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Jahreslosung 2022:

Willkommen und gesegnet

Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.

Johannes 6, 37 (E)

Wieder und wieder

Ein neues Jahr:

eine offene Tür.

Ein „Willkommen“.

Signiert mit einem Willkommen1

Neshumele. Geliebte kleine Seele.

Der Kosename eines jüdischen Großvaters für seine Enkelin. An jedem Freitagnachmittag besucht sie ihn. Zuerst trinken sie Tee aus dem großen, silbernen Samowar.

Dann zündet der Großvater zwei Kerzen an. Die Enkelin tritt zu ihm. Er legt ihr die Hände auf und segnet sie. Das tut er sehr ausführlich. Und jedes Mal ist das Mädchen gespannt, was sie heute über sich selbst erfahren wird.

Woche für Woche preist der alte Mann Gott dafür, dass es seine Neshumele gibt. In den höchsten Tönen lobt er sie vor dem Angesicht des Höchsten. Wo sie gescheitert scheint, stellt er ihr großes Bemühen in den Vordergrund. Er hebt ihren Mut hervor, auch, wenn er nur kurz andauerte.

Und durch seine Sicht auf das, was sie erlebt hat, sieht auch die Enkelin selbst sich mit neuen Augen an.

Der Leistungsdruck, dem sie sonst ausgesetzt ist, fällt von ihr ab. Nie fragt der Großvater, ob sie genug getan und sich ausreichend angestrengt hat. Ob die Zwei nicht auch eine Eins hätte werden können.

Sie ist da, das ist genug.

Der Segen ihres Großvaters bleibt bei dem Mädchen, auch als er stirbt. Er hat sie signiert und mit seiner Liebe gezeichnet (wie es der lateinische Begriff „Signum“ sagt, von dem unser Wort „Segen“ stammt). Als habe er ihr ein „Herzlich willkommen!“ eingeprägt.

Und sie, „Neshumele“, hat seine Sicht auf sich selbst verinnerlicht. So ist der Großvater zu einem Teil von ihr selbst geworden. Seine Stimme, die immer neu formuliert hat, wie schön es ist, dass sie da ist, wohnt nun in ihr. Sein Segen wird sie wärmen, ein Leben lang.

Viele Jahre ist es her, seit ich diese Erzählung von Rachel Naomi Remen zum ersten Mal gelesen habe. Ich habe sie seitdem nie mehr vergessen. Es ist, als ob sie den Segen des Großvaters weiterreicht, damit er auch anderen Menschen einen neuen Blick auf sich selbst eröffnet.

Für mich illustriert das, was der jüdische Großvater tut, zugleich die Jahreslosung auf schönste Weise.

„Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Auch das sind Worte eines Menschen, der im jüdischen Glauben aufgewachsen ist. Als er auf der Erde lebte – so wird von ihm gesagt – war er zugleich auch im Himmel zu Hause.

Gesandt und gesegnet von Gott selbst kommt er zu uns Menschen. Er heißt die, die ihm begegnen, willkommen bei sich. Er zeichnet sie mit seiner Liebe und verändert ihr Leben. Damals und heute.

Die „Ich-bin-Worte“ des Johannesevangeliums zeigen, wie er uns segnet, dich und mich.

Er selbst sei die Tür zum Leben (Johannes 19, 9ff.), heißt es. Dort ist ein Land, das weit ist und nicht gebunden an die Zeit.

Als guter Hirte (Johannes 10, 14) empfängt er mich: Er hat Acht auf mich und sorgt sich um mich. Ohne mich anzuleinen oder einzuengen, leitet er mich.

Er sei der Weinstock, der seine Reben nährt. (Johannes 15, 5). Kraft und Süße fließen mir in seiner Nähe zu. Ich spüre, wie das Leben in mir pulsiert.

Brot des Lebens sei er (Johannes 6, 35). Er nährt meine Sehnsucht nach einem erfüllten Leben und sättigt meine hungernde Seele.

Als Licht des Lebens (Johannes 8, 12) fällt er auf meine trüben Gedanken, beleuchtet, was sich verändern könnte und vertreibt, was finster ist in mir.

Er sei Weg, Wahrheit, Leben (Johannes 14, 6), heißt es.

Den für mich eigenen, guten Weg finde ich in seiner Nähe. Ich folge ihm und versuche, wie er, liebevoll zu leben. Damit eine Wahrheit, die flüchtig ist und fragil, durch mich lebendig und sichtbar wird in der Welt.

Und wenn dann mein Dasein zu Ende geht, teilt er seins mit mir, weil er selbst die Auferstehung ist und das Leben (Johannes 11, 25).

Herzlich willkommen!

