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Dienstag, 11. August 2015

Lukas Lauber und Anna Auer parkten am Waldrand, wo ein hagerer, etwa siebzigjähriger Mann, der einen grossen schwarzen Pudel an der Leine hielt, auf sie wartete und, als sie ausstiegen, sofort zu sprechen begann.

»Bühler, Armin Bühler ist mein Name. Ich wohne in der Keltenstrasse und gehe jeden Morgen mit meinem Blacky in den Wald. Heute begann er plötzlich, wie verrückt zu schnüffeln und zu winseln, und zog mich nach rechts auf einen kleinen Pfad ins Dickicht hinein. Und da lag sie in ihrem Blut… Ich bin übrigens sicher, dass ich die Frau kenne, dass ich sie schon oft hier im Wald gesehen habe. Ich glaube, sie wohnt bei Marta Hadorn im Haus…«

»Also gehen wir endlich«, erwiderte Lukas Lauber unwirsch, und sie folgten dem Mann in den Wald hinein.

Die tote Frau lag auf dem Rücken, den Kopf nach links gedreht, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Ihr weisses T-Shirt war zerrissen und blutgetränkt. Die drei Männer von der Spurensicherung waren bereits an der Arbeit. Sie fotografierten die Tote von allen Seiten und suchten die Umgebung sorgfältig ab. Einige Meter entfernt stand Rechtsmediziner Niklaus Zehnder und trat ungeduldig von einem Bein aufs andere.

Endlich waren die Leute von der Spurensicherung fertig und packten zusammen. Einer der Männer streckte Lukas Lauber ein kleines Portemonnaie zu.

»Hier, das haben wir in ihrer Hüfttasche gefunden.«

Lukas untersuchte den Inhalt. »Sehr gut, die Identität der Toten ist damit geklärt. Ein Personalausweis und ein Ausweis für Lehrpersonen, beide mit Foto. Monika Sarasin, Lehrerin am Gymnasium am Münsterplatz. Aber kein Hinweis auf eine Adresse oder auf Angehörige.«

»Eine ermordete Gymnasiallehrerin, wie ungewöhnlich«, murmelte Anna Auer erstaunt.

Niklaus Zehnder untersuchte die Tote behutsam und gründlich. Gespannt schauten Anna und Lukas zu.

»Und?«, traute sich Anna nach einer Weile zu fragen.

Der Rechtsmediziner schien sie nicht zu hören und machte weiter. Schliesslich erhob er sich mühsam. Zehnder war um die sechzig und schleppte einen ansehnlichen Kugelbauch mit sich herum.

»Ja, eine böse Geschichte«, sagte er mit säuerlicher Miene, »es handelt sich eindeutig um ein Tötungsdelikt. Die Frau wurde von vorne mit einem Messer erstochen. Die grosse Beule am Kopf deutet darauf hin, dass sie wohl zuerst mit einem harten Gegenstand niedergeschlagen wurde. Sie dürfte seit rund zwölf Stunden tot sein, wurde also gestern am frühen Abend umgebracht.«

Lukas schaute sich um. »Soweit ich die nähere Umgebung beurteile, wurde sie wahrscheinlich hier an diesem Ort getötet und nicht etwa erst nach ihrem Tod hierher gebracht.«

»Das sehe ich auch so«, stimmte Zehnder zu, »von mir aus können wir die Leiche abholen lassen.«

»Pathologie, nehme ich an?«, fragte Anna.

Der Rechtsmediziner nickte nur, und Anna zückte ihr Handy, um den Leichenwagen aufzubieten.

»Wer von uns bleibt solange hier?«, fragte Lukas.

Anna reagierte sofort. »Du, schlage ich vor. Dann fahre ich zunächst zu diesem Gymnasium. Dort erfahre ich bestimmt auch etwas über die Angehörigen der Verstorbenen.«

»Gut«, stimmte Lukas zu, »wir treffen uns dann später im Präsidium, um das weitere Vorgehen zu besprechen.«

Anna Auer betrat den Schulhof des Gymnasiums am Münsterplatz. Es war jetzt zehn vor neun, und der Hof voll von Schülerinnen und Schülern, die in der ersten Pause des Schultages die letzten Neuigkeiten austauschten. Die Polizistin in Uniform fühlte sich unwohl, hatte das Gefühl, sie werde von allen Seiten angestarrt und als Fremdkörper betrachtet. Durch das weit offen stehende Tor betrat sie das Hauptgebäude, folgte den mit Rektorat beschrifteten Wegweisern und traf auf eine kleine, blonde Frau in dunkelblauem Hosenanzug.

»Guten Tag. Ich bin Anna Auer, Kriminalpolizei Basel-Stadt.«

Laura Waser starrte bestürzt auf den Polizeiausweis. »Oh je, oh je! Hat wieder einmal ein Schüler etwas Gröberes ausgefressen?«

Die Polizistin schüttelte den Kopf. »Leider ist es schlimmer. Eine der Lehrerinnen ist gestorben. Es handelt sich um Monika Sarasin.«

Laura Waser stiess einen spitzen Schrei aus. »Nein! Das darf doch nicht wahr sein!«

Sie drehte sich abrupt um und rannte, so schnell es ihre hohen Absätze zuliessen, den Flur hinunter.

»Annina, Annina!«, rief sie und riss die Tür zum Büro ihrer Chefin auf.

Die Rektorin wandte ihren Kopf. »Nicht so stürmisch, Laura! Was ist denn los?«

Laura verwarf die Hände und schrie: »Monika Sarasin ist tot! Hörst du, tot!«

»Jetzt rede nicht so dummes Zeug, meine…«

Sie verstummte augenblicklich, als sie die Polizistin im Türrahmen bemerkte, erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen.

»Frau Doktor Annina Burckhardt, Rektorin des Gymnasiums am Münsterplatz«, stellte sie sich ganz förmlich vor.

»Anna Auer, Kriminalpolizei. Ja, leider ist es wahr. Wir haben Monika Sarasin vor einer Stunde tot im Wald bei den Langen Erlen gefunden.«

»Was, in den Langen Erlen… dort drüben wohnt sie doch…«, murmelte Laura Waser.

»Am besten lasse ich wohl die ganze Schule für heute schliessen«, sagte die Rektorin nüchtern. »Kann ich das Lehrpersonal auch nach Hause schicken oder möchten Sie noch Befragungen machen?«

Die Polizistin schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke, das kann warten.«

Annina Burckhardt blickte ihre Assistentin an. »Laura, kannst du das übernehmen, die Leute heimzuschicken?«

»Ja, ja, sicher, sofort…«, nuschelte diese und verliess eilig den Raum.

Annina Burckhardt schloss die Tür und wandte sich wieder der Polizistin zu. »Und jetzt haben wir kurz Zeit, miteinander zu reden. Bitte, nehmen Sie hier an unserem Salontisch Platz. Woran ist denn Monika Sarasin gestorben? War es ein Unfall?«

Wie scheinbar emotionslos und geschäftsmässig doch diese Frau den Tod einer ihrer Lehrerinnen aufnimmt, dachte Anna, so etwas habe ich noch nie erlebt.

»Frau Rektorin, es tut mir wahnsinnig leid, aber es handelt sich um ein Tötungsdelikt.«

»Ein… Oh je…« Jetzt machte sich doch Betroffenheit auf dem Gesicht der Frau breit.

»Ja, Monika Sarasin wurde erstochen. Wir haben bei ihr den Ausweis für Lehrkräfte gefunden, so wussten wir, wie sie heisst und wo sie arbeitet, und ich bin deshalb gleich als Erstes hier ins Gymnasium gekommen. Aber natürlich möchten wir sofort ihre Angehörigen informieren. Können Sie uns da weiterhelfen?«

Annina Burckhardt nickte zerstreut, sie schien sich zuerst wieder sammeln zu müssen.

