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5 Abschied von Kalypso

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Die Nymphe Kalypso hauste in einer großen Höhle, ihren Herd befeuerte sie mit weit duftendem Zedernholz und Lebensbaum.

Erst nach einer neuerlichen Mahnung Athenes hatte der Götterbote Hermes von Zeus den Auftrag erhalten, die Nymphe nun endlich aufzusuchen. Hermes war erstaunt, in welch reizvoller Umgebung sie lebte.

Ein immergrüner Wald aus Erlen, Pappeln und Zypressen umschloss die Höhle. In den Bäumen nisteten viele Vögel, auch große, wie Eulen, Habichte und Krähen. An der Felsenwand der Höhle hatte sich ein kräftiger Weinstock festgekrallt, der voller Trauben hing. Gleich vier Quellen sprudelten von hier aus in die verschiedenen Teile des Umlandes. Dazwischen gediehen Wiesen mit Veilchen und Eppich.

Kalypso erkannte Hermes sofort als einen der ihren, auch wenn sie ihm zuvor noch nie begegnet war. Sie unterbrach ihr Singen und Arbeiten am Webstuhl, um ihm einen Platz anzubieten.

Während sie Ambrosia reichte und roten Nektar mischte, fragte sie Hermes, was es mit seinem Besuch auf sich hätte. Aber Hermes genoss erst die Speise und den Trank der Götter, ehe er seine für Kalypso unangenehme Botschaft verkündete: „Es ist Zeus, der mich zu dir gesandt hat. Von mir aus wäre ich bestimmt nicht gekommen. Zwischen deiner Insel und der nächsten Stadt wogt meilenweit nur salziges Wasser, und freiwillig lebt hier kein einziger Mensch, der einem Opfer spenden würde. Doch Befehl ist Befehl!

Zeus sagt, bei dir lebt ein Mann, der wohl der unglücklichste aller ehemaligen Kämpfer vor Troja ist. Du sollst ihn nun endlich freigeben, denn es ist ihm nicht bestimmt, dass er hier zugrunde geht.“

„So seid ihr eifersüchtigen Götter!“, entrüstete sich Kalypso. „Immer neidet ihr es uns Göttinnen, wenn wir unser Lager mit einem Sterblichen in Liebe teilen. Ob bei Eos und ihrem Orion oder bei Demeters Jasion, immer habt ihr euch eingemischt: Den einen traf ein Pfeil der Artemis, den anderen ein Blitz des Zeus. Mir und meinem Odysseus soll es wohl nun auch so ergehen. Dabei habe ich ihn aus den Fluten gerettet, als schon alle seine Gefährten im Meer versunken waren. Ich nahm ihn freundlich auf, gab ihm zu essen und schenkte ihm meine Liebe, ja, ich wollte ihn sogar unsterblich machen und ihm ewige Jugend verleihen.

Aber bitte – wenn Zeus es so will, dann lasse ich ihn eben wieder auf das Meer hinaus. Ein Geleit kann ich ihm jedoch nicht geben. Ich verfüge weder über ein Schiff noch über Ruderer. Aber ich will ihm gerne die nötigen Ratschläge erteilen, damit er unversehrt sein Land erreicht.“

„Du hast die Botschaft vernommen!“, bekundete Hermes. „Denke nur stets an den Zorn des Zeus, damit du es dir nicht wieder anders überlegst!“

Mit dieser Warnung entschwand der Götterbote den Blicken der Kalypso, und sie machte sich unverzüglich auf den Weg zum Strand.

Dort kauerte Odysseus mit tränenverschmiertem Gesicht, die Augen starr über die Wogen des Meeres gerichtet.

„Du hast keinen Grund mehr zur Klage!“, sprach ihn Kalypso unvermittelt an. „Ich lasse dich frei. Fälle dir einige Bäume, dann gebe ich dir Eisenklammern, damit du die geschälten Stämme aneinander fügen und dir auf das Floß ein Verdeck bauen kannst. Du erhältst von mir auch Proviant und Kleidung und was du sonst noch für deine Fahrt auf dem Meer benötigst. Zudem will ich dir einen günstigen Wind schicken, sofern nicht mächtigere Götter meinem aufrichtigen Willen im Wege stehen.“

Aber Odysseus traute ihr nicht.

„Das soll ich glauben?“, empörte er sich. „Ich war mit einem guten Schiff unterwegs und bin zuletzt mit zwei notdürftig zusammengebundenen Wrackteilen hier an deiner Insel gestrandet, und nun willst du mich auf einem kleinen Floß dem Meer überantworten?

