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DIE ERBEN DES TACITUS – EINE NATION WIRD GEFÄLSCHT

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Enea Silvio Piccolomini pries sein Gastland in den höchsten Tönen. Die Deutschen seien, so teilte er dem Kanzler des Erzbischofs von Mainz 1457 mit, zu keinem Zeitpunkt ihrer Geschichte so reich gewesen wie heute; nie seien ihre Gelehrten angesehener und ihre Priester frömmer gewesen. Verglichen mit der kulturellen Ödnis des antiken Germaniens gleiche Deutschland einem irdischen Paradies. Zu danken sei diese Entwicklung vor allem Rom, das in selbstloser Missionstätigkeit die tumben Germanen in ein Volk verwandelt hatte, das sich mit den edlen Römern messen könne.

Von den Ex-Barbaren, die Piccolomini mit blumigen Worten in den Kreis mediterraner Kulturträger aufgenommen hatte, erwartete er vor allem finanzielle Unterstützung. Der unermüdliche Kämpfer für seinen päpstlichen Patron war in das Reich gesandt worden, um drohendes Ungemach abzuwenden. Eine Begrenzung der Zahlungen an die Kurie stand ins Haus, und die geistlichen Kurfürsten zählten aus wohlerwogenem Eigeninteresse zu den wichtigsten Befürwortern dieses Planes. Das Reich, so ließ man Rom wissen, sei ausgeblutet. Seine Heiligkeit könne unmöglich eine Steigerung der finanziellen Transferleistungen erwarten.

Piccolomini hielt dagegen – nicht mit Kritik, sondern mit einer überschwänglichen Hymne auf des Reiches blühende Landschaften. Die Botschaft war unmissverständlich: Deutschland hatte Grund zur Dankbarkeit und konnte sich nun, da die Christenheit von den Türken bedroht wurde, seinen Verpflichtungen nicht entziehen. Der gelehrte Kardinal, der Jahre später als Papst Pius II. sein erfolgloses Pontifikat einem neuen Kreuzzug gegen die muslimische Gefahr widmete, wurde nicht müde, diese These beständig zu wiederholen.

Sein wichtigster Beleg war die „Germania“ des römischen Geschichtsschreibers Publius Cornelius Tacitus – ein lange ignorierter Text, der auf gewundenen Wegen in die Hände Piccolominis gelangt war. Piccolomini hatte das Potential, das in der vielschichtigen ethnographischen Beschreibung des Barbarenvolkes lag, rasch erkannt. Die Schrift aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert gab den Deutschen, so das Kalkül, eine gemeinsame Geschichte und den Lesern Einblicke in die ungeschliffene Frühzeit eines Volkes, das nunmehr die Kaiserkrone für sich beanspruchte. Was mochte reizvoller sein, als diesen Gegensatz herauszustellen und den undankbaren Deutschen jene Wohltaten zu preisen, die ihnen der römische Einfluss beschert hatte?

Der Dichter traf mit seinen Ausführungen den Nerv seiner Zeitgenossen, hatte doch eine bis dato zweitrangige Kategorie seit Beginn des 15. Jahrhunderts langsam an Bedeutung gewonnen – die Nation. Die Einteilung der Christenheit in geographische Herkunftsgebiete war den europäischen Gelehrten seit Jahrhunderten vertraut. Nationen wurden an überregionalen Kommunikationszentren gebildet – an Universitäten, auf Konzilien oder in Handelsstädten. Ihre Zahl und Zusammensetzung variierte. Wer zu welcher Nation gehörte, wurde vor Ort entschieden. Die Kriterien schienen zunächst weitgehend beliebig zu sein. Das änderte sich in dem Maße, in dem die politischen und wirtschaftlichen Grenzlinien zwischen den Territorien und Königreichen stabiler wurden.

