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Die Bewohner des Dorfes Barking, bekannt für das im Jahr 666 erbaute Doppelkloster, nordöstlich von London gelegen, waren an diesem Morgen bereits besonders früh auf den Beinen. Die Nachricht hatte sich wie ein Waldbrand in einer Trockenperiode mit rasanter Gschwindigkeit verbreitet. Es gab wohl niemanden, der noch nicht davon gehört hatte, dass Cameron Whiteman ermordet worden war – und es gab dazu inzwischen so viele Theorien wie eifrige Klatschtanten. Die einen sahen den Mörder in dem Fremden, der sich Dustin Steel nannte und den ganzen Sommer in der kleinen Hütte auf Whitemans Grund und Boden gelebt hatte. Für andere war Joseph der Mörder. Ihrer Ansicht nach hatte der Sohn seinen Vater in einen Anfall volltrunkener Wut getötet. Für einige war es Warren, der Schwiegersohn des ehemaligen Politikers und lokale Zeitungsredakteur, der den Mord begangen hatte. Schließlich wusste jeder um dessen ewigen Streit, betreffs der hohen Schulden von Warren Nicholson. Aber auch Bridget Whiteman blieb nicht verschont. Von ihr glaubten viele zu wissen, dass sie hitzköpfig und zudem leichtsinnig sei. Sogar Alexandra, Whitemans zweite Frau, wurde in den Ring um die Täterschaft geworfen – eine Frau, die in Barking jeder für völlig fehl am Platz empfand. Nicht zuletzt gab es noch Lorraine Nicholson, die ältere Tochter des Abgeordneten. Selbst über sie wurden Spekulationen angestellt. Wenn Cameron Whiteman beschlossen hätte, seine großzügige Haltung gegenüber ihrem ›ineffektiven‹ Ehemann Warren aufzugeben, flüsterte man hinter vorgehaltener Hand, war eine Frau durchaus in der Lage um ihres Mannes Willen zu töten. Am Ende gab es noch die Theorie von einem dahergelaufenen Tramp. Aber alle Annahmen wurden aus dem Nichts aufgebaut, weil niemand außer James Pontypool, dem Kronanwalt, irgendwelche Fakten oder Details kannte, und dieser um sieben Uhr morgens noch keine öffentliche Erklärung abgegeben hatte.

Pontypool selbst hatte noch keine begründeten Annahmen. Dazu benötigte er fundierte Fakten. Als er mit seinem Einspänner durch das Dorf rollte und zum anderen Ende der Stadt hinaus, sinnierte er über die Tatsachen nach, die ihm bislang bekannt waren, und er versuchte, sie zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammenzufügen – bevor er über Theorien nachdachte. Aber er musste sich eingestehen, dass eine riesige Lücke in diesem Blid klaffte, dass er zusammenzusetzen suchte – eine Lücke, die sich aus Dustin Steels scheinbaren Gedächtnisverlust ergab. Dem Mann, der nur wenige Minuten nach dem Mord von Alexandra Whiteman im Garten vorgefunden worden war und den der ehemalige Oberhausabgeordnete als zukünftigen Ehemann seiner Tochter Bridget vehement ausgeschlossen hatte – ein Mann, der ein so wesentlicher Bestandteil des Gesamtbildes und gleichzeitig so undurchschaubar war!

Pontypool scherte in die Einfahrt eines kleinen Hauses in der ›Woodbridge Road‹ am Stadtrand ein. Aus dem Schornstein des Hauses stieg ein dünner blauer Rauchstreifen. Er brachte sein Pferd zum stehen, legte die Radbremse ein und kletterte von Kutschbock. Dann lief er den schmalen gepflasterten Weg zur Vordertür hinauf. Nachdem er mehrmals den Messingtürklopfer angeschlagen hatte, hörte er fast augenblicklich Schritte im Haus, die auf ihn zukamen. Die Tür öffnete sich und ein kleiner, grauer Mann begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln: »Guten Morgen, Mr. Pontypool!«

»Ich wünschte, es wäre ein guter Morgen, werter Herr Doktor«, erwiderte der Kronanwalt. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ich weiß, dass es eine höllisch frühe Stunde ist, um Sie aufzusuchen, aber …«

»Nicht, wenn Sie heißen, frischen Kaffee mögen«, erwiderte der unauffällige Mann mit den schlohweißen Haaren. »Kommen Sie bitte herein. Der Kaffee steht auf dem Tisch.«

»Vielen Dank, Dr. Finch. Einen Kaffee kann ich tatsächlich gut brauchen.« Pontypool folgte ihm ins Haus und zur Essecke in der kleinen Küche. Er sah Finch dabei zu, wie dieser noch schnell eine weitere Tasse auf den Tisch stellte. »Haben Sie schon die Nachricht gehört?«, erkundigte er sich.

