Читать книгу Vergisst mich Gott, wenn ich Gott vergesse? - Tim van Iersel - Страница 6

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Einleitung

„Ich habe in meinem Leben immer selbst Regie geführt“, erzählt sie mir. „Ich war unabhängig und kam gut allein zurecht.“ „Und jetzt?“, frage ich. „Jetzt? Jetzt kann ich mir nicht mal mehr mein Butterbrot schmieren. Ich habe vergessen, wie das geht.“ Sie seufzt. „Ich bin von Gott verlassen.“

In diesem Buch geht es um Demenz. Und um Gott. Das ist keine naheliegende Verbindung, im Gegenteil. Demenz kann sich – wie bei dieser Frau – anfühlen, als hätte Gott einen vergessen, als sei man von Gott verlassen. Viele fragen dann mit Nachdruck: „Wo ist Gott jetzt?“

Umgekehrt wächst die Angst, dass man auch selbst Gott verliert, die Quelle des Seins, wenn man alles vergisst. Und was bleibt dann?

Demenz und Gott sind keine selbstverständliche Verbindung. Und doch gehört zu meiner Erfahrung, dass beides zusammengehört. Menschen erleben Demenz als Gottverlassenheit und befürchten, dass sie selbst Gott vergessen. Aber es kommt auch vor, dass Demenzkranke und ihre Angehörigen sich von Gott besonders getragen wissen.

Vielleicht hat Gott zum Thema Demenz besonders viel zu sagen.

Es gibt reichlich Literatur über Demenz. Ich empfinde es allerdings als schmerzhafte Lücke, dass Gott dabei so oft vergessen wird. Die Literatur behandelt mit Recht medizinische Fragen. Sie widmet sich dem Verhalten dementer Menschen, möglichen Problemen im Umgang mit ihnen und gibt praktische Tipps. Um Gott geht es nicht, während ich erlebe, dass ER für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen ausgesprochen wichtig ist.

Demenz kommt immer häufiger vor. Das hat damit zu tun, dass wir immer älter werden. Dabei ist Demenz ein Sammelbegriff. Er umfasst verschiedene Krankheiten mit ähnlichen Symptomen wie Vergesslichkeit, Wortfindungsstörungen und Schwierigkeiten bei der Ausübung alltäglicher Handlungen. Die bekannteste Krankheit ist die Alzheimer-Erkrankung, aber es können auch andere Ursachen zugrunde liegen, wie Störungen in der Blutzufuhr zum Gehirn (vaskuläre Demenz) und Parkinson.4

Mein Vorgehen

Gott wird im Nachdenken und der Literatur über Demenz bisher vernachlässigt, während Demenz einen Menschen nach meiner Erfahrung gerade zum Kern seines Glaubens bringen kann.

Gerade weil demente Menschen so angewiesen und verletzlich sind und ihre kognitiven Fähigkeiten nachlassen, gelangt man unweigerlich zu den Grundfragen des Lebens. Das betrifft die Kranken selbst und oft auch ihr Umfeld. Denn der Kontakt mit einem Erkrankten macht immer auch etwas mit mir selbst. Viele Fragen stellen sich neu:

Mit wem habe ich es zu tun, wenn ein Mensch mit Demenz jetzt so anders ist als früher? Wer bin ich selbst? Was bedeutet Gemeinschaft? Was ist echte Gleichheit? Wie kann man in Beziehung miteinander und mit Gott bleiben? Was ist das Leben wert? Was ist Liebe? Wer ist Gott?

Dieses Buch ist darum ein Versuch, über Demenz und über Gott zu sprechen. Mich leiten dabei die Themen, denen ich im Laufe der Jahre regelmäßig begegnet bin bei meinen Kontakten mit Betroffenen, in Diskussionen, bei Trainings und öffentlichen Lesungen.5

Die Themen verändern sich im Verlauf des Krankheitsprozesses. Am Anfang stehen andere Fragen im Vordergrund als in späteren Phasen. Der Aufbau dieses Buches folgt den bekannten Phasen der Krankheit.

