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Vorwort

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Wie geht man mit Demenz um? Wie komme ich damit zurecht, dass ein Angehöriger an Demenz erkrankt ist oder erste Anzeichen bei mir selbst zu erkennen sind?

Hilfesuchende finden darauf Antworten in vielen Broschüren und Büchern. Was bisher fehlte, war ein Buch, das zeigt, was sich verändert, wenn der christliche Glaube ins Spiel kommt. Der niederländische Demenz-Pfarrer Tim van Iersel hat das auf ansprechende Weise getan. Er wollte sich nicht damit abfinden, dass Gott in der Literatur über Demenz weithin „vergessen“ wird. Deshalb setzt er Glaube und Demenz in Beziehung zueinander.

Godvergeten – der niederländische Titel ist doppeldeutig, meint sowohl „Gott vergessen“ wie „von Gott vergessen“. In der Demenz vergessen Menschen nicht nur, wer sie sind. Sie sind dabei, Gott zu vergessen, und fühlen sich bisweilen auch von Gott vergessen. Aber stimmt das? Vergisst mich Gott, wenn ich Gott vergesse?

Mit seinem Buch stellt van Iersel sich an die Seite von Menschen, die angesichts einer Demenzerkrankung wissen wollen: Wo ist Gott jetzt? Diese Frage kann bei Betroffenen in der Frühphase aufbrechen, aber auch bei Angehörigen, die nach biblischer Orientierung fragen. Wer sich auf die Lektüre einlässt, wird spüren, wie der Glaube einen neuen Blick verleiht, in dem demenzkranke Menschen und ihre Angehörigen vor einem weiten Horizont mit den Augen der Liebe wahrgenommen werden.

Van Iersel kommt ursprünglich aus einer kleinen, streng calvinistischen Kirchengemeinschaft; aber in seiner seelsorglichen Praxis pocht er nicht auf lehrmäßige Richtigkeiten, sondern erweist sich als sehr sensibler, verständnisvoller Seelsorger. Gerade dies nimmt die Leserin, den Leser für seine Gedanken ein, die immer von einer konkreten Begegnung ausgehen und ins Gespräch verwickeln.

Tim van Iersel wagt es, persönlich zu sprechen, manchmal bekenntnishaft, manchmal im Stil einer Predigt. Wenn er Texte aus Gottes Wort ins Gespräch bringt, werfen sie ein überraschendes Licht auf die Dinge. So kann aus biblischer Perspektive am Leben mit Demenz etwas entdeckt werden, was wir sonst nicht gesehen hätten. Das zweite Kapitel („Loslassen“) bietet schöne Beispiele dafür, wie die Bibel uns von Gott her ein tieferes Verständnis des Lebens eröffnet und uns erkennen lässt, was bisher Leben verhindert hat.

Im Gegensatz zur älteren Generation niederländischer Theologen lesen die Jüngeren kaum noch deutsche theologische Literatur. Daraus erklärt sich, dass van Iersel in seinem Buch nur Niederländer oder Autoren aus dem englischsprachigen Raum zitiert. Sein wichtigster Gewährsmann, John Swinton, ist Pfarrer der Church of Scotland und lehrt als praktischer Theologe an der Universität Aberdeen. Swinton gründete dort ein Zentrum für Spiritualität, Gesundheit und Behinderung. Er hat u. a. über das Problem des Bösen und über Demenz aus geistlicher Perspektive geschrieben. Leider kommt diese Perspektive in der deutschen protestantischen Theologie zu wenig zur Geltung; kein Buch Swintons ist ins Deutsche übersetzt.

Im siebten Kapitel geht van Iersel auf die Frage ein, ob Sterbehilfe (Euthanasie) moralisch zu verantworten sei. In den Niederlanden sind Tötung auf Verlangen wie auch Beihilfe zur Selbsttötung strafbar. Seit 2002 wird jedoch in Situationen unerträglichen und unheilbaren Leidens aktive Sterbehilfe zugelassen, wenn der Patient sie ausdrücklich wünscht und zwei Ärzte den Sachverhalt nach sechs Kriterien überprüft haben. Danach nahm die Zahl der Sterbehilfefälle erheblich zu, innerhalb von fünf Jahren vervierfachte sich die Zahl der Demenzkranken, die durch Sterbehilfe starben.1

Aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten. Das galt bisher nach § 217 Abs. 1 StGB auch für assistierten Suizid (Selbsttötung), wenn er geschäftsmäßig gefördert wurde. Hinter dieser Regelung stand die Sorge des Gesetzgebers, dass der assistierte Suizid sich als normale Form der Lebensbeendigung insbesondere für alte und kranke Menschen verbreiten könnte. Der Bundestag wollte verhindern, dass Suizidhilfe-Vereine wie „Sterbehilfe Deutschland“ oder „Dignitas“ aus der Schweiz ihre Angebote für zahlende Mitglieder ausweiten. Angehörige und „Nahestehende“ waren vom Verbot ausgenommen.

Nach einer Verfassungsbeschwerde von schwer kranken Menschen, Ärzten und Sterbehilfevereinen hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe für verfassungswidrig erklärt.2 Ärzte machen sich nun nicht mehr strafbar, wenn sie Hilfe beim Suizid leisten. Das Gericht stellte fest, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ umfasse. Dieses Recht schließe auch „die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen“. Weiter heißt es: „Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“ Allerdings könne niemand verpflichtet werden, aktive Sterbehilfe zu leisten.

Sowohl die christlichen Kirchen wie der Zentralrat der Juden in Deutschland halten die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung nach wie vor für gerechtfertigt. Sie haben erklärt, dass Menschenwürde „nicht auf absolute Autonomie des Einzelnen verkürzt werden“ dürfe, „weil die Menschenwürde gerade auch Menschen zukomme, die nicht (mehr) zur Selbstbestimmung fähig seien“ (BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020, Abs. 147).

Diesem Argument würde sicher auch Tim van Iersel zustimmen. Er betont, es sei wichtig, dass jeder Mensch seine Entscheidung verantworten kann. Für ihn geht es nicht zuerst um ein Ja oder Nein zur Sterbehilfe, sondern darum, gemeinsam dafür einzustehen, dass jeder Mensch wertvoll ist und bleibt.

Besondere Möglichkeiten, Gemeinschaft mit demenzkranken Menschen zu erleben, erschließt das Kapitel über Singen und Musik.3 Van Iersel weist darauf hin, dass durch Musik Erinnerungen wachgerufen werden. Das geschieht auch bei bekannten Kirchenliedern: Personen, denen die Worte fehlen, singen die Lieder mühelos bis zur letzten Strophe. Auch eine Demenz kann diese Lieder nicht so schnell löschen.

Als Seelsorger weiß Tim van Iersel, was viele Altenseelsorgerinnen aus ihrer Praxis bestätigen: Durch Kirchenlieder wie durch religiöse Musik im weiteren Sinn wird eine Begegnung mit Gott ermöglicht, auch dann, wenn jemand nur still im Herzen mitsingt. Vor allem im gemeinsamen Singen solcher Lieder können Menschen eine lebendige Beziehung zu Gott pflegen und behalten.

Ich danke Pfarrerin Ulrike Hinkel, die den Originaltext in gut lesbares Deutsch übersetzt hat. Der Evangelischen Altenseelsorge im Dekanat Wiesbaden danke ich für die Bereitschaft, die Übersetzungskosten zu tragen.

Pfr. Dr. habil. Michael Heymel,

Buchautor und Experte für bibelorientierte Seelsorge

Limburg/Lahn im März 2020

Vergisst mich Gott, wenn ich Gott vergesse?

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