Читать книгу Anneles Spruch und die Sauschwänzlebahn - Ursula Ohnmacht - Страница 4

Wirrungen

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„Markus, aufwachen! Wir haben verschlafen! Mein Wecker ist stehen geblieben.“ Seine Mutter rüttelte ihn aus dem Schlaf. „Schnell waschen und anziehen! Tante Agathe hat dir unten eine Tasse Schokolade gerichtet. Ich nehm deine Schultasche und fahr den Wagen raus.“

Markus tapste ins Bad, fuhr mit den nassen Händen übers Gesicht, kleidete sich an und polterte die Treppe hinunter. In der Küche duftete es nach Harz, gekochter Milch, Kakao und Leberwurst.

„Komm Markus! Setz dich zwei Minuten, so viel Zeit habt ihr noch!“ Agathe stellte ihm die Tasse hin. Vorsichtig öffnete sie das Ofentürchen und legte Holz auf die Glut.

Schluck für Schluck trank Markus den Becher leer. Er schnappte seine Jacke und rannte nach draußen.

„Macht’s gut und passt auf!“ Agathe schloss die Flügel des Scheunentors.

Die Scheibenwischer quietschten über die Frontscheibe. Carla schaltete sie aus, doch die Tropfen bildeten sofort wieder ein Muster auf dem Glas. Die grauen Wolken hingen schwer über dem Tal. Durch Hüfingen drängelten sich Autos und Radfahrer. Hinter dem Städtchen ratterte ein Zug vorbei und verschwand zwischen den Häusern von Donaueschingen. Die Straße stieg zur Brücke über die Gleise an und schien direkt in den Fürstlich Fürstenbergischen Park zu führen. Erst im letzten Moment wich sie in einer scharfen Linkskurve den mächtigen Bäumen aus. Vom Bahnhof zum Schloss hasteten Fußgänger über die Straße. Radfahrer flitzten zwischen den Autos hindurch. Die Türme der barocken St.-Johann-Kirche ragten in den trüben Himmel.

„Siehst du den Treppengiebel auf der linken Straßenseite? Hier war die Lateinschule, die Fürst Josef Wenzel 1778 gründete.“ Carla bog in eine Seitenstraße ein. Markus zupfte an seinem Ärmel herum und schnitt Grimassen. An dem uralten Gymnasium schlenderte ein verliebtes Pärchen vorbei. Ein paar Straßen weiter hielt sie vor dem nüchternen grauen Betonkasten des neuen Gymnasiums. „Bis heute Mittag!“

„Tschüss!“ Markus sprang aus dem Auto und hetzte ins Klassenzimmer.

„Das Lehrersöhnchen ist ja auch schon da!“ Ferdi schlug sich auf die Schenkel.

Die Tür flog auf. Herr Hasenkiel legte seine Mappe aufs Pult. „Guten Morgen! Die mehrgliedrigen Ausdrücke haben wir bereits durchgenommen. Wo begegnen uns solche Ausdrücke?“ Er zeichnete ein Gitternetz auf die Tafel und schrieb Zahlen in einige Felder. „Na, was ist das? Ferdinand!“ Der kaute an seinem Stift und betrachtete die langen, festen Zöpfe der zierlichen Iris, die vor ihm saß. „Ferdinand!“ Der Mathelehrer klopfte aufs Pult. Der kräftige Junge war zusammengezuckt und erhob sich langsam. Völlig entgeistert blickte er den Lehrer an. „Ferdinand, du sollst nicht träumen! Was habe ich hier an die Tafel gemalt?“ Der Bursche schwieg. „Setz dich und pass endlich auf.“ In der letzten Reihe meldete sich ein rothaariges Mädchen. „Renate!“

„Das ist ein Kontenblatt!“

„Richtig! Wer kann den letzten Kontostand ausrechnen? Jan! Komm an die Tafel!“ Der Schüler schlich zur Tafel und starrte sie an. Herr Hasenkiel schüttelte den Kopf. „Ferdinand! Wie lautet das Ergebnis? Also, 35 plus 25 ist?“ Ferdinand schwieg. „Wie willst du später einmal ausrechnen, wie viel noch auf dem Firmenkonto ist?“

„Das macht das Fräulein Riedlinger bei uns!“ Die ganze Klasse brüllte vor Lachen. Ferdinand lief rot an und schaute wütend in die Runde.

