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1: Tor und Teufel

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„Chicken or cheese?“

Hier oben, 10000 Meter über der Erde, über Häusern und Straßen, Wäldern, Seen und Feldern, überkommt es ihn. Er schüttelt sich. Strahlend weiße Wolkenfetzen nehmen ihm die Perspektive. Er ist so glücklich, er könnte heulen. Die Welt. So zart, so zerbrechlich. Hier oben kann er sie lieben. In Quadraten, Streifen und Ovalen liegt sie unter ihm, wellt sich bis an den Rand seiner Wahrnehmung. Er fliegt über den Abgrund und beobachtet die Falten und Risse seiner Wirklichkeit.

Hier oben ist die Schwerkraft eine andere: Sie zieht nicht in den Füßen, sie zieht in der Brust. Macht melancholisch, schwer in den Gliedern, leicht im Kopf. Hier oben gerinnt potenziell jeder Augenblick zu einer Vision. Er sieht sich durch die Luft tauchen, Wolken reiten, Regenbogen rutschen. Erhöhte Radioaktivität, Terrorparanoia, Thrombosegefahr, fades Essen – er nimmt es in Kauf.

Er liebt es zu fliegen. Er liefert sich gerne aus.

„Chicken, please.“ Er atmet schwer. Beginnt zu zittern. Mit nassem Gesicht dreht er sich zum Fenster, weg von seinem fettleibigen Nachbarn.

”Are you OK, sir?”

Er nickt ohne hochzusehen. Über den Wolken gleißt die Sonne mit einem harschen Licht. Die Luft funkelt blau, weiß, silbern. Am Horizont der dünne Streifen eines anderen Flugzeugs. Der Mann kneift die Augen zusammen. Das Licht blendet. Er wischt sich abwesend mit einer Hand über das Gesicht, schließt die Augen. Hier oben ist ihm alles klar. Nichts ist wichtig. Alles hat dieselbe Bedeutung. Er nickt. Sobald er unten ist, wird er sich wieder verlieren. Dort unten ist zu viel Welt, zu viel Verwirrung. Hier oben ist er allein; eingeschlossen in seinem engen Sitz, über seinem Abgrund, ist er ganz bei sich.

Bei der Landung merkt er, dass er nach Hause kommt. Er weint mit offenen Augen. Goldgräber oder Goldmacher? Bald wird er mehr wissen.

Die Ankunft am Flughafen nimmt ihm den gewohnten Schwung. Es regnet, ohne zu regnen. Die Passagiere bewegen sich langsam, schütteln den Unterdruck aus den Ohren, ziehen Koffer und Taschen hinter sich her. Er geht durch die Passkontrolle, ein Aktenkoffer in der einen Hand, eine kleine Reisetasche in der anderen. Sein Jackett ist offen, die Krawatte gelockert. Er fühlt, wie der Schweiß ihm die Nase herunter läuft. Ein einzelner Tropfen, der sich mit der staubigen Mittagshitze vermischt. Er fühlt sich durchlässig unter den anderen Reisenden und unter den Einheimischen, die sich direkt hinter der Gepäckausgabe vermischen. Menschen, die ihn mit der oberflächlichen Neugier von erfahrenen Verkäufern mustern. Sie bieten alle etwas an: Zimmer, Taxis, Touren. Der Geschäftsmann geht an ihnen vorbei in die weiße Hitze vor dem Gebäude und winkt nach einem der Wagen, die sich vor dem Ausgang aufgereiht haben. Er kennt sich aus. Er steigt ein und zeigt der Fahrerin einen Zettel. Sie nickt und fährt los.

Von der Rückbank aus sieht die Gegend so fremd aus, wie er sie in Erinnerung hat. Sie fahren über eine halbe Stunde durch vorstädtische Gebiete. Die Häuser neben der Autobahn stehen eng zusammen, die Sonne spiegelt sich in den Fenstern. Attrappen, hinter denen Puppen sitzen und im Rhythmus der Autobahn zittern. Er hält sich an seiner Sonnenbrille fest.

Hinter der Brille: vibrierende Wimpern, flüchtige Blicke, halbe Konzentration. Jenseits der Brille: ein schneller, bunter Film voll von zitternden Plastiktüten, schimmerndem Metall, rennenden Kindern.

Sie passieren die Stadtgrenze. Eine halbe Stunde später erreichen sie den Äußeren Ring, die verarmten, schlecht durchbluteten Stadtteile, die sich um das Zentrum scharen. Die Fahrerin fährt jetzt schneller, „Don’t worry, Mister“, sie will keine Zeit verlieren. Er weiß, dass Übergriffe hier an der Tagesordnung sind. Er lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. Diese Gegend interessiert ihn. Er wirft schnelle Blicke aus den Augenwinkeln, sieht sie zwischen Häusern oder direkt im Licht stehen. Menschen, die alles, was sie verkaufen, an sich tragen. Dieser direkte, maximale Deal interessiert ihn. Keine Zwischentöne, keine virtuelle Bezahlung, keine Sicherheiten. Jetzt, hier, simpel und roh.