»Wissen Sie, Monika Sarasin hat seit acht Jahren an unserem Gymnasium Geschichte und Geografie unterrichtet. Sie wohnte allein in Riehen, nahe dem Wald, wo das… Unglück passiert ist. Angehörige? Die Adressen kann ich Ihnen nicht geben, aber die werden Sie problemlos herausfinden. Monika hatte zwei Brüder, Sebastian und Peter, und auch ihre Eltern leben noch. Wenn ich mich richtig erinnere, lebt der ältere Bruder immer noch in der Familienvilla der Sarasins im Gellert

Oh, dachte Anna, Familienvilla im Gellert, das tönt nicht schlecht. Aber schliesslich sind die Sarasins ein uraltes Basler Patriziergeschlecht. Da wäre alles andere als eine Familienvilla eine Überraschung gewesen.

»Und sonst? Wissen Sie etwas über ihr Privatleben? Hatte sie einen Partner?«

Die Rektorin seufzte, und es war offensichtlich, dass die Befragung sie bereits zu nerven begann.

»Wissen Sie, wir mischen uns nicht in das Privatleben unserer Lehrkräfte ein, solange sie ihre berufliche Aufgabe korrekt wahrnehmen. Was ich weiss, ist, dass Monika im Tennisclub Smash Basel sehr aktiv war. Sie wohnte allein, hatte aber, gelinde gesagt, einen ziemlichen Verschleiss an Männern… Momentan war sie aber wieder einmal Single. Aber fragen Sie ruhig noch bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem Lehrkörper nach.«

»Das werde ich gerne tun, und ich danke Ihnen sehr für die Auskünfte«, sagte Anna kühl und verabschiedete sich rasch.

Sie war froh, wieder draussen zu sein. Diese merkwürdige Atmosphäre im Rektoratsbüro hatte sie geradezu schockiert. Was war der Grund, dass die Rektorin die Nachricht vom Mord an einer Lehrerin mit so wenig Anteilnahme empfing? Hatte sie etwa schon davon gewusst? Oder war ihr Charakter einfach so gestrickt? Eines war klar: Mit dieser Frau würde sie sich nochmals befassen müssen.

Die Schülerinnen und Schüler hatte man, ohne ihnen Genaueres mitzuteilen, nach Hause geschickt. Das Lehrerkollegium hingegen war von Laura Waser in die Aula beordert worden, wo ihnen Annina Burckhardt die Nachricht von Monika Sarasins gewaltsamem Tod überbrachte. Alle standen unter Schock. Niemand konnte wirklich glauben, was passiert war, es mutete einfach zu verrückt an. Monika, diese fröhliche, beliebte Kollegin, aus dem Nichts heraus brutal ermordet, das konnte doch einfach nicht wahr sein!

Christa Vonlanthen stand am Fenster und starrte vor sich hin. In was für ein Wespennest hat mich bloss mein Schicksal geführt? Gestern noch der geglückte Start, die aufgestellte neue Klasse, die liebe Kollegin Monika, später dann das Glücksgefühl, als ich mit der Münsterfähre den Rhein überquerte, dann den warmen Abend auf dem Balkon genoss und mich schon beinahe zuhause fühlte… Und heute Morgen dieser brutale Hammerschlag, ein unbegreiflicher Mord, der alles zunichtemacht…

»Christa, ganz allein hier am Fenster?«

»Ehm, ja, Hallo…«

Ein grosser, hagerer, weisshaariger Mann blickte sie durch eine runde Brille hindurch mit traurigen Augen an.

»Ich bin Andreas Vischer, Lehrer für Latein und Philosophie, unter anderem auch in der 4c.«

»Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Entschuldige, ich wurde gestern so vielen Leuten vorgestellt…«

»Überhaupt kein Problem, ich kenne das. Wie war denn dein erster Tag gestern?«

»Überraschend gut, darf ich sagen. Nur jetzt dieser Tiefschlag… Hast du Monika gut gekannt? Kannst du dir vorstellen, warum…?«

Andreas Vischer zuckte mit den Achseln. »Auch ich fühle mich total geknickt und sehr traurig. Ja, ich kannte Monika sehr gut, wir haben ja schon lange zusammengearbeitet und uns auch privat ab und zu gesehen. Ich bin absolut ratlos, was da passiert sein könnte.«

»Ja, ratlos ist das richtige Wort«, seufzte Laura Waser, die soeben hinzugetreten war. »Mitten aus dem blühenden Leben gerissen, wer kann das begreifen? Monika war doch überall beliebt! Ich kann mir nur vorstellen, dass es irgendein Irrer war, der sich im Wald wahllos ein Opfer ausgesucht hat.«

»Ja, das scheint auch mir die einzige Möglichkeit zu sein«, stimmte Andreas zu. »Aber es bringt ja nichts, wenn wir hier spekulieren. Es ist Sache der Polizei, das Verbrechen aufzuklären. Ich verziehe mich jetzt nach Hause und versuche, mit dem Studium eines lateinischen Gedichtes meine trüben Gedanken zu verscheuchen. Ich wünsche euch noch einen guten Tag.«

Nun, jeder hat da seine eigenen Methoden, sich zu zerstreuen, dachte Christa und machte sich ebenfalls auf den Heimweg.

Lukas Lauber hatte fast eine Stunde neben der Leiche ausharren müssen, bis endlich die zwei Männer von der Pathologie eintrafen. Sie legten die Tote in einen einfachen Sarg und trugen diesen zum breiten Waldweg, wo der Leichenwagen stand. Lukas konnte mitfahren und ging dann zu Fuss von der Pathologie zurück ins Präsidium, wo er seine Chefin, Silvia Stauber, kurz über den Fall informierte. Danach rief er Anna Auer auf ihrem Handy an. Sie war gerade unterwegs zu Monika Sarasins Eltern und sagte, sie benötige bis auf weiteres keine Unterstützung. Lukas musste zuerst einen Anflug von Enttäuschung überwinden. Dann gab er sich einen Ruck, holte am Automaten einen Kaffee und machte sich schweren Herzens daran, seinen Pendenzenberg zu verkleinern.

Zunächst wartete da das Protokoll zum Verhör dieser zwei Schlägertypen. Am Sonntagabend waren sie vor dem Restaurant Sternen im Kleinbasel aufeinander losgegangen. Die Bilanz der Schlägerei: Mehrere Fleischwunden, die genäht werden mussten, zwei ausgeschlagene Zähne und ein gebrochener Zeigefinger. Leider waren die Augenzeugen erst dazugekommen, als die Schlägerei schon in vollem Gange war. Und die Aussagen der zwei Kämpfer selbst waren so widersprüchlich, dass man unmöglich feststellen konnte, wer weshalb angefangen hatte, und wer zuerst sein Messer zog. Lukas musste sich richtig dazu zwingen, das Protokoll niederzuschreiben. Was kann denn die Polizei in so einem Fall machen? Die Schläger sind mit ihren Wunden wohl schon genug bestraft, dachte er, vielleicht erhalten sie dazu noch eine Busse, aber nächstes Wochenende gehen wieder irgendwo zwei andere aufeinander los…

Die nächste Pendenz war der Überfall in der Kantonalbankfiliale am Morgartenplatz. Gestern Morgen hatten, kurz nach Schalteröffnung, zwei maskierte und bewaffnete Männer die Angestellten zur Herausgabe von Bargeld gezwungen. Einer der Mitarbeiter konnte zwar den Alarmknopf drücken, aber als die Polizei eintraf, waren die Räuber schon mit einem Auto geflüchtet, in dem ein Dritter gewartet hatte. Immerhin, einer der Bankangestellten hatte den schwarzen Mazda noch davonfahren gesehen und sogar die Kontrollschildnummer notieren können. Die sofort ausgelöste Grossfahndung hatte schnell einen Teilerfolg gebracht. Eine Stunde später wurde der Mazda in Delémont angehalten, der Fahrer verhaftet und ein Drittel des Geldes sichergestellt. Der Verhaftete hatte sich aber bisher geweigert, Angaben zu seinen Komplizen zu machen. Lukas sah die Unterlagen zum Fall nochmals durch und machte sich dann auf den Weg ins Untersuchungsgefängnis, um den Mann ein zweites Mal zu befragen.