„Setz dich! Ich glaube nicht, dass dein Vater genauso denkt. Jan, du kannst dich auch setzen. Markus, was muss nach der letzten Einzahlung bei Kontostand stehen?“

„60!“

„Richtig! Nehmt eure Bücher raus und schlagt Seite 43 auf!“ Zügig nahm der Lehrer die Aufgaben durch, bis es läutete.

„Hast du deine Brille vergessen?“ Alberta stützte sich neben Markus auf den Tisch.

„Nein, verloren!“

„Ach, du Schussel!“

Frau Heberlin teilte die Arbeitshefte aus und begann zu diktieren. Eilig kritzelte Markus die Worte zwischen die Linien. Als es zur Pause läutete, sammelte die Englischlehrerin die Hefte ein und verschwand.

„Und?“ Alberta lehnte sich zu ihm herüber. „Wie ging´s dir?“ Sie rieb sich über die Nase voller Sommersprossen. Ihre hellbraunen, seidigen Haare ringelten sich aus der Haarspange. „Hast du die Sprache verloren oder redest du nicht mehr mit jedem?“

„Weiß nicht!“

„Was weißt du nicht?“

„Die blöde Arbeit! Ich hab halt drauflos geschrieben.“ Markus beugte sich über seine Schultasche, aus der es nach Leberwurst duftete. Er griff nach dem Pausenbrot, biss ein Stück ab und kaute mit vollen Backen.

„Guten Morgen, liebe Kinder!“ Der betagte Herr Pfarrer ließ sich vorsichtig am Pult nieder. Bei diesem Wetter plagte ihn das Rheuma. Mit seiner knotigen Hand setzte er die Brille auf und holte aus seiner Ledermappe eine Bibel. „Der Advent soll uns vorbereiten auf die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus, dessen Geburt wir in der Christnacht feiern. Advent bedeutet Ankunft. In der ersten Andacht bitten wir darum, dass uns der Herr den Weg der Einsicht lehren möge. Ich werde euch aus dem `Buch der Weisheit´ vorlesen.“ Er schlug das Buch auf und blätterte einige Seiten um. Seine Augen blickten müde über den Brillenrand. „Liebet Gerechtigkeit, ...“ Einige Schüler legten den Kopf auf die Arme.

Markus fielen die Augen zu, doch sein Magen knurrte. Verstohlen angelte er sich sein Vesper. In diesem Augenblick räusperte sich der Herr Pfarrer und Markus ließ das Brot los. Albertas blaue Augen beobachteten ihn. Sie funkelten nicht so hell wie die jener Greisin im Wald.

Die Pausenglocke bimmelte. Der Seelenhirte erhob sich, steckte die Bibel in seine Mappe und schleppte sich zur Tür. Um ihn herum flitzten die ersten Kinder bereits auf den Gang hinaus. Markus klemmte sein Biologiebuch unter den Arm.

„Du Streber! Auch noch in der Pause lernen!“ Jan plusterte sich auf.

Markus biss in sein Brot und lief auf den Schulhof. Draußen überflog er noch einmal die Seiten über die Blütenpflanzen. Schneeflocken klatschten auf seine Jacke und tauten sofort. Er trottete ins Gebäude zurück, hängte seine Jacke an den Haken und schlenderte durch die leeren Bänke an seinen Platz. Auf dem Gang kreischten Kinder. Ein Schüler nach dem andern kam herein und ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

Pünktlich betrat Frau Maier das Klassenzimmer. „Markus! Nenn die Hauptteile einer Blütenpflanze!“

„Wurzel, Stängel, Blatt, Frucht, Blütenstand, Einzelblüte!“

Die Lehrerin vermerkte etwas in ihrem Notizbuch und rief Hans auf. Mühsam beantwortete er ihre Fragen. Sie zeichnete verschiedene Pflanzen an die Tafel. „Als Hausaufgabe schreibt ihr Pflanzen auf, deren Fruchtstand eine Schote ist.“ Frau Maier packte ihre Notizen ein und eilte hinaus.

