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Montag, 10. August 2015

Christa Vonlanthen überprüfte im grossen Wandspiegel ein allerletztes Mal ihr Aussehen: Doch, sagte sie sich zufrieden, das passt gut für den ersten Tag am neuen Arbeitsort. Sie trug eine hellblaue Bluse, einen knielangen, beigefarbenen Jupe und rote Sandalen mit halbhohem Absatz. Ihre braunen, leicht gelockten Haare hatte sie mit einer Spange am Hinterkopf fixiert, so dass die Ohren frei waren. Ausser den Perlenohrringen trug sie keinen Schmuck, hatte sich aber Augen und Lippen ziemlich auffällig geschminkt. Der Sommermorgen war so warm, dass sie ihre Jacke gleich zuhause liess.

Christa Vonlanthen legte sich den langen Riemen ihres rosafarbenen Handtäschchens über die linke Schulter und nahm die neu gekaufte Schulmappe aus glänzendem braunem Leder in die linke Hand. Sie schloss ihre Wohnungstür ab, stieg vorsichtig die uralte, knarrende Holztreppe hinunter, öffnete die schwere, eichene Haustür, trat ins Freie und warf einen letzten Blick hinauf zu ihrem kleinen Balkon im zweiten Stock. Sie war erst vor zehn Tagen nach Basel umgezogen, aber sie fühlte sich schon ein klein wenig zuhause hier. Was für ein unverschämtes Glück habe ich doch gehabt, diese Wohnung zu bekommen, dachte sie einmal mehr. Andere suchen jahrelang nach ihrer Traumwohnung, und ich habe die meine schon im ersten Anlauf gefunden! Was für ein Privileg, so wohnen zu dürfen: Direkt am sonnigen Kleinbasler Rheinufer, ohne Verkehrslärm, mit diesem spektakulären Blick auf den breiten Fluss, auf das Münster mit seinen zwei schlanken Türmen und auf die Silhouette der alten Bürgerhäuser am Grossbasler Ufer!

Sie wandte sich nach links, folgte der Uferpromenade und erreichte nach kaum zweihundert Metern die Anlegestelle der Münsterfähre. Sie hatte sich eigentlich vorgenommen, so oft wie möglich den Fluss statt auf der Brücke mit der altehrwürdigen Fähre zu überqueren. Doch als sie die Tafel mit dem Fahrplan las, musste sie enttäuscht feststellen, dass die Fähre erst ab neun Uhr morgens fuhr. Und jetzt war es zwanzig vor acht. Gut, dann vielleicht auf dem Heimweg!

Sie versuchte, ihre wachsende Nervosität zu dämpfen, indem sie bewusst langsam ging und sich auf die sinnlichen Eindrücke dieses warmen Sommermorgens konzentrierte. Das leise Plätschern und Gurgeln des gemächlich ans Ufer stossenden Wassers, das lebhafte Gezwitscher der Sperlinge, Meisen und Finken in den Alleebäumen, das ferne Rauschen des morgendlichen Verkehrs, das Kläffen der Hunde, die beim ersten Spaziergang des Tages aufeinander trafen, das dumpfe Tuten der im Rheinhafen ankommenden Schiffe, das helle Quietschen der über die Brücke fahrenden Trams…

Sie nahm jetzt die lange Treppe in Angriff, die von der Uferpromenade zur Wettsteinbrücke hinaufführte. Die ersten Absätze stieg sie mit Elan und viel zu schnell hoch, so dass sie schwitzend und keuchend stehen bleiben musste, noch ehe sie die Hälfte des Aufstiegs geschafft hatte. Ich muss unbedingt wieder Sport treiben, um meine Kondition zu verbessern, sagte sie sich. Aber zunächst muss ich jetzt meinen Einstand am Gymnasium hinter mich bringen!

Den oberen Teil der Treppe bewältigte sie etwas langsamer und ohne weitere Pause, überquerte dann den Rhein auf der Wettsteinbrücke, bog nach rechts in die Rittergasse ein, erreichte nach knapp zehn Minuten den Münsterplatz und betrat das Gymnasium durch den Haupteingang, der sich direkt gegenüber der Münsterkirche befand. Im grossen Innenhof blieb sie stehen, schaute sich um und fühlte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Ihr erster Arbeitstag am Gymnasium am Münsterplatz! Hier sollte sie also fortan Deutsch und Englisch unterrichten. In diesen altehrwürdigen Gebäuden, in denen seit dem sechzehnten Jahrhundert Schüler auf die Universität vorbereitet wurden, in denen schon Friedrich Nietzsche und Jacob Burckhardt unterrichtet hatten, wo Arnold Böcklin und Carl Gustav Jung zur Schule gegangen waren!