Um elf Uhr kehrte Lukas frustriert in sein Büro zurück. Die Befragung war erneut ergebnislos geblieben. Trotzdem gab es noch Hoffnung, die Komplizen zu finden. Im Auto hatte man nämlich mehrere Fingerabdrücke sowie Hautzellenmaterial gefunden. Falls die Fingerabdrücke oder die genetischen Profile der Flüchtigen bereits in einer Polizeidatenbank gespeichert waren, würde man sie identifizieren können. Ein weiteres Problem wäre dann aber, die flüchtigen Männer auch noch aufzuspüren. Jetzt galt es einfach, die Laborergebnisse abzuwarten.

Lukas nahm sich das nächste Dossier vor. Häusliche Gewalt, auch so ein leidiges Thema, mit dem die Polizei täglich konfrontiert war. Ein Mann hatte im Breitequartier seine Frau so brutal zusammengeschlagen, dass sie mit gebrochenen Rippen und etlichen Prellungen ins Spital eingeliefert werden musste. Schwere häusliche Gewalt war -– zum Glück für die Opfer – seit dem Jahr 2004 in der Schweiz ein Offizialdelikt, das heisst, die Behörden waren verpflichtet, solche Fälle zu verfolgen, unabhängig davon, ob das Opfer einen formellen Strafantrag stellte oder nicht. Früher hatten die misshandelten Frauen leider oft darauf verzichtet, einen Strafantrag gegen ihren Partner zu stellen, und in diesem Fall waren der Polizei die Hände gebunden gewesen. Lukas tippte die Befragungsprotokolle der Frau und ihres Mannes in den Computer. Der Richter würde es schwer haben, sein Urteil zu fällen. Die Aussagen der beiden wichen ganz erheblich voneinander ab, und Zeugen gab es keine. Lukas seufzte, schloss den Bericht ab und begab sich in die Kantine zum Mittagessen.

Nachdenklich ging Annina Burckhardt in ihrem Büro auf und ab. Sie sah die nächsten Tage wie eine riesige dunkle Wolkenwand auf sich zukommen. Die Aufregung innerhalb der Schule und in der Öffentlichkeit würde gigantische Ausmasse annehmen. Sie sah die Schlagzeilen in der Presse schon vor sich: Mord an einer beliebten Lehrerin! Einen vergleichbaren Mordfall hatte es wahrscheinlich in den Basler Schulen noch gar nie gegeben. Annina Burckhardt hasste alles, was die Ordnung des Schulbetriebes störte. Die ersten ein oder zwei Wochen des neuen Schuljahres konnten praktisch abgeschrieben werden. Und wie sollte sie kurzfristig einen Ersatz für Monika auftreiben? Nichts als ungelöste Probleme… Aber da musste sie jetzt einfach durch!

Es klopfte an der Tür.

»Ich bin‘s«, hörte Annina eine wohlbekannte Männerstimme.

Oh je, auch das noch, dachte sie. Muss der jetzt aufkreuzen? »Also, komm!«

Andreas Vischer kam herein, trat neben die am Fenster stehende Frau und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Es tut mir so leid.«

»Fass mich nicht an«, zischte Annina, machte sich resolut frei und stellte sich hinter ihren Schreibtisch. »Es ist vorbei zwischen uns, ist dir das nicht klar?«

Andreas hob unsicher die Hände. »Doch, absolut. Ich wollte dich ja nur in dieser schwierigen Situation ein wenig trösten und dir Mut machen.«

»Papperlapapp! Mut habe ich selber genug! Und den Trost brauchst doch vor allem du! Du wirst Monika bestimmt wahnsinnig nachtrauern.«

Andreas Vischer hatte seinen Kopf gesenkt und machte unschlüssig ein paar Schritte hin und her. Was sollte er jetzt nur machen? Ach, es war sowieso egal, er hatte beide Frauen endgültig verloren!

»Also dann…«, murmelte er und verliess das Rektoratsbüro.

Anna Auer hatte Monika Sarasins Eltern telefonisch ihren Besuch angekündigt. Sie hatte nur erwähnt, ihre Tochter sei verunfallt, aber Monikas Mutter hatte sofort die Vermutung geäussert, dass sie nicht mehr am Leben sei.

Anna war dann von der Innenstadt aus mit dem Tram Nummer drei hierher ins Gellert gefahren. Dieses Quartier von Basel wurde früher traditionell von der betuchteren Bevölkerungsschicht bewohnt. Noch vor sechzig Jahren hatte hier ein Dutzend prächtiger Familienvillen in ebensolchen Parkanlagen gestanden. Nach und nach hatte dann aber auch der Mittelstand dieses ruhige Wohnquartier für sich entdeckt, und immer mehr Reiheneinfamilienhäuser und sogar Mehrfamilienhäuser ersetzten die grossen Villen. Die Sarasins waren eine der letzten Familien, die immer noch im Gellert ihre Villa bewohnten. Nicht dass etwa die anderen sogenannten besseren Familien verarmt wären! Nein, die Vischers, Staehelins, Merians und Burckhardts hatten sich für eine andere Lösung entschieden: Sie hatten ihre riesigen Grundstücke im Gellert als begehrtes Bauland verkauft und sich mit dem Millionengewinn ein neues, ebenso standesgemässes Domizil erworben, etwas weiter weg vom Stadtzentrum, vorzugsweise auf dem Bruderholz oder in Riehen.

Der das Wohnhaus der Sarasins umgebende Park wurde gegen Süden hin durch drei mächtige, alte Buchen dominiert, die jetzt im Sommer angenehmen Schatten spendeten. Auf der Nordseite streckten sich vier Birken schlank in die Höhe, auf der Westseite stand eine knorrige alte Eiche. Der Rest des Gartens war ein Mosaik aus Rasen, Blumenrabatten, Wildblumenwiese und einigen niederen Sträuchern. Der hohe metallene Zaun, der das Grundstück umgab, war von aussen kaum zu sehen, da er durch eine dichte Hecke aus verschiedenen Sträuchern verdeckt wurde. Das schmiedeeiserne Eingangstor wirkte wie frisch gestrichen, der Kiesweg dahinter sah aus wie soeben geharkt, und die steinernen Treppenstufen zum Hauseingang glänzten wie frisch poliert. Auch der Garten wurde offensichtlich von einem Fachmann gepflegt. Die Blumenrabatten rund um das Haus waren beinahe unkrautfrei, wenn auch die Pflanzen durch die Hitze etwas gelitten hatten. Bestimmt gibt es hier noch eine ganze Menge an Dienstpersonal, sagte Anna sich, das sieht alles so gepflegt aus hier.

Auf dem Namensschild am Eingangstor waren, wie bei den besseren Familien üblich, nur die Initialen eingraviert. Man wusste ja schliesslich, wer wo zu Hause war… Aha, las sie, ‘S – V‘, also S für Sarasin und V für den Mädchennamen der Frau. Würde mich gar nicht wundern, wenn sie eine Vischer wäre, und natürlich keine gewöhnliche Fischer, sondern eine mit dem Vögeli-Vau.