Mit dem Läuten stand Frau Nonnenmacher in der Tür und jeder saß still an seinem Platz. Hinter ihr wartete eine junge, zierliche Person, die sie der Klasse als Fräulein Gaiss vorstellte. Die Referendarin nahm in der letzten Reihe Platz. Frau Nonnenmacher schrieb die Wandtafel voll Regeln und Grammatikübungen. „Bis zur nächsten Stunde ergänzt ihr die Sätze und bildet neue Beispiele.“ Während die Schüler noch fleißig abschrieben, wischte die Deutschlehrerin die ersten Zeilen bereits wieder ab. Die Kinder murrten. Erst die Pausenglocke erlöste die Klasse. Die Lehrerinnen verließen den Raum. Die Schüler schnappten ihre Schulranzen und stürmten hinaus. Auch Markus packte in Windeseile seine Sachen zusammen.

Alberta blieb vor ihm stehen. „Hast du alles lesen können?“

„Ja, ja!“

„Du kannst gern mein Heft haben, wenn du noch etwas nachschauen willst!“

„Danke, aber ich habe alles mitbekommen!“ Markus machte einen Bogen um sie herum und schoss auf den Gang hinaus. In der Eingangshalle baute sich Jan vor ihm auf. Ferdi stieß Markus in die Seite.

„Markus!“ Carla strich sich mit der Hand über das blasse Gesicht und die aufgesteckten Haare. „Kommst du!“ Ihr weißer Rollkragenpulli leuchtete aus dem fliederfarbenen Schal. Unter der hellgrauen Jacke wippte bei jeder Bewegung ein knielanger dunkler Rock hervor und die schwarzen Stiefelspitzen zeigten nie lange in eine Richtung.

In Zeitlupe drehte Jan seinen mageren Körper zur Seite und gab den Weg frei. Ferdi lachte höhnisch. Markus preschte an seiner Mutter vorbei zur Tür hinaus.

Auf dem Parkplatz holte sie ihn ein. „Was war denn los, dass du so davongerast bist?“

„Ach, nichts!“ Markus nestelte an seinen Schuhen. Carla schloss den Wagen auf. Markus stieg ein. Sie grüßte einen Kollegen und fuhr aus dem Parkplatz. Von allen Seiten hasteten Schüler zu Fuß oder mit dem Rad über die Straße. Die Autos quälten sich durch die Stadt, am Bahnhof vorbei über die Brücke.

Die letzten Häuser von Hüfingen lagen hinter ihnen. Die Straße schlängelte sich durch Wiesen und Felder. Über den Bahndamm ragte nur der Kirchturm. Die Baumreihe auf dem Auenberg glich einem Schattenriss. Ein Zug fuhr am Bergrücken entlang. Die letzten Wagen ratterten vorbei, als Carla in das Sträßchen zum Auenberg einbog.

Agathes Haus stand etwas oberhalb des Wegs. Auf den roten Ziegeln des steilen Dachs wuchsen Moospolster. Zwei Steinstufen führten zur dunklen Holztür hinauf. Daneben umrahmten dicke Balken ein großes Tor. Vor einer niedrigen Tür weiter hinten zeigte ein Mäuerchen an, wo früher der Misthaufen lag. In den Fugen der Steinplatten breiteten sich Grasbüschel aus.

Vor dem Haus hielt Carla an. Markus stieg aus und öffnete das Scheunentor. Lichtstreifen fielen durch die Dachluken auf zahllose Spinnweben im Gebälk. Carla parkte unter dem ehemaligen Heustock. Ein Schatten flüchtete ins Freie. Von einem Balken rieselte Staub. Markus verriegelte die Tür.

