Читать книгу Anneles Spruch und die Sauschwänzlebahn - Ursula Ohnmacht - Страница 5

Spiegelbild

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Eis und Schnee bedeckten die Landschaft. Im Haus duftete es nach Zimt, Nelken, gerösteten Nüssen und Weihnachtsplätzchen. Die letzten Klassenarbeiten waren geschrieben.

„Willst du nicht lieber in der nächsten Woche fahren?“ Agathe nahm Carla das Geschirr ab.

„Nein, Agathe! Ich will heute Nachmittag nach Freiburg. Die B 31 ist gut gestreut. Wer weiß, wie viel Schnee noch kommt.“

„Dann lass ich das Geschirr halt stehen und richte mich!“ Agathe stellte die Teller in die Spüle und ließ Wasser drüberlaufen.

Durch Wolkenlücken zeigte sich blauer Himmel. Carla bog vor Hüfingen auf die Bundesstraße ein. Die weite Schneefläche vor Löffingen blendete Markus. Wald verdrängte immer mehr die Felder. An den verschneiten Hängen schlängelte sich die Landstraße nach Neustadt und zum Titisee. Über dem Hochmoor in der Senke lag Dunst. Der Schnee glitzerte. Aus den Kaminen der stattlichen Höfe stieg Rauch. Einige Wagen bogen zum Titisee ab.

Nach Hinterzarten fuhren sie in engen Kehren ins Höllental hinunter. Von der anderen Seite spannten sich die Bögen der Eisenbahnbrücke über die Ravennaschlucht. Beim Gasthaus Sternen wurde das Tal breiter. Eine alte Frau humpelte aus einem großen Haus. An seiner Fassade erinnerten verwitterte Buchstaben an die frühere Wirtschaft beim Bahnhof Posthalde.

Immer näher rückten die Berge wieder zusammen. Am Hirschsprung zwängten sich Straße und Bach zwischen den Felsen hindurch. Der Zug musste durch den Tunnel. Dahinter reihten sich die Häuser von Falkensteig am Fuß der steilen Hänge.

In Himmelreich weitete sich das Dreisamtal. Zwischen dunklen Feldern leuchteten die Wiesen matt grün in der Sonne. Bei den ersten Häusern von Freiburg stockte der Verkehr. Am Schwabentor standen sie in der Schlange. Die Autos krochen am Schlossberg entlang. In der Tiefgarage am Karlsklotz parkte Carla erleichtert.

Vom Münster schlug die große Glocke. Die Menschen strömten durch die Gassen zur weihnachtlich geschmückten Kaiserstraße. Im Warenhaus drängten die Kauflustigen zu den Rolltreppen. Agathe und Carla nahmen Markus in die Mitte. Kinderbekleidung hing auf den Gestellen im nächsten Stock. Agathe stürzte sich auf einen Ständer. „Meinst du, das ist die richtige Größe? Ein bisschen reinwachsen könnte er durchaus!“ Markus blieb wie angewurzelt stehen.

„Tante Agathe will dir zu Weihnachten eine neue Hose schenken. Ich weiß, wie ungern du Sachen anprobierst. Aber es geht nun mal nicht ohne.“

„Kann ich Ihnen helfen?“ Eine Verkäuferin tänzelte auf sie zu und klimperte mit riesigen Wimpern. Ihr knallrot geschminkter Mund reichte fast von einem Ohr zum anderen. Die Ohrringe ähnelten dem Weihnachtsschmuck draußen.

„Schau mal, Carla!“ Agathe eilte mit einem Arm voller Kleidungsstücke auf sie zu. „Wo kann der Junge das probieren?“

„Hier sind die Umkleidekabinen.“

Wütend schloss Markus den Vorhang hinter sich. Er hängte seine Jacke an den Haken, ließ seine ausgebeulten Hosen fallen und stieg aus den Stoffkringeln am Boden. Seine Mutter reichte ihm eine flauschige, dunkelgraue Flanellhose herein. Die fühlte sich gar nicht schlecht an. Lustlos schlüpfte er hinein. Die Gardine wackelte und drei Frauenköpfe musterten ihn.

„Willst du dich nicht mal anschauen?“ Die Dame streckte ihren dünnen Arm nach ihm aus. Unzählige Metallreifen rutschten zum Handgelenk. Markus rührte sich nicht vom Fleck.

„Komm, lauf ein paar Schritte.“ Seine Mutter packte ihn am Arm.