Abrupt wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als ihr eine kleine, blonde Frau mit sympathischem Lächeln entgegenkam und ihr die Hand zum Gruss bot.

»Frau Vonlanthen? Willkommen an unserer Schule! Ich bin Laura Waser, Rektoratsassistentin. Die Direktorin hat mich beauftragt, Sie in Empfang zu nehmen. Ich werde Ihnen zuerst in meinem Büro eine allgemeine Einführung in den Schulalltag geben, damit Sie sich schon am ersten Tag einigermassen zurechtfinden. Sie wissen schon, Schlüssel, Kopierer, Bibliothek, Kaffeemaschine, Schulsoftware, internes Netzwerk und so weiter. Aber keine Angst, ich helfe Ihnen auch später jederzeit gerne. Um neun erwartet Sie dann Frau Rektorin Annina Burckhardt zu einem kurzen Gespräch, und um zehn Uhr fünfzehn beginnt Ihre erste Lektion in der Klasse 4c.«

Christa spürte ihre Knie weich werden und ihr Herz gegen die Brust hämmern. Ihre erste Lektion an einem Gymnasium seit zweiundzwanzig Jahren!

»Vielen Dank, Frau Waser, da ist sehr nett von Ihnen.«

»Übrigens sind wir hier im Lehrerkollegium alle per Du, also ich bin Laura.«

»Freut mich, ich heisse Christa.«

Die beiden Frauen drückten sich nochmals die Hand.

Christa Vonlanthen war jetzt auf dem Höhepunkt ihrer Nervosität. Das kurze Gespräch mit der Rektorin war zwar eine reine Formalität gewesen, doch jetzt stand ihr die Feuertaufe in der Klasse 4c bevor. Sie hatte eine Namensliste der zwanzig Schülerinnen und Schüler bekommen, aber was sagte die schon aus? Die jungen Leute standen zwei Jahre vor der Matura, sie hatten alle schon ihre eigene Persönlichkeit ausgebildet. Würden sie kooperieren oder sich verweigern, vielleicht gar rebellieren? Sie versuchte, die negativen Gefühle zu verscheuchen, indem sie ihre Notizen für die zwei Lektionen in Deutsch und Englisch nochmals durchging. Gedanken an ihre drei Jahre als Lehrerin am Gymnasium in Thun kamen ihr hoch. Das war doch gar nicht so schwierig gewesen damals! Frisch von der Universität und mit einer grossen Portion Optimismus hatte sie ihre erste Stelle im Berner Oberland angetreten. Kaum zehn Jahre älter als ihre Schüler, hatte sie sich schnell eingelebt und Spass am Unterrichten gefunden. Vor der Geburt ihres ersten Kindes hatte sie dann, nicht zuletzt auf Drängen ihres Mannes, den Schuldienst gekündigt. Und später hatte sie den geplanten Wiedereinstieg ins Gymnasium immer wieder hinausgeschoben und schliesslich ganz aufgegeben. Das war ein Fehler gewesen, wurde ihr jetzt einmal mehr bewusst. Sie spürte ihre Nervosität wieder wachsen. Jetzt war sie keine junge, unbekümmerte Lehrerin mehr, sondern eine fünfzigjährige Frau, die Angst davor hatte, wieder vor eine Klasse zu treten… Sie ging nochmals auf die Toilette, stieg dann in die zweite Etage hoch und drückte mutig die Türklinke zum Klassenzimmer der 4c.

Ziemlich erschöpft, aber unendlich erleichtert wünschte Christa Vonlanthen um elf Uhr fünfzig ihrer Klasse einen guten Nachmittag. Ein erfreulicher Anfang war geschafft! Die Jugendlichen hatten sie wohlwollend empfangen, hatten sich, wenn auch noch etwas zögerlich, am Unterricht beteiligt, und niemand hatte auch nur die geringste Tendenz zu Widerstand erkennen lassen. Christa begab sich zum Lehrerzimmer im Erdgeschoss. Vor der Tür kam ihr eine jüngere, modisch gekleidete Frau entgegen und streckte ihr lächelnd die Hand hin.