Anna betätigte die aussen am Tor angebrachte Klingel. Der Summer ertönte, sie stiess das Tor auf und ging auf das Haus zu. Die zweistöckige Villa machte einen sehr noblen Eindruck. Vom Stil her musste sie gegen hundert Jahre alt sein, aber sie sah aus wie frisch renoviert. Das Haus war aus massiven, gelblichen Sandsteinquadern gebaut. An jeder Ecke standen zur Zierde zwei starke, weisse Marmor-Säulen mit elegant geschwungenen Kapitellen. Die hohen, eher schmalen Fenster hatten breite, steinerne Simse. Die erste Etage trug auf allen vier Seiten einen langen, ziemlich breiten Balkon mit einer auf weisse Säulchen gestützten steinernen Brüstung. Das Ziegeldach stand etwa einen Meter vor, so dass die Balkone zur Hälfte gedeckt waren.

Die mächtige, eichene Eingangstür ging auf, und im Türrahmen erschien eine ältere Frau in weisser Schürze.

»Ja, Sie wünschen?«

Anna kam sich vor wie im neunzehnten Jahrhundert: Eine Dienstmagd wie im Bilderbuch!

»Anna Auer, ich habe mich angemeldet.«

Ein kleines Lächeln erschien auf dem Gesicht der Angestellten. »Oh, wie schön, ich heisse auch Anna. Bitte folgen Sie mir.«

Die Kommissarin wurde durch die grosse Eingangshalle hindurch in einen Salon geführt. Das Innere des Hauses wirkte genauso gepflegt wie das Äussere. Zweifellos sorgte eine tüchtige Reinigungskraft hier für saubere Verhältnisse. Die drei Fenster im Salon gingen auf den Garten hinaus und hatten innen breite Simse aus Marmor, auf denen Töpfe mit blühenden Orchideen und Lilien aufgereiht waren. An den Wänden hingen grössere und kleinere Ölbilder und Aquarelle, lauter Landschaftsaufnahmen aus der näheren Umgebung. Die Möbel waren ganz im klassischen Stil gehalten und sehr sorgfältig gepflegt.

In der Mitte des Salons stand eine ältere, sehr bemerkenswerte Frau. Sie musste die sechzig schon lange überschritten haben, sah aber, wie sie schlank und aufrecht dastand, jünger aus. Ihre blond gefärbten, mittellangen Haare hatte sie sorgfältig frisiert, Augen und Lippen waren diskret geschminkt. Sie empfing die Besucherin mit einem charmanten Lächeln, obwohl ihr keinesfalls danach zumute sein konnte.

»Ich bin Monikas Mutter, Margareta Sarasin, geborene Vischer. Seien Sie willkommen, Frau Auer.«

Anna musste sich auf ein altes, mit Gobelin-Stickerei verziertes Sofa setzen. Irgendwie fühlte sie sich vollkommen deplatziert hier, trotzdem empfand sie die Atmosphäre im Haus als angenehm und gastfreundlich. Die Tür ging auf, und ein mittelgrosser, schlanker Mann um die siebzig in weissem Hemd und blauer Krawatte betrat den Salon.

»Darf ich vorstellen, mein Mann Max«, sagte Frau Sarasin.

Die Kommissarin kondolierte zunächst dem Ehepaar zum Verlust ihrer Tochter.

Der Vater schüttelte vehement den Kopf. »Das ist ja nicht zu glauben, unsere Monika ist tot? Sie war doch völlig gesund und unternehmungslustig! Was ist denn da passiert?«

»Es tut mir sehr leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber es sieht ganz danach aus, als sei Ihre Tochter umgebracht worden.«

»Was sagen Sie da!« Die Eheleute erstarrten und schauten einander fassungslos an.

»Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein! Warum denn um Himmels willen?«, fragte der Vater nach einer Weile.

»Leider haben wir noch gar keine Anhaltspunkte, die Polizei steht erst am Anfang der Ermittlungen. Aber bitte erzählen Sie mir jetzt einfach etwas über Ihre Tochter.«

»Zuerst brauche ich aber einen Drink«, sagte Max Sarasin und ging langsam zu einem an der Wand stehenden kleinen Schrank mit gläsernen Türchen. »Nehmen Sie auch einen?«

Anna Auer schüttelte den Kopf.

Max Sarasin goss Whisky in zwei Gläser und brachte diese zum Salontisch.

»Zum Wohl, Margareta, trotz allem«, stiess er mit seiner Frau an.

Er nahm einen Schluck und liess ihn mit geschlossenen Augen die Kehle hinabrinnen. »Ach, unsere arme Monika. Wissen Sie, wir haben drei Kinder, Sebastian, Monika und Peter, die alle hier im Hause aufgewachsen sind. Wie soll ich das jetzt richtig ausdrücken, aber Monika war immer schon irgendwie anders als ihre Brüder. Etwas rebellisch, unangepasst, fast trotzig, würde ich sagen. Oder nicht, Margareta?«

Frau Sarasins Augen waren von Tränen verschleiert, alle Augenblicke wischte sie diese mit einem Papiertaschentuch ab. »Ja, das war sie. Ein liebes Mädchen, aber äusserst eigenwillig. Ich hätte mir so sehr gewünscht, dass sie einmal einen guten Mann aus unseren Kreisen heiraten würde. Aber es sollte wohl nicht sein…«

Margareta Sarasin schlug die Hände vor das Gesicht und begann leise zu schluchzen. Ihr Mann legte einen Arm um ihre Schultern und fuhr fort. »Ja, eigenwillig war sie, aber auch sehr intelligent und zielstrebig. Sie schaffte ohne Probleme ihre Matura und studierte dann mit Enthusiasmus Geschichte und Geografie. Gymnasiallehrerin war immer ihr Ziel gewesen, und ich glaube, sie hatte wirklich ein Talent dazu, die Jugendlichen für ihre Fachgebiete zu begeistern. Nach dem Studium ging sie ein Jahr auf Reisen und fand danach sofort eine Anstellung am Gymnasium am Münsterplatz, der traditionsreichsten Mittelschule der ganzen Schweiz. Ich denke, sie war wirklich glücklich an dieser Schule. Vor sechs oder sieben Jahren hat sie sich dann diese hübsche Wohnung in Riehen gekauft. Aber wir waren leider nur ein einziges Mal dort eingeladen.«

Oh, das ist allerdings bemerkenswert, dachte Anna Auer für sich. »Das heisst, Sie hatten nur wenig Kontakt zu Ihrer Tochter?«

Max Sarasin zuckte mit den Schultern. »Sie ging eben ihre eigenen Wege. Man sah sich ab und zu.«

»Dann wissen Sie wohl auch nicht Bescheid über ihr Privatleben?«

Margareta Sarasin lachte dünn. »Glauben Sie denn, sie hätte uns etwas erzählt? Nein, wir wissen wenig über sie. Im Tennisclub Smash Basel war sie sehr aktiv, dort hatte sie ihre engsten Freundinnen. Darunter natürlich Patrizia Staehelin, die Partnerin unseres jüngeren Sohnes Peter. Und was Monikas Liebschaften betrifft, erzählte man sich so einiges…«

Erneut war Frau Sarasin in Tränen ausgebrochen.

»Dann will ich Sie nicht länger belästigen«, sagte Anna Auer. »Nur eine kleine Bitte hätte ich noch. Leider durfte ich Ihre Tochter nicht mehr lebend kennenlernen. Hätten Sie mir vielleicht ein gutes Foto von ihr?«

Margareta Sarasin nickte, verliess wortlos den Salon und kam mit einem kleinen, gerahmten Portrait zurück.