Schon jetzt ist die Tür zum Himmel offen. Jederzeit, an jedem Ort kann ich das Wort an ihn richten und mich selbst öffnen für ihn. Ich werde mit ausgebreiteten Armen empfangen. Gern gesehen und geliebt, so wie ich bin.

Wenn der Blick Gottes auf mich fällt, schaue ich mich auch selbst mit anderen Augen an:

Ich lasse seine Liebe für mich gelten und ruhe mich von meinen eigenen Ansprüchen aus. Ich spüre, wie ich aufrechter werde und neue Kraft gewinne.

Und ich vergewissere mich:

Unverrückbar steht sein Segen über meinem Leben, eine Signatur, die hinausreicht über die Zeit: Eine geliebte Seele bin ich. Herzlich willkommen!

So oder so

Ein Tor, das verschlossen bleibt. Unverrichteter Dinge wieder gehen müssen.

Eine Tür, die sich öffnet. Auf dem Tisch Kaffee und Kuchen.

Ein Zaun, der hochgezogen wird. Abgeschottet, was Zukunft hätte heißen können.

Ein Barriere, die aus dem Weg geräumt wird. Neues Land, um es zu erkunden.

Eine Grenze, die überwacht wird: Du bist hier nicht erwünscht!

Ein Schlagbaum, der nach oben geht: Komm rein! Wir schaffen das.

Eine Sperre im Weg. Du siehst den Ort schon, den du erreichen wolltest.

Ankommen dürfen. Endlich am Ziel, das so lange vor Augen war.

Nicht einmal eine Absage auf das hundertachte Bewerbungsschreiben.

Schwarz auf Weiß: Ein Termin für ein Vorstellungsgespräch.

Die Diagnose, die einen Strich durch alle Pläne macht.

Alles in Ordnung – vor dir die Straße der Möglichkeiten.

Die Dauerwarteschleife. Am Ende einer, der sich als nicht zuständig erklärt.

Eine freundliche Stimme fragt: Was kann ich für dich tun?

Dr. Heimat

Im Jahr 2019 gewann Saša Stanišić für sein Werk „Herkunft“2 den deutschen Buchpreis, der alljährlich zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse verliehen wird.

Stanišić erzählt die Geschichte seiner Familie, hin und her bewegt er sich zwischen winzigen bosnischen Dörfern und deutschen Städten, zwischen der Erfahrung, fliehen zu müssen, und dem Gefühl, anzukommen und willkommen zu sein.

Stanišić wurde 1978 in der bosnischen Kleinstadt Višegrad geboren. Als 1992 dort der Krieg ausbricht, flieht seine Mutter gemeinsam mit ihm, dem damals 14-Jährigen, vor den hagelnden Bomben nach Heidelberg, wo ein Onkel lebt.

Eine Wohnung findet die Familie etwas außerhalb, im Emmertsgrund, dessen hohe Betonbauten von weither zu sehen sind.

Doch auch bessere Wohngegenden gibt es hier, Straßen mit Einfamilienhäusern, die von gepflegten Gärten umgeben sind. Hier trifft der Junge einen Mann, der über den Zaun ein Gespräch mit ihm beginnt; so gut das eben geht in der noch fremden Sprache.

Da weiß Saša noch nicht, dass dieser Mann ein Zahnarzt ist, der nebenbei sein ruinöses Gebiss wahrnimmt.

Bald darauf behandelt dieser Zahnarzt nicht nur Saša Stanišić, sondern seine ganze Familie. Krankenversichert ist keiner von ihnen, der Arzt macht seine Arbeit, die zahlreiche Sitzungen umfasst, umsonst.

Doch nicht nur kaputte Zähne wollen versorgt sein. Der Zahnarzt erfährt von dem Jungen, dessen Zähne er repariert, wie traurig und verloren vor allem sein Großvater sei, in dieser für ihn so neuen und fremden Umgebung.

Beiläufig fragt er den Jungen, ob es etwas gibt, was der Opa gern unternimmt.

Nur wenig später hat er sich um Angelscheine gekümmert und lädt den traurigen Großvater samt seinem Enkel zum Angeln ein. Gemeinsam fahren sie an den Neckar und werfen ihre Köder aus. Der Zahnarzt hat für alle Brote gestrichen. Dazu gibt es Saft und Bier.

Wie der Zahnarzt heißt, erfahren wir nicht. Doch verleiht Saša Stanišić ihm einen Ehrentitel in seinem Buch. Er nennt ihn: „Dr. Heimat“.

Denn dieser Mann hat dem Jungen vermittelt, was das Wort „Heimat“ in seiner eigentlichen, schönen Form bedeutet: Es ist ein integrierender Begriff, der die hineinholt ins eigene Haus, die keines mehr haben.