Ein Durchgang führte ins Treppenhaus. Wie immer war die Tür zu Agathes Wohnung offen. Es duftete nach Kartoffeln, Möhren, Sellerie, Lauch und Speck. Auf dem Tisch in ihrer Stube dampfte der Suppentopf.

„Na, Bub! Was macht dein Knie?“ Agathe schöpfte den Eintopf in die Teller.

„Das spüre ich nicht mehr!“ Markus rührte in seiner Kartoffelsuppe. „Ich geh nachher zum Xaver und hole mein Rad!“

„Erst werden die Schularbeiten gemacht!“ Carla setzte sich zu Agathe.

„Für morgen muss ich nichts mehr machen!“ Markus blies über seinen Löffel.

Nach dem Essen hängte sich Markus seine Jacke um. Aus der Küche rief Agathe. „Du kannst ihm diesen Kuchen mitbringen und sag einen schönen Gruß von mir. Vielleicht hat Xaver deine Brille gefunden?“

Markus nahm das Päckchen und rannte die Straße ins Dorf hinunter. Es roch nach Gülle. Von einem Wagen schaufelte ein Mann Kuhmist in seinen Garten. Markus machte einen Bogen um den Traktor mit dem Anhänger und folgte dem Pfad durch die Gärten. Zwischen den Wolken brach die Sonne durch und tauchte die Kirche in goldenes Licht. In einer Wiese saß eine graue Tigerkatze und floh erschreckt, als er näherkam. Er rief leise, doch sie reagierte nicht auf den Namen Fritz.

Büsche säumten den Pfad. Hinter den kahlen Zweigen breitete sich ein Garten aus. Eine weißhaarige Frau fegte eine Terrasse. Viele Tische und Stühle lehnten zusammengeklappt an der Hauswand. Quer durch die Wiesen stieg der Pfad wieder an und mündete in ein Sträßchen, das hinunter zum Bahndamm führte. Zwischen mächtigen Obstbäumen entdeckte Markus den Feldweg, dem er im Nebel gefolgt war.

Vor der steilen Böschung des Dammes hob sich der Giebel eines kleinen Hauses deutlich ab. Wie zwei Augen umrahmten die Fenster in der rötlichen Backsteinwand die Haustür, zu der zwei Steinstufen hinauf führten. Weiter hinten war ein Schuppen an das Haus gebaut.

Ein Auto mit französischem Nummernschild bremste vor dem Haus und hupte. Aus der Haustür trat ein kräftiger Mann und ging die Stufen hinunter. Hinter ihm erschien Xaver. „Die Sonderfahrt am 25.9. war ein Erfolg, doch die Bahnstrecke ist jetzt endgültig stillgelegt. Blumberg will den Betrieb aufnehmen und Eurovapor hat Rollmaterial zugesagt, aber das weißt du sicher schon.“

„Oui!“ Der Fremde nickte und die schwarze Baskenmütze wackelte ein wenig in den kastanienbraunen Locken. Er trug eine ausgebeulte schwarze Hose und dunkle Schnürschuhe. Über den Rand des dunkelblauen Pullis hing ein roter Hemdkragen.

„Guten Tag!“ Markus blieb vor dem Haus stehen.

Überrascht blickten die beiden Männer auf. „Tag, Markus! Moment noch, ich hab´ gleich Zeit für dich!“ Xaver wandte sich dem Fremden wieder zu.

„Buschur!“ Aufmerksam musterte der Franzose Markus. Unter buschigen Augenbrauen blitzten türkisfarbene Augen aus einem Meer von Lachfalten. Er strich sich durch den rötlich schimmernden Schnauzbart und über die breite Nase. Auf dem runden Kinn saß ein kleiner, brauner Fleck. „Din Büa?“

„Nein! Er flog mir vor die Werkstatt.“ Xaver lachte herzlich.

Der Fahrer hupte ungeduldig.

„Märssi un machas güat!“ Der Elsässer winkte und stieg in den Wagen. Die wohltönende, tiefe Stimme und die seltsamen Worte weckten etwas, das in Markus schlummerte wie eine Landschaft im Nebel.

