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2. Der Lord

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Julian Seebenstein:

Noch immer kann ich es nicht glauben, nun bin ich wirklich dort, ich, Julian Seebenstein. Persönlich eingeladen von einem Lord, umgeben von den größten Geistern des Globus. Die hat er zu sich gebeten hat, damit sie, die besten in ihrem Fach, die Welt vor dem Untergang retten. Wenn ich daran denke, dass ich vor einem halben Jahr noch nicht einmal wusste, dass es diese Insel überhaupt gibt! Merson Island, ein Stückchen Land irgendwo am südlichen Rand der Welt, nur von schweifenden Albatrossen besucht und natürlich von diesem bizarren englischen Lord. Dabei ist alles noch viel großartiger, als ich mir vorgestellt hatte. Im Grunde ist diese Insel nichts anderes als ein steiler, ganz in tropisches Grün gekleideter Berg, der wie eine Rakete aus dem Meer in die Höhe schießt und mit seiner Spitze, ganze zweitausend Meter, hoch oben in den Wolken verschwindet! Wenn mir die Zeit dazu bleibt, werde ich ihn besteigen, ganz sicher!

Hier unten ist es nicht weniger schön. Palmen blicken mit ihren Wuschelköpfen über einer vor dem Schloss aufragenden Düne hervor, dazu farnartige Bäume mit weit ausladenden Ästen. Und wenn ich daran denke, dass sich irgendwo in dem Wald, der sich den Berg hochzieht, noch dieser seltsame Riesenvogel verbirgt; Gymnopterus soll er heißen, ein Riesenvogel mit einer Spannweite von ganzen sechs Meter! Und dass zu allem Überfluss auch noch ein echter Lord auf der Insel spukt, dann laufen mir Schauer über den Rücken. Warum hat man gerade mich ausgewählt, mich, Julian Seebenstein?

Das ist schon ein Wunder, denn die Rettung der Welt ist mir doch bis vor einigen Tagen noch völlig gleichgültig gewesen. Auch jetzt weiß ich nicht, was ich davon halten soll. Die Welt ist schön, warum muss man sie da nach retten? Natürlich gibt es ein paar Probleme, das weiß ich schon, ich bin doch nicht naiv, aber Probleme hat es doch immer gegeben.

Na ja, dass alles werde ich bald erfahren, einem Schriftführer kann und darf nichts entgehen.

An Land werden wir auf mehreren kleinen Booten gebracht, weil der Dampfer, den der Lord gechartert hat, an dieser Stelle der Insel nicht anlegen kann. Das Wasser sei hier einfach zu seicht. Aus der Entfernung hab ich mich über die vielen Kamine auf dem Dach des Schlosses gewundert. Seltsam, was braucht der Lord in diesem warmen Klima so viele Kamine? Jetzt sind wir am Strand, und die Fassade wird von der Düne verdeckt, die das Anwesen vermutlich vor Stürmen und großen Brechern schützt. In kurzer Zeit hat sich der Himmel mit tief hängenden Wolken bedeckt. Erstaunlich schnell hat sich dieser Wechsel ereignet, das Wetter soll hier launisch und geradezu unberechenbar sein. Schon ist der Horizont in unserem Rücken in weiße Nebel gehüllt, die wie Schwaden das Meer bedecken. Ich weiß gar nicht, wo ich überall hinblicken soll.

Die letzten Meter müssen wir die Schuhe ausziehen, am Bug des Schlauchbootes einen halben Meter ins Wasser steigen, wobei wir unsere gestreiften Kittel hochziehen, Kimonos, wie wir sie nennen sollen. Bei allem Luxus, mit dem der Lord uns hier angeblich verwöhnen wird, müssen wir doch auf eine Anlegestelle verzichten. Mir macht das nichts aus, aber einige der älteren Herren rümpfen die Nase und eine junge Dame – sie sieht wie eine Chinesin aus – hält nicht mit lautem Protest zurück. Das verstehe ich nicht. Wenn man aus Zucker ist, sollte man besser keine Expedition unternehmen!

Kaum sicher am Land eingetroffen, steigen alle die Düne hoch, um sich in Richtung Schloss aufzumachen. Ich habe mich abgesondert. Es gefällt mir, hier am Strand noch etwas auszuharren und einen letzten Blick zurück auf das Meer zu werfen, das allmählich unter weißen Nebelbänken verschwindet. Auch nachdem die anderen hinter der Düne verschwinden, bin ich durchaus nicht allein. Seeschwalben schießen über die Gischt der Wellen und manchmal sausen sie so dicht an mir vorbei, als wollten sie mir gleich zu Anfang zeigen, wer hier das Sagen hat. Dazu das unaufhörliche Schnalzen und Rollen des Meeres. Die Natur ist hier ganz mit sich selbst beschäftigt. Plötzlich schießt der Wind mit einer heftigen Brise vom Meer heran und fährt in die Köpfe der Palmen jenseits der Düne, die ich von hier aus noch eben sehen kann.