Bereits um 1416 wurde um die Zusammensetzung der Konzilsnationen in Konstanz heftig gerungen. Die Zugehörigkeit Böhmens und Polens zur deutschen Nation war dabei ebenso umstritten wie die Zusammenlegung der französischen mit der englischen. Noch war unklar, was die Nationen eigentlich ausmachte. Englische Gesandte vertraten beispielsweise die Position, dass eine Konzilsnation mehr als eine Sprachfamilie umfassen müsste, um als Gliederung innerhalb der Christenheit Anerkennung zu finden. Immerhin, dass die Nation ein praktikables, natürliches Gliederungsprinzip Europas darstellte und gegenüber einer ständischen Einteilung zu bevorzugen war, fand ungeachtet aller Meinungsunterschiede im Detail breite Zustimmung.

Noch in einem weiteren Punkte kündigte sich zwischen den Streitenden ein stillschweigender Konsens an: Nationen wurden von ihnen als eine Gemeinschaft von Menschen verstanden, die Anteil an gemeinsamer Reputation hatten. Sie umfassten nicht nur die Teilnehmer des Konzils, sondern auch die Daheimgebliebenen. Die Anwesenden bezogen die Abwesenden gleichsam in ihre Streitigkeiten mit ein. Vor allem das stolze Repertoire nationaler Vorurteile wurde auf diesem Wege beständig erweitert. Dass Franzosen wetterwendisch, Engländer verschlagen, Spanier jähzornig und Deutsche meistens volltrunken sind – diese sich aus antiken Quellen speisenden Erkenntnisse wurden im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts zu Gemeinplätzen.

Von keiner anderen Gruppe wurde diese Entwicklung mit ähnlichem Enthusiasmus verfolgt und gefördert wie von den humanistischen Gelehrten. Humanismus – der Begriff umfasste eine widersprüchliche Bewegung, die im 14. Jahrhundert auf der italienischen Halbinsel entstanden war und ab Mitte des 15. Jahrhunderts auch im Reich Fuß fasste. Ihr Erkennungszeichen war ein geschliffenes Latein, das sich an den Vorgaben Ciceros orientierte. Der schöne Stil war dabei nicht Selbstzweck, vielmehr Kennzeichen des wohlgebildeten Mannes, der durch die Kunst des Überzeugens Konflikte beruhigte, Herzen bewegte und der Gerechtigkeit zum Sieg verhalf. Die Reinigung der Sprache machte am Fächerkanon der sogenannten Studia humanitas – Grammatik, Rhetorik, Geschichte, Poesie und Moralphilosophie – keineswegs halt. Humanisten waren Generalisten, vor denen kein Wissensgebiet sicher war. Durch Rückkehr zu antiker Klarheit sollte das verdunkelte Denken und Sprechen auch aus Philosophie, Physik, Theologie und Rechtswissenschaft vertrieben werden.

Nicht der Aufbau eines neuen Dogmengebäudes war dabei ihr Ziel. Humanisten stilisierten sich vielmehr als Suchende, die Fälschungen von Originalen unterschieden, vergessene Quellen klassischer Autoren aus Klosterbibliotheken ans Licht brachten und antiker Kunst neue Beachtung zuteil werden ließen. Neue Funde wurden gelehrten Freunden und Rivalen in Briefen, Reden und Büchern zur Prüfung vorgelegt. Rituale einer Gegenwelt des Geistes: höfliche Kenntnisnahme, Bezeugung von Dankbarkeit, Abgrenzung gegenüber dem Feind, überschwängliches Lob für den Geistesgenossen – all das wurde mit Genuss und formaler Strenge zelebriert.

Italien – Vorbild und Herausforderung

Welchen konkreten Nutzen der neu erschlossene Wissensschatz dem Gelehrten und seinen Mäzenen brachte, hatte Francesco Petrarca, einer der Begründer und Leitfiguren der Bewegung, seinen Zeitgenossen bereits im 14. Jahrhundert demonstriert. Der Dichter hatte das Hohelied eines ewigen, allen anderen Völkern überlegenen Kulturraumes gesungen. Sein Italien war durch unverlierbare Tugend, vermeintlich klare Grenzen und ständige Bedrohung durch Barbaren gekennzeichnet. Mit Barbaren meinte er vor allem die Franzosen, deren schauderhaftes Latein er ebenso anprangerte wie die mittelmäßige Qualität ihres Weins.