»Die neue Kollegin Vonlanthen, nehme ich an? Ich bin Monika Sarasin und unterrichte Geschichte und Geografie. Willkommen, Christa, an unserer altehrwürdigen Schule.«

Christa drückte die warme Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen, Monika. Ich habe soeben meinen Einstand in der 4c gegeben.«

Monika lachte. »Oh, das weiss ich schon! Ich versichere dir, mit der 4c wirst du keine Probleme haben. Eine flotte Klasse, die ich sehr gut kenne, weil ich dort Klassenlehrerin bin. Ich gebe also nicht nur meine Lektionen, sondern bin für alle schulischen, manchmal sogar für ausserschulische, Belange der jungen Leute zuständig. Eine Art von Coach für die Schulzeit eben. Als Klassenlehrerin lernst du die Jugendlichen im Lauf der Jahre eben ziemlich gut kennen. Ja, die 4c macht wirklich Freude. Übrigens, hast du in der Mittagspause schon etwas vor?«

»Ehm, nein…«

»Gehen wir doch zusammen ins Rümelin, da kann man gemütlich draussen im Schatten sitzen.«

»Gerne.«

Christa atmete auf. Schon am ersten Morgen so eine nette Bekanntschaft!

Die beiden Frauen spazierten nebeneinander den steilen Schlüsselberg hinunter, überquerten die Freie Strasse und bogen wenige Schritte weiter in eine enge, leicht ansteigende Gasse ein, die zum Rümelinsplatz führte, einem kleineren, dreieckigen Platz mitten in der Basler Altstadt.

»Wirklich ein schöner, ruhiger Ort hier«, lobte Christa, als sie sich an einen kleinen Tisch gesetzt und das Mittagsmenu bestellt hatten. »Ich kenne ja Basel bisher sozusagen nur vom Hörensagen.«

»Ich war sicher, es würde dir hier gefallen«, erwiderte Monika. »Du kommst aus Thun, habe ich im internen Netz gelesen. Was hat dich denn aus dem Berner Oberland nach Basel verschlagen?«

»Eigentlich der pure Zufall. Mein Mann und ich haben uns im vergangenen Frühling getrennt, und danach bekam ich so richtig Lust auf einen Neuanfang als Lehrerin. Unsere beiden Kinder studieren bereits in Bern und haben ihre eigene Bude, deshalb fühlte ich mich ganz frei, irgendwo eine Stelle zu suchen.«

Monika blickte erstaunt auf. »Oh, du hast schon erwachsene Kinder? Du siehst aber noch jung aus!«

»Danke für die Blumen. Man macht eben, was man kann, auch noch mit fünfzig.«

»Und, wie fühlt sich das an, dein Neuanfang?«

»Ehrlich gesagt, war ich heute Morgen sehr nervös. Stell dir vor, meine ersten Lektionen nach einer Pause von zweiundzwanzig Jahren, und dann noch an einer so traditionsreichen Schule!«

Monika lächelte. »Ja, da wäre ich auch nervös gewesen. Aber mache dir bloss nicht zu viele Gedanken. Unsere Schule ist letztlich auch nur ein Gymnasium wie jedes andere.«

Die Kellnerin brachte den bestellten Lunch, und eine Weile vertieften sich die beiden Frauen schweigend ins Essen. Christa betrachtete zwischendurch die Erscheinung ihrer neuen Kollegin. Ganz bestimmt wirkt sie unwiderstehlich auf Männer, dachte sie, so perfekt gestylt, wie sie daherkommt: Dieses ovale, völlig symmetrische Gesicht, die grossen, grünlichen, stark geschminkten Augen, die gerade, schmale, leicht glänzende Nase, die vollen, schön geschwungenen, dunkelrot angemalten Lippen, das kleine, abgerundete Kinn, die blonden, leicht gewellt auf die Schultern fallenden Haare. Und wie bezaubernd sie lächeln kann! Auch ihre Kleidung ist perfekt gewählt: Pinkfarbene Bluse, dunkelroter Jupe und ebenso rote Sandalen mit gewagt hohen Absätzen. Auch ihre Hände sind sehr gepflegt, der dunkelrote Nagellack sorgfältig aufgetragen. Ihr Alter? Wohl eher näher bei dreissig als bei vierzig.

Christa hatte aufgegessen, sie legte ihre Gabel nieder und blickte ihr Gegenüber an.