Wie ich mich gleich in diese stürmische Einsamkeit verliebe! Wozu braucht die Natur überhaupt den Menschen? Eine Insel ist sich selbst doch völlig genug. Wind und Wellen sind unablässig miteinander beschäftigt, unterhalten sich in ihrer eigenen Sprache. Im Grunde bin ich ein Eindringling und alle anderen Besucher sind es genauso. Bis vor wenigen Jahrzehnten hat es hier vermutlich noch keine Menschen gegeben. Ach nein, das kann nicht ganz stimmen, auf dem Schiffe haben sie gesagt, hier seien vor langer Zeit einmal Meuterer gestrandet und hätten auf der Insel ein kurzes Zwischenspiel gegeben. Jetzt hat der englische Lord sich hier eingerichtet. Nehmen wir einmal an, dass die Weltrettung ihm nicht gelingt und dass er die Insel daraufhin wieder verlässt, dann wird Merson Island abermals mit sich alleine sein. Wind und Wellen werden nur miteinander sprechen wie schon seit Jahrmillionen.

Der Gedanke belebt mich, gefällt mir, erwärmt mich von innen. Manchmal bin ich mir ja selbst nicht geheuer. Wenn ich es mir recht überlege, ist es doch einigermaßen seltsam, dass ich die Menschen abschaffen möchte, mich eingeschlossen. Oder nein, abschaffen möchte ich nur unsere sichtbaren Körper, auf keinen Fall den unsichtbaren Geist, der in hellem Bewusstsein über den Wassern schwebt. Genau, ein körperloser Geist möchte ich sein. Am liebsten würde ich in einer ganz sich selbst überlassenen Natur als unsichtbares Wesen deren Geheimnisse belauschen. Einfach so als ein reines Bewusstsein existieren ohne alle sichtbare Spur, ohne alles Tun, nur als beobachtendes Ich existieren.

Ich weiß schon, dass klingt reichlich phantastisch. Besser, ich behalte derartige Gedanken für mich. Die anderen würden darüber nur lachen - wie über alles, das irgendwie fremd erscheint.

Aber ich komme ja nicht einmal dazu, mich mit mir selbst zu unterhalten. Wo man auch ist, man wird doch immer gestört. Einer der übrigen Gäste, älteres Semester, wie mir ein knapper Seitenblick zeigt, hat sich gleichfalls vom Pulk abgesondert und ist im Begriff, sich mir zu nähern. Er zieht das rechte Bein beim Gehen etwas nach. Haben sie etwa auch Mephisto auf die Insel geladen? Der schreckt jedenfalls nie davor zurück, sich seinen Mitmenschen ungefragt aufzudrängen. Vielleicht meint er, dass junge Leute wie ich für die Unterhaltung alter Männer gerade gut genug sind.

Ach, warum ich nur wieder so boshaft und abweisend bin? Der Mensch ist von Natur ein soziales Wesen. Das hat uns Berger, unser Prof für Philosophie, noch vor einem Jahr in der Schule eingebläut. Ist sicher richtig, aber deswegen hat doch nicht jeder das Recht, dem anderen seine Gegenwart aufzudrängen. Wenn ich hinter den anderen zurückblieb, dann lässt sich doch daraus erkennen, dass ich die ersten Eindrücke ganz allein genießen möchte.

Mich einfach umzudrehen und in die andere Richtung auszuweichen, wäre allerdings der Gipfel der Unhöflichkeit, also gebe ich vor, die Annäherung nicht zu bemerken. Ich tue so, als wäre ich intensiv damit beschäftigt, die Wellen und den Flug der Seeschwalben zu studieren.

Andererseits wäre es dumm, wenn ich mich gerade hier, in dieser erlauchten Gesellschaft, auf mich selbst zurückziehen würde. Vielleicht ist das eines von den Genies, die der Lord hier versammelt hat. Möglich, dass der Mann mich sprachlos macht, sobald er die ersten Worte sagt. Vielleicht komme ich mir dann wie ein dummer Junge vor. Hier steht ja die reine Intelligenz auf dem Programm, der konzentrierte Geist sozusagen. Ganz gewiss werde ich kläglich versagen. Vielleicht ist der Mann bereits informiert, dass ich hier nur die Rolle einer Hilfskraft spiele, dass ich nichts weiter als ein zufällig ausgewählter Schreiberling bin.