Ich beginne mit den ersten Anzeichen der Demenz und den Themen, die die Betroffenen jetzt beschäftigen. Wenn ein Mensch die Diagnose Demenz erhält, stellt sich für viele die Frage: Warum? Warum ich? Warum gibt es diese Krankheit? Um diese Fragen wird es in Kapitel 1 gehen.

Im Verlauf der Erkrankung erleben Menschen, dass sie vieles aufgeben müssen. Alles scheint sich nun zu ändern, für die Betroffenen wie für ihre Angehörigen. Da kommt schnell der Rat: „Du musst loslassen.“ Vielleicht aber ist das Festhalten genauso wichtig, auch im Hinblick auf den Glauben. Das werden wir in Kapitel 2 betrachten.

Wenn die Demenz fortschreitet, sagen Betroffene manchmal: „Ich habe nichts mehr zu geben. Ich bin nur noch eine Last.“ In Kapitel 3 werden wir uns damit auseinandersetzen, ob das tatsächlich so ist oder ob man als demente Person nicht doch noch viel geben kann. Und ob das Umfeld von einem Erkrankten nicht auch etwas bekommt.

Allmählich wächst die Angst, sich selbst zu verlieren und zu vergessen, wer man ist. Dann gibt es mich nicht mehr, fürchtet man. Wir müssen uns fragen, ob das wirklich so ist. Gott hat dazu Wichtiges zu sagen. Das werden wir in Kapitel 4 gemeinsam herausfinden.

Wenn Betroffene schließlich ihre Umgebung nicht mehr erkennen, geben Familienangehörige und Freunde häufig auf und stellen den Kontakt ein. Es kommt kaum noch Besuch, denn viele Bekannte wissen nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. So gerät ein Demenzkranker aus dem Blick und wird vergessen. In Kapitel 5 sehen wir, wie wichtig es ist, dass ein dementer Mensch weiterhin dazugehört.

Ist ein dementer Mensch gar nicht mehr zu erreichen? Kann ein Dementer in der Spätphase gar nichts mehr aufnehmen und genießen? In Kapitel 6 entdecken wir die Kraft der Musik und des Singens, die selbst in dieser Phase zu wunderbaren Begegnungen führen kann – auch mit Gott.

In Kapitel 7 widmen wir uns der Frage: Wie kann man mit Demenz die Zukunft betrachten? Was erwartet einen im weiteren Leben, in dem die Demenz immer weiter fortschreitet und das Lebensende näher rückt? Können wir auch weiter schauen, über dieses Leben hinaus?

Ganz am Ende des Buches folgen noch einige praktische Anregungen, um Menschen mit Demenz mit der Gemeinschaft in Kontakt zu halten und sie nicht zu vergessen.

Sieben Kapitel widmen sich den verschiedenen Phasen der Demenz und den dazugehörigen Themen des Glaubens. Die Kapitel können unabhängig voneinander gelesen werden. Nicht ohne Grund sind es sieben, denn Sieben ist eine Zahl mit einer besonderen Bedeutung in der christlichen Tradition. Sie sagt uns, dass mitten in unserem Leben mit seiner Freude und seiner Last Gott anwesend ist. Nicht als billiger Trost oder als Verband um eine blutende Wunde, sondern in der Fülle des Lebens, in dem wir lachen und uns abrackern, uns unserer Sache sicher sind und Dinge infrage stellen.

Ich habe dieses Buch geschrieben, um die Fülle zu zeigen, die es auch in einem Leben mit Demenz geben kann. Es ist mein Wunsch, dass meine Gedanken Sie ermutigen und Ihnen Anregungen geben für den Umgang mit Demenz – und mit Gott.

Vergisst mich Gott, wenn ich Gott vergesse?

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