auch nicht viel erwarten. Die denken auch, 'Nach mir die Sintflut'. Hauptsache die kriegen ihre Kohle und dann ab in Pension«, sagte Sabine.

»Krisen gab es schon immer«, sagte Nicole.

»Ja, aber es waren ja nicht alle Staaten davon betroffen«, sagte Verena.

»Klar, aber die Deutschen waren schon davon betroffen«, sagte Nicole.

»Bei den Pappnasen«, sagte Sabine.

»Ich glaube die globale Wirtschaft kann eh keiner mehr steuern«, sagte Verena. »Das ist inzwischen alles so verflochten und undurchschaubar. Jeder will nicht nur für sich selbst, sondern auch für sein Unternehmen und für sein Land etwas erreichen. Das führt automatisch zu Konflikten. Die Nachfrage nach Rohstoffen steigt, die Meere werden leer gefischt, extreme Dürren und Überschwemmungen nehmen zu, die Menschen werden immer mehr, ich weiß nicht wo das noch alles hinführt. Ein einzelner Mensch kann das doch gar nicht mehr koordinieren. Und wenn mehrere Menschen zuständig sind, fangen da schon die Probleme an.«

»Wie meinst du das?«, fragte Nicole.

»Weil jeder andere Vorstellungen hat. Und weil die Menschen generell nicht in der Lage sind, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Jeder ist von sich und von seiner Meinung so überzeugt, dass er meint, die anderen müssen genau so denken. Ist das nicht der Fall, muss man sie überzeugen, können sie nicht überzeugt werden, hält man sie für dumm und wertet sie ab, das heißt, man schließt sie aus einem Projekt oder Gremium aus. Egal um was es geht, die Menschheit wird immer in einem Spannungsfeld leben, wenn man nicht als Einsiedler sein Dasein fristen will, sondern in einer Gesellschaft lebt.«

»Tretminen auf Schritt und Tritt«, sagte Sabine und gleich darauf: »Das Beste ist, man denkt nicht darüber nach.«

Inzwischen war schon später Nachmittag und die ersten Badegäste packten ihre Sachen zusammen und verließen die Liegewiese rund um den Baggersee.

»Sollen wir noch 'ne Stunde reiten?«, fragte Nicole.

»Klasse, prima Idee. Ich nehme den Hengst«, sagte Sabine.

»Ich komme auch mit. Ich bin schon lange nicht mehr geritten«, sagte Verena.

Die drei zogen ihre Kleider an, packten ihre Sachen zusammen und fuhren zum Gestüt von Nicoles Eltern. Dort angekommen kam der Schäferhund des Hofes ihnen entgegen gelaufen und stupste Verena mit seiner Nase zur Begrüßung an. Sie streichelte ihn über sein weiches Fell, denn sie mochte ihn sehr gern, und auch er freute sich jedes Mal, wenn Verena zu Besuch kam. Er wedelte vor Freude mit dem Schwanz und sprang um Verena herum, indem er sie immer wieder an den Beinen berührte. Sie sattelten drei Pferde, einen Araber und zwei Holsteiner, und ritten einen Feldweg entlang, umgeben von Wiesen und Obstanlagen.

»Nero, komm!«, rief Verena dem Schäferhund zu und er rannte neben dem Pferd von Verena her. »Wieso habt ihr euren Hund Nero getauft, der ist doch ganz lieb.«

»Ach, als er zur Welt kam, lief gerade so ein Film, ein Hollywood Klassiker, so ein Monumentalfilm, und da hat Papa nach einem Namen gesucht und da fiel ihm nichts besseres ein. Jetzt heißt er halt Nero. Er weiß ja nicht, was das bedeutet. An Ostern kam der Film wieder, da hat er es wieder erzählt, sonst wüsste ich das gar nicht mehr.«

Sabine drehte sich im Sattel um, denn sie ritt voraus, und fragte: »Schaut ihr euch immer noch solche Sandalenfilme an? Die sind doch out.«

»Natürlich, mir gefallen diese Filme. Oder glaubst du etwa, wir schauen uns an Ostern das Kettensägenmassaker an?«

Sabine lachte laut und galoppierte davon. Verena und Nicole ritten nebeneinander her, begleitet von Nero.