Sie überqueren die Grenze in die Innenstadt, vorbei an langen Schlangen von Wartenden, und rutschen durch eine unsichtbare Membran. Schlagartig verändert sich das Bild. Klare Strukturen. Weiches Licht. Zielstrebige Passanten. Gepflegt, urban, zivilisiert. Er entspannt sich.

Der Wagen hält an der Adresse, die er der Fahrerin gegeben hat. Als er aussteigt, kommt ihm eine Frau mit Dutzenden von Koffern, Trägern und Hunden entgegen. Ihre Haut glänzt, ihr Haar leuchtet in der Sonne. Er sieht ihr hinterher, als sie in einen Wagen steigt. Ihr Po schimmert unter dem weichen Stoff. Er geht in das Hotel und checkt ein. Sein Zimmer ist sauber und trist. Er nimmt eine Dusche, zieht sich um und ruft ein Taxi.

Die Fahrt geht in den Äußeren Ring, in die Klinka, die „Schöne Straße“. Es ist dunkel geworden und er zieht die Sonnenbrille ab, um die Gesichter besser zu erkennen. Er findet nicht, wonach er sucht. Er sieht die Gier nicht, den hungrigen Blick, der ihn alles kosten kann. Er lässt sich wieder zurück fahren. Dann wird er eben den Vertrag zuerst überarbeiten und danach entspannen. Er hat noch Zeit, doch er kann seine Ungeduld kaum im Zaum halten. Die Stunden brennen mit Möglichkeiten. Bald ist es soweit: Er wird wissen, was er will. Und wie er es bekommen kann.

In der Lobby angekommen, greift er nach dem Schlüssel, der wie von selbst in seine Hand gleitet. Alles läuft wie am Schnürchen. Er ist im Flow. Beschwingt geht er zum Lift und steigt ein. Der Liftboy nickt ihm zu. Er schaut weg.

Im ersten Stock steigt ein älteres Ehepaar ein und wieder aus. Ignoriert. Im zweiten Stock steigt ein Zimmermädchen zu. Ignoriert. Als der Fahrstuhl im dritten Stock Halt macht, blickt er irritiert nach oben. Und kommt aus dem Takt. Auf einmal bleibt der Flow stehen, gefriert um seine Knöchel, hält ihn fest. Die Erektion in seiner Hose beginnt zu schmerzen.

Vor ihm steht ein dünner Junge mit Sonnenbrille. Er kann sich in den verspiegelten Gläsern sehen. Sein Mund wird trocken, er fährt sich mit der Zunge über die Lippen, sein rechtes Auge zuckt nervös. Er wünscht sich, seine Brille aufgezogen zu haben. Jetzt ist es zu spät. Er ist ausgeliefert.

Der Junge blickt geradeaus, direkt in sein Gesicht, ein Bein angezogen, das Becken nach vorne geschoben. Der Geschäftsmann schluckt hörbar. Er ist sich sicher: Der Junge verkauft sich. Was für ein Glück. Und wie so oft hat es ihn gefunden. Sein Blick gleitet nach unten, bleibt hängen. Nimmt der Junge ihn wahr? Schwarze, zerzauste Haare, dunkle Haut. Das Gesicht hinter der Brille ausdruckslos. Perfekt. Der Stricher zündet sich eine Zigarette an. Der Liftboy protestiert. Der Junge zieht ungerührt an seiner Zigarette. Der Geschäftsmann ist nervös, noch drei Stockwerke, und er muss aussteigen, wenn er nicht sein Gesicht verlieren will. Er ist verliebt. So verliebt, wie man es kurz vor Abschluss eines Deals nur sein kann. Verliebt in seine eigene Kraft.

Mit einem Druck in der Brust verlässt er den Fahrstuhl. Er will nicht verlieren, aber er will auch nicht zu hoch pokern. Scheinbar locker geht er den Gang entlang, seine Schritte bewusst langsamer als sein rasendes Herz, und sucht mit verschwitzten Fingern nach dem Schlüssel. Findet ihn, findet die Nummer, die Tür, das Schlüsselloch, die Bewegung. Öffnet die Tür und dreht sich um.

Der Junge steht vor ihm. Er ist ihm gefolgt. Der Mann atmet aus, macht einen Schritt zurück und lässt ihn ins Zimmer gehen. Dann schließt er hinter sich ab. Der Junge bleibt vor dem Fenster stehen und nimmt die Sonnenbrille ab. Er schaut hinaus, in den Verkehr hinunter. Der Geschäftsmann umarmt ihn von hinten, fühlt das Haar, riecht den Hals, sieht einen kurzen Moment in helle Augen, bis er den Speichel schmeckt. Er ist zurückgekehrt. Orpheus ist zurück. Er hat keine Angst.

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