»Darf ich dir ein Kompliment machen, Monika? Dein Outfit gefällt mir sehr gut. Es passt alles zusammen und steht dir ausgezeichnet. Und natürlich hast du auch die perfekte Figur dazu.«

»Nun übertreib mal nicht! Aber trotzdem vielen Dank. Welche Frau hört nicht gerne ein Kompliment…?«

»Bist du eigentlich verheiratet? Hast du Kinder?«

Monika begann schallend zu lachen. »Oh nein, meine Liebe, eine Heirat tue ich mir bestimmt nicht an. Momentan bin ich Single, aber ab und zu einen hübschen Mann angle ich mir gerne. Und ein Kind? Da schwanke ich tatsächlich. Ich bin ja auch schon fünfunddreissig und sollte es wohl langsam wissen. Aber wahrscheinlich bin ich doch zu freiheitsliebend, um mich für eine solch langfristige Verpflichtung entscheiden zu können.«

»Lass dir ruhig noch etwas Zeit. Vielleicht ist dann das Bedürfnis nach einem Kind ganz plötzlich da.«

Monika schaute eine Weile in unbestimmte Ferne. »Ja, wer weiss?«

Christa fühlte sich rundum wohl mit dieser neuen Kollegin, sie spürte, dass ihre Wellenlängen einfach zusammenpassten. Wie wohl die anderen Kollegen waren?

»Du, Monika, wer unterrichtet sonst noch in den Klassen, die ich bekommen habe?«

»Oh, da mach dir mal keine Sorgen. Ich bin sicher, dass du mit allen gut auskommen wirst. Jeder hat so seine kleinen, harmlosen Macken, wie ich sie natürlich auch habe, aber das wirst du schon selber merken. Speziell gut mag ich das Ehepaar Moser. Guido unterrichtet Mathematik und Physik, Barbara Biologie und Chemie. Beide sind seit Jahrzehnten hier am Gymnasium tätig. Und ebenso den Andreas Vischer, unseren Altphilologen, der ja schon fast zum Inventar der Schule gehört. Die Rektorin Annina Burckhardt, unsere Romanistin, hast du ja schon kennengelernt. Nun ja, sie hat auch einen weichen Kern, aber ihre Schale kann schon ziemlich hart sein. Ein klassischer Karrieretyp eben. Lass dich nur nicht ins Bockshorn jagen, wenn sie dich mal etwas härter anfassen sollte! Bleib einfach ruhig, ihr Ärger vergeht meist ziemlich schnell.«

»Vielen Dank für die Tipps, Monika.«

Die beiden Frauen tranken noch einen Kaffee und spazierten dann gemütlich zurück zum Münsterplatz.

Die Glocke schrillte, und die Schülerinnen und Schüler der Klasse 2b verliessen schwatzend und polternd das Klassenzimmer. Monika Sarasin atmete auf. Der erste Tag des neuen Schuljahres war überstanden! Die 2b war gar nicht ihre Lieblingsklasse. Irgendwie stimmte der Mix nicht, die Klasse hatte keinen Zusammenhalt, es fehlte, wie man so schön sagt, der Klassengeist. Auch nach einem Jahr im Gymnasium hatte die Klasse noch nicht zu einer Einheit gefunden. Es waren alles Einzelkämpfer, die einen intelligent und wissbegierig, die anderen apathisch, träge und zu Störungen des Unterrichts geneigt. Die Atmosphäre in der Klasse war und blieb unharmonisch, dagegen war wohl auch die beste Lehrerin machtlos. Nun ja, sie würde auch diese Herausforderung überleben! Am besten war es in so einem Fall, nicht zu viel zu grübeln, sondern einfach straff den Lehrplan durchzuziehen.

Monika Sarasin packte ihre Utensilien zusammen, verliess das Schulgebäude und trat auf den Münsterplatz hinaus. Von einem beinahe wolkenlosen Himmel brannte die Sonne auf den weiten Platz herunter, und Monika musste in dem grellen Licht die Augen zusammenkneifen. Sie zog ihre Sonnenbrille an und überquerte dann den Platz, immer vorsichtig auftretend, um mit ihren hohen Absätzen auf dem unebenen Kopfsteinpflaster nicht ins Stolpern zu geraten. Wie immer blieb sie vor dem Münster einen Moment stehen und blickte staunend zur Kirchenfassade und den beiden schlanken Türmen empor. Am schönsten wirkte das Münster jetzt, am frühen Abend, wenn die tieferstehende Sonne den rötlichen Sandstein der Westfassade in ein zauberhaftes Licht tauchte und alle Konturen kristallklar hervortreten liess. Und am besten gefielen Monika die beiden überlebensgrossen Skulpturen zu beiden Seiten des riesigen Hauptportals. Links, am Fuss des Georgsturmes, war das Reiterstandbild des Heiligen Georg, der von seinem Pferd aus dem feuerspeienden Drachen mutig den Speer in den Rachen stösst. Rechts, unter dem Martinsturm, ritt der Heilige Martin, gerade im Begriff, seinen Mantel entzweizuschneiden, um ihn mit einem Bettler zu teilen.