Nicht weglaufen!, sagt die Stimme in meinem Rücken. Das hat hier überhaupt keinen Sinn. Auf dieser Insel sind wir wie in einen Käfig gesperrt. Jeder wird hier mit jedem auskommen müssen.

Ich bin überrascht und spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt. Kann der Mann etwa Gedanken lesen? Ein Glück, dass mir in diesem Augenblick eine Bö feinen Sprühregen ins Gesicht schlägt. Ich schütze mich mit der Hand gegen den Angriff und wende mich dann erst dem Fremden zu.

Eine merkwürdige Erscheinung, zumal der Mann, auf halber Höhe der Düne stehend, sich in diesem Moment gewissermaßen mit dem Schloss verbündet. Ich sehe nämlich nicht nur seinen Kopf, sondern über dem Scheitel der Düne knapp neben seinem Gesicht mit den vom Wind aufgewühlten Haaren auch noch eine rote Fahne, den Union Jack, während der dazugehörige Mast und das Herrenhaus noch verdeckt sind. Irgendwie reizt mich die Kombination zum Lachen.

Der Mann bemerkt mein Lächeln. Es verblüfft mich, dass er sogar dessen Grund richtig versteht.

Die rote Fahne wird immer zu Ehren eintreffender Gäste gehisst. Alles hier gehört dem Lord. Das Schloss und die ganze Insel sind sein Privatbesitz. Aber das ist Dir sicher bekannt.

Er duzt mich. Im ersten Augenblick bin ich darüber empört. Zweifellos ist das eine Anspielung auf meine Jugend – ich bin ja nur ein frisch entlassener Pennäler - und die Stellung, in der ich hier beschäftigt sein werde, ist lächerlich gering. Aber hat er deswegen das Recht, mich zu duzen?

Der Mann beobachtet mich, und wieder spüre ich das Blut in meinem Kopf, irgendwie fürchte ich, er könnte Gedanken lesen.

Doch er fährt mit gleichmütiger Stimme fort.

Hier gehört alles dem Lord. Die Frage ist nur, ob er selbst immer noch leibhaft unter uns weilt. Immerhin wurde er 1943 geboren. In diesem Jahr hätte er demnach das biblische Alter von 90 Jahren erreicht. Die Unterschrift auf den Einladungen erscheint mir reichlich schwungvoll für einen Mann dieses Alters, aber natürlich leben wir in einer Zeit der Methusalems, wo auch Greise sich noch bester Gesundheit erfreuen.

Er schiebt eine kurze Pause ein, dann blickt er mich bedeutungsvoll an.

Es wäre allerdings gewiss nicht das erste Mal, dass jemand Einladungen aus dem Jenseits verschickt.

Meine Eltern, erwidere ich, hätten mich nie gehen lassen, ohne ein unbedingtes Vertrauen zu dem berühmten Lord.

Kaum habe ich den Satz ausgesprochen, bereue ich diese Vertraulichkeit. Jetzt wird er glauben, ich ließe mir alles von meinen Eltern sagen.

Das sehe ich ein, sagt der Mann. Der Lord ist ein Philanthrop und einer der ganz großen philosophischen Köpfe unserer Zeit. Jetzt liegt ihm auch noch die Rettung des Planeten am Herzen, sozusagen als Krönung seines irdischen Wandels. Deswegen sind wir ja hier. Eine Handvoll Leute, sämtlich führende Köpfe auf ihrem Gebiet, hat er mit Erfolg dazu überredet, sich mitten im Pazifik zu treffen. Unbeschwert von allen äußeren Störungen soll der gesammelte Geist des Planeten die erlösende Formel finden. Das ist Lord Palmerstones Absicht. Ein ehrgeiziges Projekt. Wir werden sehen, was daraus wird.

Plötzlich streckt er mir die Hand entgegen.

Übrigens bin ich Psychologe. Maximilian Wendell, unter Freunden schlicht Maxi genannt, aber hinter meinem Rücken nennen sie mich auch Freud. Das ist natürlich lächerlich, wie sollen sich bescheidene Epigonen von meiner Art mit diesem Genie messen können.

Er lächelt, und sein Lächeln ist warm und gewinnend. Ich kann gar nicht anders, als dieses Lächeln auf gleiche Art zu erwidern. Die dargebotene Hand ergreifend stelle ich mich meinerseits vor.