Diese durch antike Quellen veredelte Kombination aus Eigenlob und Diffamierung war auf konkrete Ziele gerichtet: Petrarca wollte mit seinen Traktaten die Kurie dazu bewegen, ihr Exil in Avignon zu verlassen und nach Rom zurückzukehren. Die Resonanz auf sein Lob der Romanitas war über den konkreten Anlass hinaus überwältigend. Die Eliten zwischen Mailand und Neapel waren in hohem Maße daran interessiert, Italien als gemeinsames Spielfeld nach außen abzugrenzen und dabei den Papst zu einer Macht neben anderen zu degradieren.

Der nun anbrechende Siegeszug des humanistischen Italienlobs hatte allerdings seine Tücken. Sie lagen vor allem in der Reaktion der nunmehr auf die Stufe von Barbaren reduzierten Nachbarländer. Auch hier bestand, wie die besagten Streitigkeiten zwischen den Konzilsnationen zeigten, die Notwendigkeit, politischen und ökonomischen Räumen, die im Verlaufe des 15. Jahrhunderts schärfere Konturen gewonnen hatten, ein Profil zu verleihen. Es galt, sie mit emotionalen Bindekräften zu versehen, um zentrifugalen Kräften entgegenzuwirken.

Piccolomini trug dem in höchst eigenwilliger Weise Rechnung. Deutschland wurde zwar als selbstständige, ruhmreiche Nation anerkannt, zugleich forderte der Kardinal aber die Unterwerfung der nordalpinen Kulturträger unter die Hegemonie der großen italienischen Lehrmeisterin. Angesichts der unverkennbaren Spannungen zwischen dem Reich und der Kurie war gerade diese Option alles andere als attraktiv.

Dennoch konnte Piccolomini im Reich auf einen harten Kern von Bewunderern der italienischen Gelehrtenkultur bauen. Peter Luder etwa, der zwischen 1440 und 1445 in Ferrara bei Guarino Veronese studiert hatte, betonte Zeit seines Lebens die kulturelle Überlegenheit des südlichen Nachbarn. Dafür hatte er gute Gründe. Luder stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Lediglich seine Bildung und seine Jahre in Ferrara eröffneten dem Weitgereisten die Chance des sozialen Aufstiegs. Seine Italienliebe war damit zugleich Werbung in eigener Sache und Kritik an der Hofkultur deutscher Fürsten.

Vierzig Jahre später hatten sich die Verhältnisse für die Humanisten deutlich verändert. Dass sich neben Bauernsöhnen nun auch Sprösslinge wohlhabender Kaufmannsfamilien wie Konrad Peutinger und Willibald Pirckheimer zur illustren Schar humanistischer Gelehrter gesellten, war ein deutliches Zeichen des Erfolges, den die Bewegung mittlerweile verzeichnen konnte. Gefördert von Kaiser Maximilian I., der die propagandistischen Möglichkeiten humanistischer Selbststilisierung erkannt hatte, breitete sich das Freundesnetz der Dichter, Historiker und Redner rasch über das ganze Reich aus. Als Professoren, Hofdichter und Räte konnten sie sich sozial etablieren und Einfluss auf politische Entscheidungsträger ausüben.

Für die Humanisten der 1490er Jahre bildete die deutsche Nation im Sinne eines überregionalen kulturellen und politischen Raumes durchaus eine greifbare Realität. Ihre Netzwerke hatten sich meist schon in Studienzeiten entwickelt und wurden durch regelmäßigen Briefverkehr gepflegt. Ihr Erfahrungshorizont reichte weit über die Grenzen des eigenen Territoriums hinaus, was einen wesentlichen Teil ihrer Attraktivität für den jeweiligen Dienstherrn ausmachte.

Ausbildungszentren und Lehrstühle nördlich der Alpen begannen eine immer wichtigere Rolle zu spielen. Der deutsche Gelehrtenraum emanzipierte sich von Italien. Dennoch spielten europäische Kontakte und Universitätsstudien in Italien weiterhin eine wichtige Rolle für die humanistische Sozialisation. Es waren gerade diese Auslandsaufenthalte, die ihnen vor Augen führten, wie ihre Heimat von italienischer Seite tatsächlich bewertet wurde. Anders als Piccolomini es seinen Freunden hatte weismachen wollen, galt das Land der Germanen dem Gebildeten dort nach wie vor als Heimstätte trunksüchtiger und jähzorniger Barbaren, deren minderwertige Sprache den niedrigen Entwicklungsstand dieses Volkes widerspiegelte. In einer Gelehrtenkultur, die von den Duellen rivalisierender Geistesgrößen geprägt war, provozierten solche Aussagen geradezu zwangsläufig Widerspruch.