„Du auch und komm bald wieder!“ Xaver winkte dem Wagen nach. „Jetzt hab´ ich Zeit für dich, Markus! Du willst dein Fahrrad holen?“

Markus nickte und streckte Xaver den Beutel hin. „Einen schönen Gruß von Tante Agathe und sie schickt das da!“

„Vergelts Gott!“ Xaver nahm die Stofftasche und schob ihn in die Werkstatt, wo das Rad blitzblank geputzt stand.

Begeistert strahlte Markus. „Vielen Dank!“

„Gern geschehen!“ Xaver wickelte das Päckchen aus. „Ein Nusskuchen!“ Er angelte ein Messer vom Regal, schnitt den Kuchen auf und wischte das Messer sorgfältig ab, bevor er es in die lederne Scheide zurücksteckte. „Nimm dir!“ Auf der Werkbank breitete er ein löchriges blaues Handtuch aus. Eine Brille mit einem dicken Horngestell kam zum Vorschein. „Die lag draußen. Ist das deine?“

„Danke!“ Markus steckte sie ein und griff nach einem Stück Kuchen. „Was ist Rollmaterial?“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Ich wollte Sie nicht stören.“

„Erst mal darfst du mich duzen und zweitens störst du mich nicht!“ Xaver rieb seine Nasenspitze. „Du hast das Gespräch mit dem Kollegen vorhin, einem Lokführer aus dem Elsass, mitbekommen! Unter Rollmaterial versteht man all das, was auf der Schiene rollt, also die Loks und die Wagen.“

„Du warst Lokführer?“ Markus biss in den Kuchen.

„Seit einigen Wochen bin ich zwar im Ruhestand, aber ich bin noch immer Lokomotivführer.“

„Was ist Oiowapo?“ Vom Kuchen brach ein Stückchen ab und fiel zu Boden. Markus bückte sich danach.

„Oiowapo???“ Xaver kratzte sich an der Stirn. „Du meinst wohl Eurovapor? Das ist die Europäische Vereinigung zur Erhaltung von Dampflokomotiven. Die Mitglieder wollen betriebsfähige Dampflokomotiven erhalten und sie weiter fahren. Inzwischen sind bereits viele Dieselloks eingesetzt. Dampfloks wird man im normalen Zugverkehr bald gar nicht mehr sehen.“

Ein Zug donnerte vorbei. Markus horchte auf. „Aber hier fahren doch noch Züge!“

„Ja natürlich!“

„Die Bahnstrecke sei jetzt endgültig stillgelegt. Das hast du gesagt!“

„Ich sprach von der Sauschwänzlebahn im Wutachtal.“ Xaver strich sich mit den Fingern durch das Haar.

„Sauschwänzlebahn klingt lustig!“

„Die interessante Strecke soll als Museumsbahn erhalten bleiben.“

„Und du wirst eine Lokomotive fahren? Mit einem Zug hintendran?“

Nachdenklich betrachtete Xaver die dunkle, ölige Mütze, die neben der Tür am Haken hing. „Eine Lok fahre ich vielleicht wieder - mit einem Zug hinten dran.“

Von der Kirche hallten Glockenschläge über das Tal. Markus sprang auf. „Ich muss nach Hause! Auf Wiedersehen, Xaver! Darf ich mal wiederkommen?“

Xaver schmunzelte. „Natürlich darfst du wiederkommen, wann immer du willst!“


Seit Wochen fieberten alle dem Schulkonzert entgegen. Mit einer weißen Seidenbluse stand Carla vor dem Spiegel in der Garderobe. Sie hielt sich eine rote, danach eine hellblaue Bluse an und verschwand wieder in ihr Zimmer. Markus räumte seinen Tisch auf. Flocken wirbelten vor dem Fenster. Die Dämmerung brach herein. Am Abend lag Schnee. Carla fuhr vorsichtig nach Donaueschingen. Beim Gymnasium parkten sehr viele Autos. In einer Seitenstraße fand Carla einen Parkplatz.