»Oh, wie schön, vielen Dank. Sie bekommen das Bild garantiert bald wieder«, versicherte Anna Auer, »und dann möchte ich jetzt gerne Ihre Söhne kennenlernen.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Max Sarasin, »Sebastian, der ältere, wohnt mit seiner Familie hier im Haus. Wissen Sie, wir haben im ersten Stock eine Küche und im Erdgeschoss ein Bad einbauen lassen, und so die viel zu grosse Villa in ein Zweifamilienhaus verwandelt. Und der Peter hat sein eigenes Haus in Riehen. Ob wohl Sebastian zuhause ist? Anna!«

Anna Auer zuckte zusammen. Ach Unsinn, ich bin ja gar nicht gemeint!

Die ältere Frau in der weissen Schürze erschien im Türrahmen.

»Bitte, Herr Doktor Sarasin?«

»Ist die Jungmannschaft im Haus?«

»Sehr wohl, Herr Doktor Sarasin, bis zum Mittagessen sind noch alle hier.«

Anna Auer schaute auf die Uhr: Zwanzig nach elf. Was wohl dieser Sohn beruflich machte?

»Bring die Kommissarin nach oben, Anna.«

»Sofort, Herr Doktor Sarasin.«

»Mama, sag doch endlich, was ist eigentlich passiert? Warum wurden wir alle nach Hause geschickt? Man sagte uns nur, es sei ein Unglück geschehen.«

Nadja fasste ihre Mutter bei den Schultern. Barbara Moser hatte Tränen in den Augen.

»Ach, Nadja, es ist ja so schrecklich. Anscheinend wurde unsere liebe Kollegin Monika Sarasin gestern Abend in den Langen Erlen umgebracht.«

»Was! Umgebracht? Wie furchtbar!«, flüsterte Nadja und drückte ihre Mutter an sich. »Aber weshalb nur? Wer konnte nur so etwas tun? Die Sarasin war doch so eine mega tolle Lehrerin! Und noch so jung! Ich fasse es einfach nicht!«

In diesem Moment kam Guido Moser zur Tür herein. Er stellte seine Mappe auf den Boden, kam zu Frau und Tochter und strich den beiden sanft über die Haare. Seine Stimme war fast nur ein heiseres Flüstern. »Ja, meine Lieben, wir haben heute einen schrecklich traurigen Tag durchzustehen. Wer kann das nur getan haben?«

»Die Polizei wird das schon herausfinden«, versuchte Barbara sachlich zu bleiben. »Aber kommt jetzt zu Tisch, essen müssen wir ja trotz allem etwas.«

Schweigend begann die kleine Familie ihre Mittagsmahlzeit, alle waren in ihre eigenen Gedanken versunken.

Guido Moser war, seit seinem Studienabschluss vor fünfundzwanzig Jahren, im Gymnasium am Münsterplatz Lehrer für Mathematik und Physik. Seine Frau Barbara unterrichtete dort, auch schon seit bald zwei Jahrzehnten, Biologie und Chemie. Die siebzehnjährige Nadja war jetzt in der Klasse 4b. Weder ihr Vater noch ihre Mutter erteilten Unterricht in dieser Klasse. Dies wurde wenn immer möglich so geregelt, um von vornherein alle Spekulationen, ein Lehrer könnte das eigene Kind bevorzugen, zu entkräften. Aber bei Nadja wäre sowieso niemand auf eine solche Idee gekommen. Alle wussten, dass sie nicht nur talentiert, sondern auch sehr fleissig war, und ihr Platz als Klassenprima war unangefochten. Gleichzeitig war Nadja so liebenswürdig und bescheiden, dass auch niemand neidisch auf sie war.

Barbara erhob sich vom Tisch und räumte das Geschirr ab. »Willst du heute noch lernen, Nadja?«

»Ich müsste schon, aber ich glaube, das schaffe ich nicht, ich fühle mich so mega aufgewühlt. Ständig geht mir die Sarasin im Kopf herum… Ich glaube, heute kann ich nur noch herumhängen

»Dann geh doch besser zu Lisa«, schlug ihr die Mutter vor.

Nadjas Augen leuchteten auf. »Ja, das ist eine gute Idee. Ein wenig tratschen, das wird uns gut tun.«

Lisa Carona aus der Parallelklasse 4c war Nadjas beste Freundin. Sie hatten schon zusammen die Grundschule besucht und waren fast unzertrennlich. Und dies trotz ihren ziemlich gegensätzlichen Charakteren. So gewissenhaft, ordentlich und fleissig Nadja war, so unbeschwert, chaotisch und wenig fleissig war Lisa. Aber obwohl Lisa zuhause nur wenig lernte, schaffte sie es doch dank ihrer Intelligenz und ihrem guten Gedächtnis, den Anschluss in der Klasse nicht zu verlieren und in allen Fächern zumindest auf ein Genügend zu kommen. Dafür galt Lisa als konkurrenzlos schönste junge Frau des Jahrgangs und war dementsprechend bei den Burschen die klare Favoritin. Ihre schlanke, mit genau den notwendigen Rundungen versehene Figur zog alle Blicke an, und die Mischung der Gene ihres japanischen Vaters und ihrer Schweizer Mutter hatte ein einzigartig hübsches Gesicht entstehen lassen, dessen exotischer Faszination sich niemand zu entziehen vermochte. Auch in ihrer Kleiderwahl war Lisa immer topaktuell, achtete aber gleichzeitig darauf, sich eine individuelle, zu ihrer fernöstlich angehauchten Erscheinung passende Note zu erhalten.

Wie Nadja das überhaupt aushalten konnte, so oft mit ihrer begehrten Freundin zusammen zu sein? War ihre Selbstsicherheit so stark, dass sie sich einfach nicht um solche Dinge scherte? Nadja hatte immer wieder gemerkt, dass sie selber die jungen Männer, die Lisa nachliefen, wenig interessant fand. Insofern war also zwischen den Freundinnen kaum Konkurrenz vorhanden. Umgekehrt hatte Lisa schon manches Mal gedacht, wie schön es sein müsste, so wie Nadja einen präsenten, warmherzigen Vater zu haben. Ihre Mutter war ganz in Ordnung, aber Lisa vermisste ihren Vater, der vor zwölf Jahren nach Japan zurückgegangen war, schmerzlich, obwohl sie nur noch eine schwache Erinnerung an ihn hatte.

Unmittelbar nach dem Läuten der Türglocke stand Lisa schon da.

»Ich habe dich schon vom Balkon aus kommen sehen, Nadja!«

Die Freundinnen umarmten sich innig, und Nadja erzählte natürlich sofort die Neuigkeit. Lisa konnte es kaum glauben.

»Wie mega traurig, unsere liebe Sarasin tot! Schön, dass du zu mir gekommen bist. Ich befürchtete schon, du würdest heute Französischvokabeln büffeln.«

»Ganz so vergiftet bin ich nicht«, lächelte Nadja, »und ich hätte es auch gar nicht gekonnt. Am besten lenken wir uns heute mit irgendeinem Blödsinn von den trüben Gedanken ab. Vielleicht läuft im Kino ein heiterer Film?«

»Gute Idee, ich schau mal in der Zeitung nach.«

Lisa rannte in die Küche, wo die Zeitungen lagen.

»Oh ja, da haben wir Glück. Im Scala läuft gerade eine Charlie Chaplin-Sommerserie. Heute spielen sie… Limelight, der soll ja mega schön und traurig zugleich sein!«

»Ja, ich habe ihn schon einmal gesehen. Genau das Richtige für heute!«, schwärmte Nadja.