Gefälschte Wurzeln – die Germanen

Die Streiter für den Ruhm der deutschen Nation standen indes vor einer Reihe kniffliger Fragen: Wo lag eigentlich Deutschland? Woher stammten die Deutschen? Wie hatten sie sich von heidnischen Waldbewohnern zu kultivierten Städtern gewandelt? Ein erster Versuch, auf diese Fragen neue, sich von Piccolomini abhebende Antworten zu finden, wurde 1492 von Konrad Celtis unternommen. Celtis, dessen deutsche Landesbeschreibung über Vorarbeiten nicht hinauskam, folgte in einem Punkt seinem italienischen Vorläufer: Auch er sah die germanischen Stämme des Tacitus als Ahnen der Deutschen. Diese Abkunft wird nicht mit Scham, sondern mit Stolz festgestellt, denn Germanien ist für Celtis keineswegs ein finsterer Ort, der von tierhaften Wilden bewohnt wird. Vielmehr sieht er das deutsche Territorium, das er mit machtvollen Versen preist, als idealen Nährboden für ein tapferes und tugendhaftes Volk. Nirgendwo, so gibt er zu bedenken, sei das Klima der Entwicklung des Menschen dienlicher als hier. Wie für die italienische Konkurrenz ist für Celtis das Siedlungsgebiet der Nation, dessen Grenzen er mit Flussläufen, Meeren und Bergen zu ziehen weiß, mehr als eine Bühne des historischen Geschehens. Es bildet eine natürliche Einheit, welche die in ihr lebenden Menschen formt. Deutschland nimmt dabei selbstverständlich eine bevorzugte Stellung ein. Diese Nation sei von Anbeginn der Zeiten zu weltgeschichtlichen Missionen ausersehen, entspringe als ältestes und vornehmstes aller Völker einem göttlichen Vorfahren und sei aus dem Gebiet, das ihr zugewiesen wurde, nie vertrieben worden. Celtis hält damit dem italienischen Anspruch auf kulturelle Überlegenheit eine Art deutsches Erstgeburtsrecht entgegen. Die Deutschen werden zur aristokratischen Nation schlechthin – sie seien älter, von reinem Geblüt und bewohnten noch immer ihr angestammtes Territorium.

Damit ist das Leitmotiv der deutschen Nationalgeschichte vorgezeichnet. Es ist gekennzeichnet durch Natürlichkeit und Reinheit. Seit Urzeiten habe Deutschland seine Unbeflecktheit bewahrt und seine uneinholbare Überlegenheit gegenüber den anderen Nationen Europas unter Beweis gestellt. Frömmigkeit, Tapferkeit und Vaterlandsliebe werden zu deutschen Tugenden erklärt, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Die deutschen Gelehrten werden dabei zu innerweltlichen Priestern, zu Hütern des unverfälschten deutschen Wesens und zu Lehrern der Nation. Das bedeutet nicht, dass Celtis den Gedanken einer Befruchtung von außen grundsätzlich ablehnte. So räumt er den von Kaiser Tiberius angeblich nach Germanien vertriebenen Druiden eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Nation ein. Sie werden zu Vermittlern griechischer Kultur, zu einem ersten Gelehrtenstand, der das Gute und Reine – das den Deutschen Gemäße – vom Tand zu scheiden weiß. Letzteres kommt nach Einschätzung des Humanisten zumeist aus Rom. Italien ist Deutschland nicht über-, sondern unterlegen. Es ist unnatürlich und muss vom humanistischen Geistesadel in energischer, ritterlicher Abwehr vom Ort der Reinheit ferngehalten werden.