Bevor ich mich darauf einlasse, müsstest du mir schon den großen Eid schwören, dass du wahrhaftig nichts Neues gegen mich im Schilde führst!“

Kalypso musste unwillkürlich lächeln. Sein Gesicht streichelnd gab sie seiner Forderung nach: „Also gut: Ich schwöre dir bei der Erde, dem breiten Himmel und dem Fluss der Unterwelt, dass ich nichts Böses gegen dich im Sinn habe und dass ich dich so gut beraten werde, als ginge es um meine eigene Flucht – du musst nicht so schlecht von mir denken! Ich habe kein Herz aus Stein, sonst hätte ich dich auch damals nicht vor dem sicheren Tod bewahrt.“

Da stand Odysseus auf und ließ sich von der Nymphe zur Höhle geleiten.

Als er auf dem Stuhl saß, den kurz vorher Hermes benutzt hatte, reichte ihm Kalypso köstliche Speisen, während sie sich selbst von den Mägden Ambrosia und Nektar auftragen ließ.

Nachdem sie wieder ihre Hände gereinigt hatten, konnte es sich Kalypso nicht verbeißen, Odysseus noch einmal zu versuchen: „Du willst mich also wirklich verlassen?

Wenn du wüsstest, welche Gefahren dir noch drohen, du würdest hier bleiben, unsterblich werden und mit mir gemeinsam dieses Anwesen bestellen. Sosehr du dich auch nach Penelope sehnen magst – ich muss mich doch hinter Penelopes Schönheit sicher nicht verstecken?“

„Ach Kalypso! Natürlich überstrahlst du als Göttin die Schönheit der klugen Penelope! Sie ist sterblich, und du bist unsterblich und kannst dich ewiger Jugend erfreuen. Dennoch will ich nach Hause und sehne mich danach alle Tage. Selbst wenn ich Gefahr liefe, auf dem Meer wieder von einem der Götter verfolgt zu werden, ich würde jede Gelegenheit nutzen, um von hier fortzukommen.“

Da bedrängte Kalypso Odysseus nicht weiter.

Es wurde dunkel, und sie gingen beide Hand in Hand zu ihrem Lager. Seit langem war Odysseus Kalypsos schier unstillbarem Verlangen nur noch freudlos nachgekommen, aber in dieser Nacht dankte er ihr für die Rettung von einst und für die nun versprochene Aussicht auf baldige Heimkehr mit aufrichtiger Zärtlichkeit, bevor sie dann Arm in Arm einschliefen.

Am nächsten Tag machte sich Odysseus mit dem ersten Sonnenstrahl an die Arbeit. Wie versprochen wies ihm Kalypso zwanzig verdorrte Bäume zu, deren Stämme leicht auf dem Wasser schwimmen würden, und versorgte ihn mit dem nötigen Werkzeug.

Vier Tage lang arbeitete Odysseus, bis er mit seinem Werk zufrieden war.

Am fünften Tag, nachdem Kalypso ihn gebadet und mit duftenden Kleidern ausgestattet hatte, bepackte sie das kunstfertig gebaute Floß mit mehr als ausreichenden Vorräten. Zuletzt beschrieb sie Odysseus die Sternbilder, nach denen er seinen Kurs bestimmen sollte, und schickte ihm als Abschiedsgruß einen lauen, steten Wind in sein Segel.

Odysseus war guter Dinge. Nach all den Jahren bei Kalypso genoss er es, wieder unterwegs zu sein. Der Wind stand nach wie vor günstig, und Kalypso hatte für sein leibliches Wohl wirklich hervorragend gesorgt. Dank der genauen Beschreibung der Sternbilder konnte es nicht mehr lange dauern, bis er sein erstes Ziel erreicht haben würde. Nach achtzehn Tagen schienen die Berge des Phaia­kenlandes bereits zum Greifen nah.

Da entdeckte ihn Poseidon.

Wie sehr er den Aithiopen wegen ihres Opfers auch gewogen sein mochte, so verfinsterte sich das Gemüt dieses Gottes doch augenblicklich, als er Odysseus unweit des Strandes der Phaia­ken gewahr wurde. Wolken schoben sich zu riesigen Gebirgen zusammen. Sturmwinde kamen von allen Seiten her und Poseidon wirbelte die See mit seinem Dreizack auf, bis sie schäumte.

Den Untergang vor Augen erinnerte sich Odysseus an die Warnung der Kalypso und bedauerte, nicht das Schicksal der in Troja gefallenen Gefährten zu teilen. Dort wäre er wenigstens in allen Ehren begraben worden, anstatt hier im Meer als Namenloser jämmerlich ertrinken zu müssen.

Schon die erste mächtige Sturzwelle schleuderte ihn vom Floß. Der Mastbaum brach mitten entzwei. Odysseus hatte wegen seiner voll gesogenen Kleider große Mühe, sich wieder an die Wasseroberfläche zu arbeiten. Aber schließlich kämpfte er sich an die Seite des Floßes, zog sich hoch und krallte sich an dem Maststumpf fest.