Julian Seebenstein.

Natürlich muss ich bei einer solchen Vorstellung meinen Namen nennen, das gebietet die Höflichkeit, aber danach hätte ich erst einmal den Mund halten sollen. Ich weiß selbst nicht, warum sich meine Worte immer gleich selbständig machen. Das ist einer meiner zahlreichen Fehler, die mich im Nachhinein fruchtbar ärgern, natürlich dann, wenn es zu spät ist, weil ich die Dummheit schon begangen habe. Mitten im Satz bin ich sogar ins Stottern geraten.

Also, um ehrlich zu sein, also eigentlich habe ich hier überhaupt nichts zu suchen. Man brauchte halt jemanden, der mitschreiben kann, einen Sekretär. Die Leute sagen, dass meine Schrift gut zu lesen sei, außerdem bescheinigt man mir eine gewisse Geschicklichkeit beim Zusammenfassen von Gedanken. Aber was zählt das schon, eigentlich gar nichts. Das können so viele andere auch. Vermutlich werde ich kein Wort von all dem begreifen, was all diese klugen Leute, ich meine, diese Genies, von sich geben.

Wie immer rede ich total wirres Zeug, wenn ich in Verlegenheit gerate. Der Mann wird sein Urteil fällen: Furchtbar naiv und dumm dieser Mensch, wird er sich sagen.

Zu meiner Überraschung nickt Wendell mir beschwichtigend zu.

Keine Angst, Julian, vor den Experten. Die sollten ihre Worte immer so verständlich und einfach wählen, dass jeder intelligente Mitbürger sie auf Anhieb versteht. Was nützt uns der Fachidiot, wenn er ein für alle anderen Menschen unverständliches Rotwelsch absondert? Du bist hier sozusagen das Sieb, das alles Gemeinverständliche protokolliert und bewahrt und alle Schlacken der Fachidiotie hindurch fallen lässt. Eine wichtige Aufgabe!

In diesem Moment beginnt der Wind stärker zu blasen. Nur undeutlich verstehe ich seine letzten Worte. Wir überwinden den Kamm der Düne und steigen auf ihrer anderen Seite hinab. Dort ist es beinahe still, so gut schirmt der Wall den vor uns liegenden Garten und das Schloss gegen die Böen ab. Weiter oben fegt der Sturm über uns hinweg und treibt sein Spiel mit den hin und her schießenden Möwen; eine ganz Schar von ihnen umsegelt das vielfach vergiebelte Dach mit den Kaminen.

Wendell lacht, während wir das imposante Gebäude betrachten.

Irgendwo in Sussex könnte die Villa genauso gut stehen. Ganz im Stil der Nabobs erbaut, eine getreue Kopie der Schlösser aus viktorianischer Zeit. Der Lord legt viel Wert auf die äußere Repräsentation. Adel verpflichtet eben, besonders wenn man aus einer der ältesten Familie Englands stammt. Bei der Eroberung des indischen Subkontinents hätten die Vorfahren Palmerstones, so heißt es, eine rühmliche Rolle gespielt. Vermutlich werden wir ihren Porträts in der Festhalle begegnen.

Die Engländer trauern wohl immer noch dem verlorenen Empire nach?

Gewiss! Und hier lebt es noch fort, allerdings nur auf kläglichen dreißig Quadratkilometern. Es heißt, der Lord habe sich stets nach Merson Island zurückgezogen, wenn er mit schwierigen Problemen rang. Eigentlich hat er sich zeitlebens immer nur mit den schwierigsten Problemen befasst.

Wie haben uns dem Eingang genähert, in dem die übrigen Gäste bereits verschwunden sind. Wendell blickt zur Fassade auf und weist dann mit dem Finger auf die Inschrift über dem Eingangsportal.

Er selbst ist übrigens auch eine schwierige Natur. Schau Dir die Losung an, die dort über dem Portal des Eingangs prangt.

Noli me tangere!

Das ist natürlich Latein, und ich bin ein dummer Schüler. Als hätte mir der Lehrer das Stichwort gegeben, schießt es gleich aus mir heraus:

Achtung, Hände weg von mir! So heißt das in etwa.

Genau, gibt Wendell zurück, so könnte man den Spruch übersetzen. Und dann fügt er hinzu: Ist das nicht eine seltsame Begrüßung, mit der ein Hausherr seine Gäste auf einer einsamen Insel empfängt?

Die Weltenretter

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