Dr. Heimat versteht, Besitz und Begabung, Alltag und Leben zu teilen.

Mit einem umfassenden Blick nimmt er wahr, was für die Heimatverlorenen not-wendig ist, was ihre Not wenden kann.

Und so sorgt er zunächst für ihren Leib und bringt ihre Zähne in Ordnung, ja. Aber dann kümmert er sich auch um ihre Seelen: Er sieht Sehnsucht und Heimweh, Traumata und Traurigkeit. Und er fragt sich, was er tun kann, um ihren Schmerz zu lindern und ihnen Freude ins Gesicht zu zaubern.

Saša Stanišić hat Dr. Heimat in seinem Buch ein Denkmal aus Worten gesetzt.

Er selbst hat in Deutschland ein zweites Zuhause gefunden, hat Menschen getroffen, die ihn gesehen und gefördert haben, hat hier studiert und die deutsche Sprache so erlernt, dass er darin Bücher zu schreiben vermag.

Heute lebt er mit seiner Familie in Hamburg.

Gebet: Festmahl

Guter Gott,

weiter als meine Fantasie reicht deine Güte.

Von Osten und Westen, von Norden und Süden:

Alle lädst du uns ein zum Festmahl an deinen Tisch.

Noch aber fehlt so vielen das Brot,

noch fehlt so vielen die Freude am Leben

und manche Menschen haben keinen Grund zum Feiern.

Öffne mir Augen und Herz,

damit ich schon jetzt deine Güte

wahrnehme und weitergebe:

diesen Vorgeschmack

auf dein Reich.

Herzlich willkommen!

Roter Backstein, dunkle Dachziegel, zur Straße hin zwei Fenster im Erdgeschoss und eins oben drüber. Ein Garten, der etwas wilder ist als üblich. Und auf dem Rasen bleiben die Gänseblümchen stehen.

Eigentlich ein recht unscheinbares Haus.

Für mich aber ist es ein ganz besonderes.

Hier wohnen Menschen, die ich Freund*innen nenne. Hier bin ich gern gesehen.

Auch, wenn ich unangemeldet hereinschneie, heißt es: Schön, dass du da bist!

An der Tür ziehe ich meine Schuhe aus, und es ist egal, ob der große Zeh aus der Socke schaut.

Dann steht im Handumdrehen eine Tasse Kaffee auf dem Tisch. Immer scheint dafür Zeit zu sein.

Hier lesen Menschen in meinem Gesicht und entschlüsseln mein Schweigen. Hast du etwas auf dem Herzen?

Ich spreche aus, was ich anderswo verberge. Hier hört jemand mir aufmerksam zu. Und wenn ich gehe, fühlt sich mein Leben etwas leichter an.

Auch, wenn es bisher nicht nötig war, weiß ich: Ich dürfte anrufen, selbst mitten in der Nacht.

Ja, für mich ist dieses Haus ein besonderes.

Auf den Steinen steht mit unsichtbarerer Schrift und doch deutlich lesbar für mich: Herzlich willkommen!

Und die Fenster: Manchmal scheint mir, sie lächeln mir zu.

Leicht sein

Manchmal

geht mein Engel

mit mir spazieren

und ich merke es nicht.

Erst hinterher frage ich mich,

warum mir der Rucksack

fast leer vorkam

und auf dem Weg

keine Stolpersteine zu sehen waren.

Ich wundere mich,

dass ich im Straßenverkehr

unversehrt blieb

und böse Worte

mein Ohr nicht erreichten.

Ja, lag nicht sogar

ein Lächeln auf manchen Gesichtern

und steckte mich an?

Und dann, dann ist es plötzlich

einige Augenblicke lang so,

als seien meine Schritte leicht.

So leicht.

Es fehlte nicht viel

und ich höbe ab.

Segenswunsch: Willkommen sein

Ich wünsche dir die Erfahrung,

willkommen zu sein.

Sie gibt dir verlässlichen Boden

und Vertrauen für deinen Weg.

Sie öffnet dir die Augen

für Schönes am Rande

und für den Lichtstreif

am Horizont.

Sie macht dich stark,

auch steile Strecken zu meistern,

und hilft dir, aufzustehen,

wenn du gefallen bist.

Sie weckt in dir den Wunsch,

dich zu verschenken,

und nimmt dir die Angst,

dich selbst darüber zu verlieren.

1 nach: „Der Segen meines Großvaters“ von Rachel Naomi Remen:

https://www.wertschaetzer.com/inspirierende-medien/neshumele-%E2%80%93-der-segen-meines-gro%C3%9Fvaters (Zugriff am 05.04.2021).

2 Saša Stanišić. Herkunft, München 2019.

Willkommen und gesegnet

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