»Werdet ihr heiraten, du und Friedrich?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich denke schon. Von Anfang an war für uns klar, dass wir was Festes wollen. Wir sind da auf einer Wellenlänge. Aber zuerst will ich meine Promotion zu Ende bringen. Bis dahin haben wir auch etwas gespart und dann schauen wir, wo wir uns niederlassen werden.«

»Tja, ohne Geld kommt man heutzutage nicht mehr weit. Gefällt es euch in Stuttgart?«

»Ja, aber ob wir dort auch endgültig bleiben werden, wissen wir noch nicht. Das hängt davon ab, wo wir eine gute Anstellung finden. Friedrich ist Ingenieur und ich will nach der Promotion auch nicht einfach zu Hause herumsitzen.«

»Klar. Wie hast du ihn denn kennengelernt?«

»Auf einer Party. Ich wurde von Freunden zu einer Party eingeladen und er war auch dort. Da haben wir uns kennengelernt.«

»Wusstest du dann gleich, dass er der Richtige ist?«

»Wie soll ich das sagen. Wir haben uns den ganzen Abend gut unterhalten. Stundenlang. Und dann sind wir nach Hause gegangen. Wie es bei Ihm war weiß ich nicht, aber bei mir kam das dann später, so zwei bis drei Wochen später. Wir haben uns während dieser Zeit nicht mehr gesehen. Aber irgendwie fühlte ich mich zu Ihm hingezogen. Ich dachte sehr viel an ihn. Und, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber ich hatte auch immer das Gefühl, dass er an mich denkt. Du denkst, du hast einen Schluckauf, aber das ist es nicht, es denkt jemand ganz fest an dich. Und zwar im Guten. Ja, dann habe ich ihn zufällig in einem Supermarkt wieder getroffen, und da hat es dann gefunkt. Dann haben wir uns regelmäßig verabredet, tja, und jetzt sind wir zusammen.«

»Das ist schön. Mein Glückwunsch. Ich glaube den richtigen Partner zu finden ist das größte Glück auf Erden. Eine Familie, Kinder, das muss schön sein.«

»Ja, Geld ist nicht so wichtig. Und man muss sich auch nicht gleich in Liebeserklärungen verlieren. Man fühlt, dass man geliebt wird, man weiß es regelrecht, ohne dass es der andere sagt.«

»Das glaube ich auch. Aber Menschen machen halt auch Fehler. Und man muss halt auch jemanden finden, der einem so nimmt wie man ist.«

»Es gibt Menschen, die sagen: Liebe heißt, jemanden so nehmen wie man ist. Aber das ist nicht ganz richtig.«

»Warum nicht?«

»Ich glaube, es trifft eher zu wenn man sagt: Wer geliebt werden will muss lieben.«

»Wo ist da der Unterschied?«

»Wenn du jemanden liebst, und der andere besteht darauf, dass du ihn nimmst wie er ist, kann er sich mit der Zeit in ein Monster verwandeln. Und er bildet sich dann immer noch ein, wenn du ihn liebst, musst du alles ertragen und erdulden. Er kann dich schlagen, demütigen und beleidigen und erwartet von dir weiterhin, dass du ihn liebst. Das ist doch nicht richtig. Wenn er von dir geliebt werden will, muss er dich lieben, und zwar so, wie du es dir vorstellst. Und das ganze muss auf Gegenseitigkeit beruhen. Ich meine, dann funktioniert's.«

»Stimmt. Da hast du recht«, sagte Verena und sie ritten eine Weile schweigend nebeneinander her.