Hin und her wurde das Floß gestoßen, der Süd- warf es dem Nordwind zu und das nächste Mal wurde es ein Spielball von Ost- und Westwind. Da gewann Odysseus die Anteilnahme der Leukothea.

Sie war eine Tochter des Kadmos und hieß früher Ino. Einst für ihre glockenreine Stimme bekannt, hatte sie sich voller Verzweiflung in das Meer gestürzt und war zu einer Schutzgöttin geworden.

In diesem stürmischen Gewässer einem Tauchervogel an Beweglichkeit gleich, setzte sie sich nun zu Odysseus auf das angeschlagene Floß.

„Du Ärmster! Was hast du nur gegen Poseidon verbrochen, dass er dir so übel mitspielt? Aber wenn du jetzt auf meinen Rat hörst, wird es nicht zum Schlimmsten kommen! Ziehe deine nassen Kleider aus und wickele dir dieses Tuch um die Brust. Schwimme mit ihm an Land! Hast du den Strand erreicht, wirfst du das Tuch einfach hinter dich ins Meer zurück.“

Den Maststumpf mit der einen Hand umklammernd, das Tuch in der anderen Hand haltend, sah Odysseus argwöhnisch zu, wie Leukothea wieder unter die Wellen tauchte.

War das nun eine weitere List der Götter? Die Küste nirgends auszumachen und nur mit diesem Tuch angetan sollte er ins Wasser springen? Nein, solange das Floß nicht völlig auseinander fiel, wollte er es nicht aufgeben.

Eine besonders gewaltige Sturzflut ergoss sich nun über das Floß. Die Holzstämme stoben auseinander wie dürres Stroh im Wind. Aber Odysseus konnte sich auf einen der Stämme retten und klammerte sich an ihn, wie an den Hals eines wild galoppierenden Pferdes. Er versuchte nun, seine Kleider abzustreifen und sich das Tuch um die Brust zu binden. Als es ihm endlich gelang, stürzte er sich kopfüber in die wogenden Wellen und hielt sich, so gut es ging, über Wasser.

Poseidon sah dem ungerührt zu.

Selbst wenn es Odysseus jetzt gelingen sollte, das Festland und freundlich gesinnte Menschen zu erreichen, würde er vorher Todesängste ausstehen und noch eine Menge von Poseidons bitterer Medizin zu schlucken haben. Daran konnte auch der mächtige Zeus nichts ändern.

Mit dieser Gewissheit trieb der Gott des Meeres die schaumgekrönten Rösser vor seinem Wagen an und wendete sich seinem Wohnsitz in der Ägäis zu.

Darauf hatte Athene nur gewartet, und als Erstes beruhigte sie die stürmischen Winde. Nur der Nord durfte noch blasen, damit ihr Schützling sobald wie möglich an die Küste der Phaia­ken getrieben würde.

Aber auch so musste Odysseus noch zwei Tage und Nächte durchhalten, bevor er ein mächtiges Dröhnen vernahm.

Was war das? Würde er nun mit der Brandung gegen das spitze Gestein felsiger Klippen geschmettert? Was sollte er tun?

Seitlich auszuweichen, barg das Risiko in sich, wieder ganz zurück ins Meer getrieben zu werden.

Da wurde Odysseus mit fürchterlicher Kraft von einer Welle gepackt. Hätte ihm Athene nicht die Sinne geschärft, Welle und Fels würden ihn zwischen sich zermahlen haben. So aber gab Odysseus der Welle nach und sprang von sich aus die nahende Klippe an. Seine Hände griffen nach dem rauen Gestein und krallten sich daran fest. Odysseus entdeckte noch die Mündung eines Flusses, als ihn abermals eine Welle niederdrückte. Er ließ den Felsen los und schwamm todesmutig auf den Auslauf zu. Für einen Lidschlag hielt er inne und betete zu dem Flussgott, dass er ihn nach all der ausgestandenen Not nicht abweisen möge.

Der Gott erhörte ihn und beruhigte seine Flut.

Endlich gelang es Odysseus, über den glatten Flusskiesel ans Ufer zu robben. Völlig zerschunden und erschöpft erbrach er all das geschluckte Meerwasser und blieb dann eine ganze Weile ohnmächtig liegen.

Als Odysseus wieder zur Besinnung kam, gedachte er der Mahnung Leukotheas. Er warf das Tuch in den Fluss, der es seiner Besitzerin entgegentrug. Dann ging er ein Stück in den nahen Wald hinein, um sich einen windgeschützten Platz zu suchen.

Das Geäst zweier Ölbäume war zu einem dichten, grünblättrigen Dach verflochten. Darunter entdeckte Odysseus so viel Laub, dass sich noch zwei, drei weitere Männer sogar gegen die Kälte eines Wintertages zu schützen vermocht hätten.

Schnell grub er sich mitten in das Laub hinein, und Athene schickte ihm einen tiefen, heilenden Schlaf.

Homer: Die Odyssee

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