In der Aula drängten sich Schüler, Lehrer und Eltern. Zwei Plätze am Rand waren auf der einen Seite noch frei. Carla bestand darauf, dass sich Agathe und Markus hinsetzten. Beschwingt lief sie weiter, begrüßte jemanden und setzte sich.

Ein Herr betrat das Podium und hieß die Zuhörer willkommen. Das Gemurmel verebbte. Vor Markus knutschte ein Pärchen. Er stand auf, doch Tante Agathe zog ihn auf den Stuhl zurück. Der Dirigent hob den Taktstock. Das Schulorchester spielte in voller Besetzung und bekam viel Beifall.

Schritte trippelten und das Podium knarrte. Der Schulchor stellte sich auf. Markus spähte zwischen den Köpfen hindurch und entdeckte fast nur Mädchen. Das Orchester begleitete die hohen Stimmen. Begeistert applaudierte das Auditorium nach jedem Stück.

Im Finale wetteiferte der Chor mit dem Orchester. Applaus brandete auf und die Musiker verbeugten sich. Das Publikum erhob sich und die ersten Zuschauer strebten zum Ausgang. Markus huschte auf die andere Seite der Aula.

„Hallo Markus! Ihr seid doch gekommen? Das finde ich ganz toll!“

„Hallo Alberta!“

„Deinen Vater habe ich gar nicht gesehen!“

„Der ist nicht da!“

„Ist der immer unterwegs? Was macht der eigentlich?“

„Mein Vater ist – in führender Stellung.“ Ungeduldig schaute sich Markus um. „Meine Mutter muss hier irgendwo sein.“

„Die ist dahinten bei der großen Treppe und quatscht mit dem Schultz. Die haben die ganze Zeit getuschelt und gekichert.“

„Woher weißt du das denn?“

„Ich saß mit meiner Mutter ja fast hinter denen.“ Alberta drehte eine Haarsträhne um den Finger. „Hat die was mit dem?“

„Quatsch!“ Markus jagte zur Treppe und stieg die Stufen hinauf. In einem Winkel entdeckte er seine Mutter. Ihre Wangen waren so rot wie ihre Bluse. Sie kicherte und hielt sich die Hand vor den Mund. Der Studienrat knöpfte sich das elegante Jackett auf und neigte sich leicht zu ihr. Sein seidiges hellbraunes Haar fiel ihm ins Gesicht. Lässig strich er es aus der Stirn und flüsterte Carla etwas ins Ohr. Beide prusteten los. Sie drehte sich dem hochgewachsenen Kollegen zu und ließ die Finger durch ihre dunklen Locken gleiten. Ihr Blick streifte Markus und sie winkte ihm zu.

Der Lehrer grüßte Markus, beugte sich lächelnd zu Carla und raunte ihr etwas ins Ohr. Sie lachte und schlenderte aus der Ecke. An der Tür drängten sich die Konzertbesucher. Mittendrin bahnte sich Agathe einen Weg durch die Menge.

Markus schritt die Stufen hinunter direkt auf Carla zu. „Was hast du mit dem Schultz?“

„Wir haben über Fontane geredet!“ Carla lächelte.

„Über was?“

„Über einen Roman von Theodor Fontane!“

„Liebst du ihn?“

„Wen?“

„Den Schultz!“

Entgeistert starrte sie ihn an und schnappte nach Luft. „Wie kommst du denn darauf?“

„Ist er wie Papa?“

„Los beeil dich! Es zieht an!“ Carla biss die Lippen zusammen, packte Markus an den Schultern und schob ihn in die Kälte hinaus. Agathe erwartete sie am Auto. Carla schloss den Wagen auf und setzte sich ans Steuer. Markus ließ sich auf den Rücksitz fallen. Agathe stieg ein. Der Motor heulte auf. Carla drückte den Schalthebel nach vorn und steuerte aus dem Parkplatz. Auf der glatten Straße rutschen die Reifen. Langsam fuhr Carla nach Hause.


Anneles Spruch und die Sauschwänzlebahn

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