Monika warf einen letzten Blick auf das Münster, wandte sich nach rechts und ging dann gemächlich ein enges Gässchen hinunter zum Barfüsserplatz, wo sie im Schatten des Kioskhäuschens auf das Tram wartete. Es war schon siebzehn Uhr vorbei, aber immer noch sehr heiss. Der ganze Sommer war beinahe unerträglich heiss gewesen. Seit Anfang Juli hatte die Stadt förmlich geglüht, und auch in der Nacht war die Temperatur häufig nicht unter zwanzig Grad gefallen.

Mit dem Tram Nummer sechs fuhr Monika bis zur Station Burgstrasse in Riehen. Von hier waren es nur noch zweihundert Meter bis zu ihrer Wohnung im Dachgeschoss eines vor sieben Jahren erbauten Fünffamilienhauses. Als sie ihr Wohnzimmer betrat, blieb ihr fast die Luft weg, und ein Blick auf das Thermometer bestätigte es: Einunddreissig Grad im Raum, und das, obwohl sie morgens die Sonnenblenden heruntergelassen hatte! Hoffentlich kühlt es wenigstens nachts ein wenig ab, dachte sie. Aber ich gehe jetzt trotzdem, wie jeden Montag, eine Runde im Wald laufen, wenn auch vielleicht wegen der Hitze etwas langsamer als üblich.

Der Montag war, wie schon im Vorjahr, Monikas strengster Schultag. Sieben Lektionen in Geschichte und Geografie, das war schon sehr ermüdend. Deshalb hielt sie sich den Montagabend immer ganz frei. Sie nahm keine Arbeit nach Hause, traf keine Verabredungen, und die Lektionen vom Dienstag bereitete sie jeweils schon am Wochenende vor. Der Montagabend gehörte nur ihr allein: Nach dem Waldlauf würde sie eine Dusche nehmen und dann auf dem schönen Balkon eine gemütliche kleine Mahlzeit mit einem Glas Rotwein zelebrieren.

Um zehn nach sechs verliess sie im Sportdress das Haus und trabte locker dem etwa dreihundert Meter entfernten Waldrand entgegen. Immer noch brannte die Sonne heiss auf den Asphalt. Doch kaum hatte Monika den Waldesschatten erreicht, wurde es schlagartig um einige Grade kühler. Sie atmete tief durch und beschleunigte ihr Tempo. Da bemerkte sie, wie ihr ein Mann im gemütlichen Spazierschritt entgegenkam. Oh je, das ist ja Andreas Vischer, was macht denn der hier? Wie peinlich, dachte sie, am besten halte ich gar nicht an. Sie hob eine Hand zum Gruss und wünschte ihm im Vorbeilaufen noch einen schönen Abend. Andreas Vischer blickte sie mit einem Lächeln an, hob ebenfalls die Hand und schlenderte dann weiter in Richtung Waldrand.

Nach einer längeren, fast schnurgeraden Strecke auf einem breiten Waldweg bog Monika nach rechts in einen schmalen Pfad ab, der quer durch ein grösseres Waldstück mit dichtem Unterholz führte. Das war ihre Lieblingsstrecke. Während auf den breiten Wegen meist viele Jogger und Spaziergänger mit Hunden unterwegs waren, traf man auf diesem schmalen, gewundenen Wegstück kaum je andere Menschen an. Der kleine Pfad wurde nicht gepflegt, und immer wieder musste Monika sich im Laufen bücken oder kurz zur Seite hüpfen, um herabhängenden Zweigen auszuweichen. Sie genoss dieses kleine Abenteuer immer, und ausserdem war dies ein gutes Koordinationstraining für die Muskulatur.

Plötzlich schrak sie auf. Was ist denn das? Neben ihr raschelte und knackte es im Geäst. Ein Reh so nahe? Sie verlangsamte ihr Tempo. Nein, es ist doch ein Mensch! Abrupt blieb sie stehen und wandte sich nach rechts. Der Angstschrei blieb ihr im Halse stecken. Sie fühlte einen harten Schlag auf den Kopf, taumelte zu Boden, versuchte vergeblich, den zweiten Schlag abzuwehren, sah noch die Messerklinge aufleuchten, und dann wurde alles schwarz.

Monikas Reigen

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