»Auf der Party wo ich war, also, bei denen hat das mit der Liebe auch etwas länger gedauert, obwohl sie vom ersten Tag an ineinander verliebt waren.«

»Wie denn das?«

»Die waren etwas schüchtern und haben sich nicht gleich offenbart. Aber da sie fühlten, dass sie zueinander Zuneigung hatten, war auch keine Eile geboten. In einem solchen Fall kann niemand dritter dazwischen funken. So haben sie es zumindest an diesem Abend erzählt. Über ein halbes Jahr hat es gedauert, bis sie sich ihre Liebe eingestanden haben. Und jetzt sind sie seit vier Jahren verheiratet und haben zwei süße kleine Kinder.«

»Ich glaube auch, dass, wenn man sich liebt, dass das der andere ohne viele Worte erkennen kann. Vielleicht ist das so eine Art der Telepathie.«

»Wer weiß, was sich da abspielt. Ich glaube, wenn Friedrich sich einer anderen Frau zuwenden würde, würde ich das fühlen, ohne dass ich da irgendwie Beweise bräuchte. Und ich glaube, ihm würde es genau so gehen. Seltsam.«

Verena und Nicole ritten langsam nebeneinander her und Nero rannte voraus, machte kehrt, und kam wieder zurück. So tollte er einige Male herum, bis er wieder im Gleichschritt neben den beiden Pferden herlief, obwohl ihm das Tempo eindeutig zu langsam war.

»Gehst du als abends weg?«, fragte Nicole, um Verena nicht direkt fragen zu müssen, ob sich eine Beziehung anbahnt.

»Selten. Ab und zu mal mit Kollegen, aber sonst eigentlich nicht. Ich mag nicht alleine irgendwo hingehen. Und weggehen, um gezielt nach jemanden Ausschau zu halten, davon halte ich auch nichts.«

»Mit Kollegen ist das immer doof. Das ist eine geschlossene Gesellschaft. Das beste sind wirklich private Partys.«

»Naja, was soll's, mal abwarten.«

Und sie ritten schweigsam weiter. Die Sonne hatte an diesem Maitag die Luft angenehm erwärmt und der erfrischende Duft der Bäume und Blüten lag wie ein angenehmer Schleier in der Luft.

»Die Pferde fehlen mir als sehr«, sagte Nicole. »Beim Reiten kann ich mich so schön entspannen. Das macht mir den Kopf richtig frei.«

»Mir geht es genauso. Aber nach einer Weile hänge ich dann doch wieder meinen Gedanken hinterher. So richtig abschalten kann ich gar nicht.«

»Ich kann das ganz gut. Wenn du die ganze Zeit in der Bibliothek verbringst, da raucht dir abends der Kopf. Ich freue mich dann richtig darauf, wenn ich dann wieder hierher kommen kann. Ein Wochenende hier ist für mich wie zwei Wochen Urlaub. Da kriege ich die Birne wieder richtig frei.«

Sabine kam ihnen entgegen geritten, wendete knapp vor ihnen und rief:

«Habt ihr 'nen Ackergaul unterm Hintern? Na los, gebt mal etwas Gas. Die Tiere wollen ja auch ihren Spaß haben.«

Und die drei ritten im flotten Galopp den Wirtschaftsweg entlang bis sie schließlich in einen angrenzenden Wald kamen. Und auch Nero scheint an diesem Tempo seine Freude gehabt zu haben. Er rannte nebenher, dann überholte er die Pferde und tobte sich auf den umliegenden Wiesen aus. Der Wald war sehr licht und Nero verschwand ab und zu im Wald, um dann weiter vorne wieder völlig unerwartet aufzutauchen. Nero kannte diese Gegend sehr gut, da er beim täglichen Ausritt von Nicoles Eltern immer mit dabei war.

Es war fast sieben Uhr als die drei zusammen mit Nero wieder zu Hause bei Nicole ankamen.

»Das hat mir jetzt richtig gut getan«, sagte Sabine.

»Sollen wir heute Abend noch was unternehmen, wenn wir schon mal hier sind? Wer weiß, wann sich die Gelegenheit mal wieder ergibt«, sagte Nicole.

Verena und Sabine stimmten zu und so trafen sie sich gegen neun Uhr wieder bei Nicole, um an diesem Abend etwas gemeinsam zu unternehmen. Sie ließen dann den Abend in einem Tanzlokal gemütlich ausklingen und fühlten sich in die gute alte Zeit zurückversetzt.

Verena

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