Die Nachfolger und Schüler des sogenannten Erzhumanisten Celtis modifizierten dieses Bild in einigen wichtigen Aspekten. So etwa Konrad Wimpfeling, der in seinem 1504 erschienenen „Kurzen Auszug der deutschen Geschichte“ die Druiden nicht mehr als Veredler der Germanen, sondern als fremdländische Sittenverderber darstellt. Tugend sei ein deutsches Gewächs. Von außen kämen grundsätzlich nur negative Einflüsse. Da dies für das Christentum kaum gelten durfte, ernannte Wimpfeling den aus Dalmatien stammenden Kirchenvater Hieronymus schlichtweg zum Deutschen.

Selbst kritische Stimmen konnten sich der Grundthese von der deutschen Reinheit als Kern deutscher Identität nicht verschließen. Beatus Rhenanus etwa wies nationale Stammbäume, die die Deutschen von Noah herleiteten, ebenso konsequent zurück wie die Vorstellung, dass die Germanen als direkte Vorfahren der Deutschen anzusehen seien. Dennoch legte er den Lesern seines Werkes eine These zu Füßen, die ihnen die bittere Pille historischer Quellenanalyse versüßen sollte. Trotz aller historischen Brüche, so Beatus Rhenanus, seien die Deutschen Erben eines Urprinzips, das bereits die Germanen gekennzeichnet habe: Sie seien frei. Tyrannei mochte in anderen Teilen Europas herrschen, in Deutschland sei ein Hort unverfälschter Freiheit erhalten geblieben.

Die edelste Nation auf Erden

Der Kern der von den Humanisten postulierten deutschen Vorzugsstellung lag im Vergleich. Deutschlands Lage und seine Geschichte wurden als Beleg für die ungebrochene Überlegenheit über die Nachbarnationen angeführt. Wandel wurde zwar nicht ignoriert, wohl aber relativiert. Im Vordergrund stand die Tradition, die harmonische Fortentwicklung des nationalen Genius. Der beständige Seitenblick auf die Anderen hatte dabei nichts mit Wettbewerb zu tun, denn die eigene Position ließ sich weder verbessern, noch war ein Aufstieg der Nachbarn möglich. Die Hierarchie der europäischen Nationen war in den Augen von Celtis, Aventinus, Wimpfeling oder Bebel unwandelbar. Nur Deutschland gebühre die Führung des Abendlandes. Drohe der Verlust der Kaiserkrone, so läge die Schuld in den eigenen Mauern. Krisen waren nicht Anlass, vom anderen zu lernen, sondern zu Selbstbesinnung und Reinigung. In der Kommunikation mit den Gegenspielern in Italien oder Frankreich bahnte sich, wie der hellsichtige Gelehrte Erasmus von Rotterdam mit Entsetzen feststellte, eine Kultur der wechselseitigen Diffamierung an. Leistungen des anderen wurden konsequent ignoriert, verunglimpft oder vereinnahmt. Nur wer die deutsche Überlegenheit anerkannte, durfte auf Gnade in ihren Augen hoffen.

Diese Forderung wurde umso eindringlicher erhoben, als sie mit dem Gestus scheinbarer Selbstlosigkeit vorgetragen wurde, denn letztlich musste doch ganz Europa ein Interesse daran haben, dass die Gralshüterin reiner Sitten, die deutsche Nation, ihre überlegene Stellung bewahrte. Europa – ein Begriff, der im Verlaufe des 16. und 17. Jahrhunderts jenen der Christenheit langsam verdrängte – blieb also ein wichtiger Ankerpunkt nationaler Selbstbestimmung. Mehr noch, er öffnete die Tür zur übernationalen Kooperation. Bei aller Rivalität waren sich die europäischen Humanistenfamilien in einigen Punkten einig: Sie beschworen die Einheit Europas und mahnten ihre Völker, dass die besondere Mission ihrer Nation nur dann erfüllt werden könne, wenn man den Ratschlägen des Geistesadels folge. Verteidigerin der Nation war also eine schmale Schicht von Gebildeten, die dem internationalen Austausch und Wettbewerb verpflichtet blieb. Bei aller Abgrenzung mussten schon aus diesem Grunde Tabus in der Kunst des Beleidigens erhalten bleiben.