»Ich bekomme meine Zeitung nicht vor elf«, erwiderte Finch, während er aus einer Kanne Kaffee in die beiden Tassen einschenkte und sah seinen Gast fragend an. »Um welche Neuigkeit soll es sich dabei handeln?«

»Der ehemalige Abgeordnete des Oberhauses, Cameron Whiteman, wurde in der letzten Nacht ermordet.«

»Oh«, bemerkte Finch wie abwesend und stellte die Kanne auf dem Tisch ab.

Pontypool schüttelte den Kopf und musste unwillkürlich lachen. »Ich teile Ihnen mit, dass der prominteste Bürger des Ortes ermordet wurde, und alles, was Sie dazu sagen ist: Oh!«

Der kleine, graue Mann setzte sich hin und schob die Zuckerdose in Richtung des Kronanwaltes. »Was sollte ich denn Ihrer Meinung nach sagen?«, fragte er. »Ich kannte den Mann nicht, also fühle ich ehrlich gesagt auch keinen Verlust oder Kummer. Ein gewaltsamer Tod ist schließlich auch nur ein Tod, und der kommt früher oder später auf jeden von uns zu. Ich sehe also keinen Grund, erstaunt zu sein, genauso wenig wie ich es tue, wenn ich am Ende eines Satzes angekommen bin.«

Pontypool gab mit einem kleinen Silberlöffel etwas Zucker in seinen Kaffee und probierte ihn vorsichtig. Er kannte seinen Gastgeber nicht besonders gut. Was er über ihn wusste, hatte er aus dem ›Who is Who‹ der ›Encyclopedia Britannica‹:

FINCH, CHARLES , Dr. med., geb. 1824 in Cardiff (Wales). Mitglied der ›Royal Medical and Chirurgical Society of London‹; Gutachter bei vielen berühmten Mordprozessen. Verfasser von: ›Die Geheimgänge der Seele. Der Mensch im Kampf zwischen Tod und Leben‹, ›Der schlafende Vulkan. Studie über die Angst‹, ›Psychiatrie und Verbrecher‹; zahlreiche Beiträge in medizinischen Fachjournalen.

Dr. Finch war ein unauffälliger, kleiner Mann. Er war weder groß noch klein, noch fett oder dünn. Er war weder hässlich noch derart attraktiv, um sofort wahrgenommen zu werden. Er hatte etwas an sich, was man wohl als zeitlose Qualität bezeichnen konnte – eine eigentümliche, eine anonyme Qualität. Sogar seine Stimme war irgendwie flach und klanglos.

»Ich möchte gar nicht lange drumherum reden, Doktor. Tatsache ist, dass ich in der Klemme sitze«, kam Pontypool auf den Punkt. »Sie sind Psychiater oder etwas in der Art. Ich …«

»Jedenfalls so etwas«, unterbrach ihn Finch mit einem gutmütigen Lächeln.

»Können Sie mir sagen, ob ein Mann einen Gedächtnisverlust vortäuscht oder nicht, Doktor?«

»Nur, wenn er schlauer ist als alle, die ich je gesehen habe.«

»Würden Sie bitte nach dem Frühstück mit mir zum Haus des Abgeordneten kommen? Die einzige Person mit einem glasklaren Motiv, Cameron Whiteman zu töten, leidet offenbar unter Gedächtnisverlust.«

»Das ist ein interessanter Satz, Mr. Pontypool«, bemerkte Finch.

Pontypool zog seine buschigen Augenbrauen leicht zusammen und warf ihm einen irritierten Blick zu. »Wie meinen Sie das, Doktor?«

»Ich meine: ein glasklares Motiv«, antwortete dieser und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Ich bin der Meinung, dass das wahre Motiv hinter jedem Gewaltverbrechen zunächst sehr unklar sein muss.«

Pontypool lachte erneut. »Ihr Psychiater glaubt alle, dass alles menschliche Verhalten durch frühkindliche Erfahrungen bedingt ist, nicht wahr?«

»Die meisten Menschen werden in den ersten sechs bis acht Jahren ihres Lebens geprägt«, philosophierte Finch, »und danach leben sie das Muster dieser Jahre weiter, bis sie sterben. Deshalb bewegt sich die Geschichte so langsam, Mr. Pontypool.« Er hob seine Kaffeetasse an, nahm einen weiteren Schluck und stellte sie zurück. »Aber ich entspreche Ihrer Bitte und werde mir Ihren Amnesiefall ansehen.«

***

Charles Finch: Gedächtnisverlust

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