Zehn Minuten später schlenderten die beiden Freundinnen Hand in Hand in Richtung Stadtzentrum.

Sebastian Sarasin hatte die Kommissarin in seine Bibliothek geführt und, ohne zu fragen, zwei Gläser und eine Flasche Campari auf den Salontisch gestellt.

»Ach, meine arme Schwester«, murmelte er beim Einschenken vor sich hin, »warum musstest du nur so früh sterben?«

Anna schaute sich um. In der Tat, dachte sie, das konnte man wirklich eine Bibliothek nennen! Die drei Wände waren fast bis zur Decke mit Büchern belegt, und der Fensterfront entlang standen ein Schreibtisch, ein Computertisch und ein niederes Gestell voller Aktenordner.

Sebastian Sarasin hatte sich Anna gegenübergesetzt.

»Bevor Sie die unvermeidliche Frage stellen, sage ich es Ihnen gleich: Ja, ich habe tatsächlich fast alle diese Bücher gelesen. Sie werden sich wundern, warum ich so viel Zeit habe. Wissen Sie, in der Familie Sarasin ist man nicht gezwungen, einer bezahlten Erwerbsarbeit nachzugehen, wie es die gewöhnlichen Leute eben tun müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Nein, bei uns in den besseren Kreisen kann man das ganz nach eigenem Gutdünken gestalten, sozusagen als Kür anstelle der Pflicht. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Es ist nicht so, dass ich keinen Ehrgeiz hätte oder faul wäre. Ich habe an der Uni in Ökonomie abgeschlossen, und es macht mir Freude, meine Privatkunden in Geldangelegenheiten zu beraten. Aber ich kann mir meine Arbeitszeit frei einteilen und daneben ein wenig das Leben geniessen.«

»Das klingt ja verlockend«, entgegnete Anna, »aber ich selber, die ich zweifellos zu den gewöhnlichen Leuten gehöre, muss jetzt eben meiner bezahlten Erwerbsarbeit nachgehen und Sie zu Ihrer Schwester befragen.«

Monikas Bruder lächelte säuerlich.

Es klopfte an der Tür, und eine jüngere, schlanke, blonde, elegant gekleidete Frau trat ein.

»Oh, Verzeihung, störe ich?«

»Nein, gar nicht, komm rein«, sagte Sebastian. »Darf ich vorstellen: Frau Kommissarin Auer, Daniela Sarasin, geborene Merian, Mutter unserer zwei allerliebsten Zwillinge.«

Daniela Sarasin begrüsste die Kommissarin, setzte sich neben ihren Mann und strich ihm übers Haar.

»Monika ist gestorben, hast du mir vorhin gesagt. Was ist denn da passiert?«

»Ja, leider«, nahm sich Anna Auer das Wort, »und zwar auf schlimme Weise. Sie wurde gestern Abend in den Langen Erlen mit Messerstichen umgebracht.«

»Nein! Erstochen!« Daniela Sarasin hatte einen spitzen Schrei ausgestossen. »Das ist doch nicht möglich! Wer kann denn so etwas Grässliches getan haben, und weshalb nur?«

»Das kann ja wohl nur ein Irrer gewesen sein«, sagte Sebastian kopfschüttelnd, »der sich im Wald ein zufälliges Opfer für seine perverse Lust gesucht hat!«

»Nun, ob es so war, möchte die Polizei gerne herausfinden«, erwiderte die Kommissarin, »und Sie können uns bestimmt dabei helfen. Wie war denn Ihr Kontakt zu Monika?« Sie schaute abwechselnd die beiden Eheleute an und wunderte sich über das lange Zögern.

Schliesslich antwortete die Frau als Erste. »Nun, was soll ich sagen? Viel Kontakt hatten wir nicht mit ihr. Sie war eben sehr engagiert in der Schule und im Tennisclub.«

Ihr Mann nickte nur dazu.

Anna Auer fragte weiter. »Haben Sie vielleicht irgendeine Vorstellung, warum jemand Monika hätte umbringen wollen?«

Sebastian Sarasin hatte sich erhoben und tigerte im Raum hin und her.

»Es ist doch völlig absurd«, rief er aus, »sie war doch überall so beliebt! Na ja, Männergeschichten hatte sie wohl mehr als genug, aber ein Tötungsdelikt…?«

»Sie können mir wohl keine Namen zu diesen sogenannten Männergeschichten nennen?«, fragte Anna Auer.

»Nein, wir können Ihnen da beim besten Willen nicht weiterhelfen. Monika hat uns niemals etwas darüber erzählt, wir vernahmen höchstens ab und zu ein umlaufendes Gerücht.«

Die Kommissarin erhob sich. »Ich danke Ihnen sehr für die Auskünfte. Es könnte sein, dass ich Sie nochmals belästigen muss. Wo finde ich denn Ihren Bruder?«

»Den Peter? Er residiert in Riehen, an der Hotzenwaldstrasse, zusammen mit seiner Freundin, Patrizia Staehelin.«

Rasch verliess Anna Auer die Villa und eilte durch den Park zum Ausgang. Ihr Eindruck von den Sarasins war nicht gerade positiv. Dieser Dünkel, unbedingt etwas Besseres sein zu wollen und das noch so penetrant herauszustreichen! Und da war noch dieses unbestimmte Bauchgefühl, das ihr mitteilte, irgendwo in dieser Familie gäbe es ein dunkles Geheimnis. Aber wo?

Anna Auer hatte sich unterwegs ein Sandwich gekauft und dieses während der Tramfahrt verzehrt. An der Haltestelle Dorf stieg sie aus und durchquerte den alten Dorfkern von Riehen. In diesem Vorort von Basel, einem ehemaligen kleinen, mehrere Kilometer von der Stadtgrenze entfernten Bauerndorf, lebten mittlerweile mehr als zwanzigtausend Menschen, und die freie Fläche bis zur Stadtgrenze war auf wenige hundert Meter zusammengeschrumpft. Trotzdem war im Zentrum von Riehen ein Teil der dörflichen Atmosphäre erhalten geblieben. Etliche schmale Gässchen durchquerten den Dorfkern, und einige der alten, gemauerten Bauernhäuser aus dem achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert standen in ihrer ganzen, meist frischrenovierten Pracht noch da.

Anna überquerte die Bahngleise, hinter denen die Strasse allmählich zu steigen begann, und erreichte nach einigen Minuten die Hotzenwaldstrasse. Doch, hier würde ich auch gerne wohnen, dachte sie. Ruhig, vornehm, ländlich und doch stadtnah. Eine lange Reihe von älteren Einfamilienhäusern mit schmucken Gärten säumte die Strasse. Haus Nummer dreiundzwanzig war es, hatte sie im Internet herausgefunden. Sarasin und Staehelin, stand auf der Hausglocke. Interessant, die beiden kürzen ihre Namen nicht ab. Weil sie jung und modern sind, oder weil sie nicht verheiratet sind? Das Haus hatte auch bei weitem nicht den Charakter der Sarasin‘schen Villa im Gellert. Ein solides Einfamilienhaus aus den fünfziger Jahren, mit einigem Umschwung, aber eigentlich ziemlich konventionell, dachte Anna.

Gleich nach dem Läuten ging die Haustür auf, und eine jüngere, modisch gekleidete Frau mit ernstem Gesicht erschien. Anna präsentierte ihren Polizeiausweis.