Rivalitäten ließen sich auf den Kampfplätzen der Humanisten so schnell, wie sie formuliert wurden, wieder verdrängen. Das zeigte sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als das Bild des edlen, wenn auch ungeschliffenen und wilden Germanen der Urzeit zunehmend ins Wanken geriet. Neben einer Verfeinerung der Quellenkritik waren hier die Zwänge einer neuen Zeit deutlich zu spüren. Konfessionelle Konflikte ließen die Begeisterung für den germanischen Bruder erkalten und die Freundschaft zum fremden Konfessionsgenossen in den Vordergrund treten. Einer der ersten und einflussreichsten Gelehrten, die sich diesen neuen Rahmenbedingungen anpassten, war der in den Niederlanden tätige Geograph Philipp Clüver alias Cluverius. Dieser pries zwar weiterhin die natürliche Frömmigkeit der angeblichen Vorfahren der Deutschen, doch sprachen die Illustrationen seiner Topographien eine andere Sprache – hier sah man brutale Wilde, die mit den zivilisierten Waldbewohnern eines Wimpfeling nur noch wenig zu tun hatten.

Bei allem Lob des deutschen Nationalcharakters wurden nun auch die offenbar schon seit Urzeiten bestehenden Mängel der Deutschen in den Blick genommen. Diese Wiederaufnahme der aus Sicht deutscher Humanisten geradezu ketzerischen Leitthese Piccolominis ließ eine alte Frage neu in den Vordergrund treten: Wurden Wesen und Schicksal des Menschen wirklich wesentlich durch das Klima seiner Heimat und die Gestirne über seinem Geburtsort bestimmt? Die Humanisten hatten diese Lehre mit Inbrunst verfochten, und sie konnten dabei auf zahlreiche antike Gewährsmänner verweisen. Schließlich hatten schon Strabo und Poseidonios, um nur die prominentesten unter ihnen zu nennen, den Zusammenhang zwischen der Gunst des griechischen Klimas und den Kulturleistungen der Einwohner dieser Region beschrieben. Zweiflern wie dem großen Kirchenlehrer Thomas von Aquin schenkten die Gelehrten des 16. Jahrhunderts zunächst kaum Beachtung. Zur Jahrhundertwende begann sich diese Haltung zu verändern.

In ganz Europa äußerten Philosophen nun Zweifel an der Vorbestimmtheit nationaler Charaktere. Jean Bodin, Johann Heinrich Alstedt oder Balthasar Gracian betonten, dass jede Nation einen Erziehungsprozess durchlaufen müsse. Zwar gleiche keine Nation der anderen, die Idee, dass es natürliche Qualitätsunterschiede gebe, sei aber zurückzuweisen. Barbarei finde man überall. Nur die Instrumente, die man einsetzen müsse, um sie zu bekämpfen, unterschieden sich. Jene, die diesen Erziehungsprozess erfolgreich durchlaufen hätten und ihre Nationen in eine glücklichere Zukunft führten, glichen einander. Der Geistesadel sei also ungeachtet der nationalen Ursubstanz, aus der er hervorgegangen ist, eine von Homogenität und gegenseitigem Respekt getragene Gemeinschaft.

Wandlungen und Varianten des Nationenbildes im 17. Jahrhundert

Martin Opitz skizzierte ganz in diesem Sinne in seinem einflussreichen „Buch von der deutschen Poeterey“ von 1624 ein Bild der europäischen Nationen, das sich von dem der Humanisten deutlich unterscheidet. Nicht Charaktereigenschaften, sondern Sprachen stehen im Vordergrund seiner Betrachtungen. Obgleich er keinen Zweifel daran lässt, dass er als deutscher Patriot die deutsche Sprache zu fördern und zu feiern beabsichtigt, weist er doch jedes Ansinnen zurück, die Leistungen der europäischen Nachbarn herabzusetzen. Im Gegenteil, Opitz weiß die Werke italienischer und französischer Meister nicht genug zu preisen, warnt jedoch davor, stilistische Kunstgriffe einfach auf das Deutsche zu übertragen. Der Dichter forderte stattdessen, sich auf die Wurzeln des Deutschen zu besinnen und die Sprache von fremden Einflüssen zu reinigen. Nur dann, so war Opitz überzeugt, wenn das Deutsche seine eigenen Gesetzmäßigkeiten, seine Stärken und Möglichkeiten erkennt, können in dieser Sprache Kunstwerke geschaffen werden, die denen anderer Nationen gleichkommen. Der von ihm erdachte Wettkampf der dichtenden Nationen war, anders als bei seinen Vorläufern im 16. Jahrhundert, erstmals ergebnisoffen. Nationen konnten in ihrer Reputation und Leistungsfähigkeit auf- oder absteigen.