»Oh, natürlich, kommen Sie herein«, sagte die Frau. Ihre Augen waren feucht, ihre Stimme brüchig. »Mein Schwager Sebastian hat vorher angerufen und Ihr Kommen angekündigt. Ich heisse Patrizia Staehelin und bin die Partnerin von Monikas Bruder Peter. Ich arbeite als Ärztin im Kinderspital, aber heute habe ich einen freien Tag.«

Tränen erschienen in ihren Augenwinkeln. »Vor allem aber war ich Monikas beste Freundin! Unfassbar, dass sie gestorben sein soll! So eine sympathische und lebenslustige Frau soll jemand umgebracht haben, das ist doch unmöglich!«

Die Frau wandte sich ab und hielt sich ein Taschentuch vor das Gesicht.

»Glauben Sie mir«, sagte Anna bekümmert, »ich fühle ganz stark mit Ihnen. Leider erleben wir in unserem Beruf immer wieder solche Tragödien. Aber letztlich… Es handelt sich eindeutig um ein Tötungsdelikt, und jemand muss es schliesslich getan haben.«

Patrizia Staehelin wandte sich wieder der Kommissarin zu. »Peter ist in seinem Arbeitszimmer, ich gehe ihn gleich holen. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

»Danke, lieber ein Glas Wasser«, erwiderte Anna und nahm auf dem ihr angebotenen Ledersessel Platz.

Ein schlanker junger Mann im weissen Hemd mit dunkelroter Krawatte erschien im Türrahmen. Er zuckte etwas zurück, als er die Frau in Uniform erblickte.

»Oh, Verzeihung. Ich wusste nicht, dass die Polizei schon da ist.«

»Kein Problem. Ich bin Anna Auer, Kriminalpolizei. Sie haben ja vom Tod Ihrer Schwester Monika gehört, und ich würde gerne von Ihnen und Ihrer Partnerin etwas mehr über die Verstorbene erfahren.«

Peter Sarasin blickte seine Freundin an. »Was meinst du? Du kanntest sie ja eigentlich viel besser als ich selbst. Gib du doch der Kommissarin Auskunft, ich muss noch rasch ein Telefonat erledigen.«

Patrizia Staehelin lächelte die Kommissarin an. »Ich weiss, das klingt jetzt merkwürdig für Sie. Immerhin war Monika die Schwester von Peter. Aber die beiden hatten, seit ihre Kindheit vorbei war, tatsächlich wenig Kontakt miteinander. Während Peter fast seine ganze Freizeit auf dem Golfplatz verbringt, teile ich mit Monika die Leidenschaft zum Tennis und war deshalb sehr oft im Club mit ihr zusammen. Sie war wirklich meine beste Freundin! Aber wer hätte ihr so etwas antun wollen? Ich meine, das kann ja nur ein Psychopath gewesen sein, der sich irgendwo im Wald ein zufälliges Opfer für seine perverse Lust ausgesucht hat.« Patrizia hatte wieder zu weinen begonnen.

Die Kommissarin räusperte sich. »Das wäre grundsätzlich denkbar. Aber wir müssen alle Möglichkeiten offenlassen. Im Hause von Monikas Eltern wurde mir angedeutet, sie habe ein ziemlich bewegtes Liebesleben geführt.«

Ein Lächeln huschte über Patrizias Gesicht. »Ja, das kann man so ausdrücken. Sie war so attraktiv, dass sie praktisch jeden Mann ins Bett kriegen konnte. Aber eine langfristige Beziehung einzugehen, war ihr irgendwie nicht gegeben. Und immer war sie es, die eine angefangene Beziehung wieder beendet hat, manchmal schon nach kurzer Zeit. Und meist auf ziemlich unsanfte Art, muss ich leider sagen. Irgendwie war das ein spezieller Charakterzug von ihr.«

»Dann nehme ich an, dass sich der eine oder andere dieser Männer sehr gekränkt gefühlt hat. Ob hier der Schlüssel für das Delikt liegen könnte? Wissen Sie, eine solche Kränkung kann sehr starke Rachegefühle auslösen, bei Männern wie bei Frauen. Ich nehme doch an, Sie als beste Freundin kannten Monika Sarasins Liebhaber?«

Patrizia Staehelin erhob sich, ging zum Fenster und schaute eine Weile in die Ferne.

»Natürlich weiss ich Bescheid. Aber das ist doch eine heikle Sache. Die Betreffenden könnten ja dann ernsthaft unter Verdacht kommen…«

»Liebe Frau Staehelin«, fuhr die Kommissarin ärgerlich dazwischen, »denken Sie bitte daran, es geht hier nicht um ein Kavaliersdelikt, es geht um den Mord an Ihrer besten Freundin, da sind solche Rücksichten überhaupt nicht angebracht!«

»Sie hat absolut recht«, bestätigte Peter Sarasin, der soeben wieder hereingekommen war, »du musst alles sagen, was du weisst. Ich selber kann dazu leider nicht viel beitragen.«

Patrizia seufzte. »Ja, es muss wohl sein. Wobei auch ich nicht sicher bin, ob Monika mir wirklich alles verraten hat. Aber ich sage Ihnen alles, was ich weiss. Also, Monikas letzter Liebhaber war Andreas Vischer, einer der Lehrer am Gymnasium. Mindestens fünfzehn Jahre älter als sie. Ich habe mich echt darüber gewundert, als sie mir von ihm erzählte. Sie hat Andreas dann vor ungefähr einem Monat verlassen.«

»Wissen Sie, weshalb?«

»Nein, das wusste man bei Monika eigentlich nie. Irgendwann hatte sie jeweils genug von einem Mann, und dann machte sie konsequent Schluss. Das lag irgendwie in ihrem Charakter. Also, Monikas vorletzter Liebhaber war ein Kollege aus unserem Tennisclub, Mark Sutter. Ihn hat sie vor ungefähr einem halben Jahr sitzengelassen. Ein besonders heikler Fall, weil Mark verheiratet ist und zudem seine Gattin Claudia zu Eifersucht neigt.«

»Wusste sie denn davon?«

»Das kann ich nicht beurteilen. Claudia spielt nicht Tennis, ich habe sie nur wenige Male gesehen. Und vor Mark Sutter… Ja, da war die Affäre mit Stefan Weber, dem Vater eines Schülers von Monika.«

»Oh, auch das klingt brisant.«

»Ja, die beiden konnten es zwar lange Zeit geheim halten, aber irgendwann flog die Sache auf. Monika hat dann die Beziehung beendet, aber seitdem leben die Eltern Weber getrennt voneinander.«

»Damit kämen wir bereits zum viertletzten Liebhaber…«, bemerkte die Kommissarin und musste ein Lachen unterdrücken.

Patrizia hob ihre Hände, als ob sie sich entschuldigen müsste. »Nun, diese Beziehung liegt schon etwas länger zurück, mindestens zwei Jahre. Es betraf auch einen Lehrer am Gymnasium, Thomas Stahel. Dieser wechselte dann später an eine Mittelschule im Engadin, ich glaube, es war in Zuoz. Und vor Thomas, da war Monika eine Zeitlang mit Martin Frei, dem damaligen Turnlehrer, zusammen. Das ist aber bestimmt vier Jahre her. Leider hatte Martin später einen schweren Fahrradunfall und ist seither querschnittgelähmt.«

»Oh, wie schrecklich.«

»Ja, sehr tragisch«, erwiderte Patrizia. »Aber kommen Sie doch morgen Abend, ab achtzehn Uhr, zum Tennisclub. Mark Sutter wird bestimmt da sein, ebenso Melanie Haller, die zweite beste Freundin von Monika.«

Anna Auer stand auf. »Das mache ich gerne und bedanke mich sehr für die Auskünfte.«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, was dahinter stecken könnte«, sagte Peter Sarasin, nachdem die Kommissarin gegangen war, und nahm einen Schluck aus seinem Whisky-Glas.