Vom alten Lob der unverfälschten Reinheit war nur ein einzelnes, wenngleich wichtiges Element übriggeblieben. Wie die Mehrzahl der Humanisten sah auch Opitz einen untrennbaren Zusammenhang zwischen der unverfälschten Ursprünglichkeit einer Sprache und ihren Ausdrucksmöglichkeiten. Das sollte Folgen haben: Dichtergesellschaften beschäftigten sich nunmehr verstärkt mit der Verbesserung und Reinigung der deutschen Sprache. Neben der Begeisterung für das Deutsche, das Justus Georg Schottel oder Philipp von Zesen als älteste und edelste europäische Sprache zu identifizieren wussten, verband viele Literaten vor allem eines: der Hass auf Frankreich. Dessen Einfluss wurde als diabolische Kraft gedeutet, die planvoll das deutsche Sprachwesen zu verderben suchte. Französische Fremdwörter und französische Kunstformen wie der Roman wurden geradezu als Angriff des Urbösen auf die Reinheit der Nation gedeutet.

So standen sich Mitte des 17. Jahrhunderts zwei Grundkonzepte der deutschen Nation gegenüber. Auf der einen Seite gab es die pragmatische Sicht eines Martin Opitz, die von Selbstbesinnung, Weiterentwicklung und selbstbewusster Konkurrenz ausging, auf der anderen Seite formierten sich weiterhin die Verteidiger vererbter deutscher Dominanz. Welche dieser Alternativen dominierte, hing nicht zuletzt von dem machtpolitischen Umfeld ab, in dem die Dichter sich bewegten.

Dies wird in kaum einem Werk deutscher Literatur so deutlich wie in Johann Michael Moscheroschs eigenwilligem Reiseroman „Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewald“ von 1644. Der Autor lässt seinen Helden im Traum mit den deutschen Stammvätern zusammentreffen. Die erweisen sich als äußerst unfreundliche Herren, die ihren Nachfahren nicht als einen der ihren anerkennen wollen. Statt rein, natürlich und einfach durch die Welt zu schreiten, ist der nämlich mit modischem Tand ausgestattet. In heiligem Zorn reißen sie ihm die französischen Kleider vom Leibe. Der Träumer lässt dies anfangs mit sich geschehen. Erst als man ihm die Schuhe von den Füßen reißt, beginnt er Widerworte zu äußern. Der Rigorismus der alten Wollsockenträger wird ihm unheimlich. Auf irgendetwas muss man doch schließlich laufen. Die Devise „besser barfuß als französisch“ will ihm nicht recht einleuchten. Und überhaupt: Gibt es nicht in jedem Land edle und unedle, gerechte und ungerechte Menschen? Was soll diese Verdammung alles Französischen, deren Furor weit über jenen der humanistischen Denker hinausgeht?

Erst nach einigem Grübeln weiß der Träumer eine nüchterne Antwort auf diese Fragen zu geben. Frankreich, so Philander, überschwemmt Deutschland mit seinen Textilprodukten, seine Künstler dominieren an deutschen Höfen, seine Heere bedrohen die deutschen Grenzen – Hass gegen Frankreich zu predigen ist daher politisch durchaus sinnvoll. Diese satirische Selbstreflexion offenbart Erstaunliches – sie zeigt, dass das Räsonieren über Deutschland längst über den Kreis der Gelehrten hinausging. Zwar kann von einem Massenphänomen keine Rede sein, doch ist es zu einem politischen Kampfmittel mit Breitenwirkung geworden. Auf einen der Hauptförderer dieser Entwicklung wird nun einzugehen sein – auf das habsburgische Kaiserhaus.

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