Patrizia Staehelin rückte auf dem Sofa etwas näher zu ihm und legte einen Arm um seine Schultern. »Meine beste Freundin tot! Ach, Monika…« Patrizias Tränen tropften auf Peters Hemd. »Sicher, einige Leute waren neidisch auf sie, weil sie einfach überall Erfolg hatte, ihr alles in den Schoss fiel, ihr die Männer nachliefen… Aber ein Mord? Ich kann es nicht begreifen!«

Patrizia fuhr sich nervös durch die Haare. »Oder hängt das doch mit dieser alten Geschichte zusammen? Ich weiss, mein Liebling, es ärgert dich, daran erinnert zu werden, aber es ist nun mal passiert und hat viele negative Gefühle hinterlassen.«

Patrizia drückte Peter einen Kuss auf den Mund. Dieser erhob sich, machte einige Schritte im Zimmer auf und ab und setzte sich dann wieder.

»Die alte Geschichte… Ich selber war ja damals zu jung, um alles zu begreifen. Und es ist doch mehr als fünfzehn Jahre her, warum sollte denn gerade jetzt…?«

Patrizia seufzte tief. »Ja, das war wohl nur so eine dumme Idee von mir. Eigentlich kann es ja nur ein Wahnsinniger gewesen sein, der sich im Wald ein zufälliges Opfer für seine Aggressionen oder seine Lust ausgesucht hat.«

Peter nickte. »Ja, das muss die Lösung sein. Wenn nur die Polizei den Übeltäter bald findet!«

Patrizia erhob sich. »Du entschuldigst mich, Peter. Ich muss unbedingt noch Melanie Haller anrufen. Vielleicht weiss sie noch gar nichts von Monikas Tod?«

Pünktlich um siebzehn Uhr waren Anna Auer und Lukas Lauber zum Tagesrapport bei ihrer Chefin, Silvia Stauber, erschienen.

»Ihr musstest aber früh ausrücken heute Morgen«, lächelte Silvia die beiden an. »Ich selber kam erst gegen neun ins Büro und erfuhr dann von Lukas, was passiert war. Eine furchtbare Sache! Und, wie weit seid ihr? Schauen wir zuerst die technischen Resultate an.«

Lukas blickte auf seinen Notizblock. »Nun, die Berichte des Kriminaltechnikers und des Rechtsmediziners habe ich bereits erhalten, der Autopsie-Bericht ist allerdings noch provisorisch. Monika Sarasin wurde gestern zwischen achtzehn und zwanzig Uhr in einem unwegsamen Dickicht in den Langen Erlen erstochen. Sie wurde zunächst durch Schläge auf den Kopf zu Fall gebracht und dann mit vier Messerstichen von vorne getötet. Es gibt Anzeichen, die auf eine Vergewaltigung hindeuten. Druckstellen am Rücken, am Gesäss und im Schambereich. Diverse Textilfasern sowie Hautpartikel wurden sichergestellt. Jedoch keine Spermaspuren, keine Fingerabdrücke, keine Tatwaffe.«

Silvia Stauber nickte nachdenklich. »Vergewaltigung also möglich. Vor oder nach dem Tod?«

»Niklaus Zehnder ist sich nicht hundertprozentig sicher. Er meint aber, wenn überhaupt, dann eher erst nach dem Tod.«

Silvia Stauber blickte Lukas an. »Wir werden also Speichelproben aller Verdächtigen für die genetischen Fingerabdrücke beschaffen müssen, um sie mit den gefundenen Hautpartikeln abzugleichen. Mit den Textilfasern können wir wohl nicht viel herausbringen. Es sei denn, der Täter wäre so ungeschickt gewesen, nicht alle seine Kleider zu entsorgen… Und jetzt zu dir, Anna. Sind schon Verdächtige in Sicht?«

Anna seufzte tief. »Leider nichts Konkretes. Immerhin habe ich heute mit mehreren Personen aus dem Umfeld des Opfers gesprochen und kann mir schon ein ungefähres Bild der Verstorbenen machen.«

Dann reichte sie die Fotografie herum.

»Oh, was für eine Schönheit«, rutschte es Lukas heraus.

»Also«, fuhr Anna fort, »Monika Sarasin, fünfunddreissig, Gymnasiallehrerin, lebte allein in ihrer grossen Wohnung in Riehen, wenige hundert Meter vom Ort des Verbrechens entfernt. Sie hatte zwei Brüder, und auch ihre Eltern leben noch. Patrizia Staehelin, die Partnerin von Monikas jüngerem Bruder Peter, war zugleich Monikas beste Freundin. Offenbar lebte Monika ziemlich isoliert von ihrer Familie. Einen wirklichen Grund dafür habe ich noch nicht ermitteln können. Ihre wichtigsten Lebensbereiche umfassten ihre Arbeit in der Schule und ihre Aktivitäten im Tennisclub. Das Auffälligste an Monikas Lebenswandel waren ihre häufig wechselnden Liebhaber, und die Tatsache, dass der Abbruch der jeweiligen Beziehungen immer von ihr aus ging. Das heisst, Kränkung und Eifersucht von sitzengelassenen Liebhabern könnten durchaus ein Motiv für den Mord darstellen. Patrizia Staehelin konnte mir fünf vergangene Liebhaber von Monika nennen. Drei davon werden wir uns morgen vorknöpfen. Den viertletzten und den fünftletzten, beide damals Lehrer am Gymnasium, können wir bereits ausschliessen. Der eine hat nachweislich seit einer Woche das Engadin nicht verlassen, und der andere sitzt, seit einem Unfall, querschnittgelähmt im Rollstuhl.«

»Gute Arbeit, vielen Dank«, lobte Silvia ihre Untergebenen, »auf diesem Weg kommen wir bestimmt bald weiter. Dringend sind jetzt die Befragungen bei den Nachbarn, in diesem Tennisclub und im Lehrerkollegium. Auch müssen wir von allen potentiell Verdächtigen die Speichelproben beschaffen. Ebenso dringend ist die Durchsuchung von Monika Sarasins Wohnung. Ich hoffe doch sehr, dass wir dort einen Hinweis finden. Haben wir eigentlich einen Schlüssel?«

»Ja«, sagte Anna, »in ihrer Hüfttasche war ein Schlüssel. Ich gehe davon aus, dass er zu ihrer Wohnung passt.«

Silvia lächelte. »Gut, dann wünsche ich euch viel Erfolg. Wir treffen uns dann übermorgen, acht Uhr, zum nächsten Rapport. Und jetzt ab in den Feierabend!«

Auf dem Rückweg in sein Büro kreisten Lukas‘ Gedanken um seine Chefin Silvia Stauber. Alle Achtung, was diese Frau geleistet hat, dachte er. Als einfache Polizistin hatte sie angefangen, sich später im kriminaltechnischen Dienst etabliert und stetig weitergebildet. Nach fast zwei Jahrzehnten Erfahrung in diesem Bereich war sie dann zur stellvertretenden Chefin der Kriminalpolizei befördert worden. Jetzt war sie Mitte fünfzig, eine grosse, kräftige Frau mit ziemlich kurzen, grauen Haaren, einer runden Brille und einem meist strengen Gesichtsausdruck. Nur ab und zu kam ihre weichere Seite zum Vorschein. Etwa dann, wenn es um ein verschwundenes Kind ging. Über ihr Privatleben hatte sie kaum je etwas erzählt. Lukas wusste nur, dass sie im Neubad-Quartier wohnte. Aber ob sie Single war oder in einer Beziehung lebte?

Monikas Reigen

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