„Moment!“ Die Frau schlug die Hosenbeine etwas um. „So, junger Mann, jetzt kannst du gehen.“

Aus dem verchromten Rahmen blickte ein schmächtiger Junge mit wuscheligem, seidig glänzendem Haar, das sich eigenwillig in alle Richtungen bog. Es war nicht tiefschwarz, aber doch erheblich dunkler als übliche braune Haare und schimmerte rötlich. Das schmale Gesicht wirkte wie aus mattem Porzellan. Durch die Gläser in dem dicken Horngestell erschienen die türkisfarbenen Augen etwas verzerrt.

„Die Hose steht ihm doch wirklich gut. Sie unterstreicht seine zierliche Gestalt.“ Ihre Armreifen klirrten, als sie ein wenig den Spiegel drehte. „Er ist so ein hübscher Junge.“

Agathe betrachtete ihn. „Gut! Probier mal diese hier!“

Markus schüttelte das Weibsbild ab, das den Arm um seine Schultern legte. Er schnappte sich die Hose und verschwand in dem Räumchen. In Windeseile zog er sich um. Der Vorhang öffnete sich einen Spaltbreit. Markus knöpfte eben den Hosenbund zu.

„Hast du schöne Hände!“ Sie beugte sich zu ihm herunter und ihre langen, kupferrot gefärbten Haare fielen ihr ins Gesicht. „Solch zarte Hände habe ich noch nie an einem Jungen gesehen.“ Die blutrot lackierten Fingernägel berührten fast seine Hand. Markus steckte seine Finger in die Taschen.

„Die erste Hose stand ihm besser! Agathe, wir sollten die Erste nehmen, was meinst du?“ Carla knöpfte ihre Jacke auf.

„Flanell ist im Winter sehr angenehm!“

„Ja, da haben Sie recht!“ Carla reichte der Rothaarigen die übrigen Hosen. „Diese kann er zu allen Anlässen anziehen.“

„Wir nehmen die Dunkelgraue!“ Agathe suchte die Kasse.

Wie der Blitz sauste Markus in die Kabine zurück und entledigte sich der neuen Hose. Er stopfte das Hemd in die Cordhose, streifte den Pulli über und marschierte aus dem Umkleideraum.

„Was machen wir jetzt?“ Agathe reichte ihrer Nichte die Plastiktüte mit der Hose und verstaute ihren Geldbeutel. „Ich brauche unbedingt noch ein paar Puppensachen.“

„Am Bertholdsbrunnen geht ihr ins Spielwarengeschäft. Derweil hol ich beim Ruckmich die Noten und wir treffen uns danach beim Herder.“

„Gute Idee, Carla!“

Unter den Arkaden schoben sich die Menschen. Carla und Agathe bahnten sich einen Weg durch das Gedränge. Markus blieb dicht hinter ihnen. Sie erreichten die Straßenkreuzung mit der modernen Reitergestalt. Die Straßenbahn bimmelte und fuhr langsam vorüber. Carla eilte weiter zum Musikhaus. Markus betrat mit Tante Agathe den Spielwarenladen.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Ein schlanker, junger Herr kam auf sie zu.

„Haben Sie Dampfloks?“ Agathe blickte zu dem glatt rasierten Gesicht des Verkäufers auf.

„Tut mir leid, gnädige Frau. Die führen wir leider nicht. Wir haben nur Modelle von Lokomotiven. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“

Markus heftete sich an seine Fersen. Der junge Mann holte aus einem Regal ein paar Schachteln heraus. Behutsam öffnete er den ersten Karton. Markus entzifferte das Preisschild. Dieser Traum von einer Modellbahnlok war sehr teuer.

„Bub - tut mir leid, aber das sprengt mein Budget!“

„Vielleicht interessiert sich der junge Herr für unsere Modellbahnstrecke?“ Der Mann deutete in die gegenüberliegende Ecke. Markus nickte.

„Ich beeil mich! Bis gleich!“ Agathe stieg die Treppe hinauf.

Markus vernahm das Surren der Züge. Hinter den Regalen war eine Landschaft aufgebaut. Eine blaue Lok zog elegante Wagen auf gewundener Strecke durch ein lang gestrecktes Tal, in dessen Tiefe ein Fluss glitzerte. Auf einem Felsvorsprung ragte eine Kirche aus einem Weiler. Darunter verschwand der glänzende Lindwurm im Tunnel.

Am Ende des Tales mündete der Fluss in einen See, an dessen Ufer Spaziergänger durch einen Park schlenderten. Bellende Hunde sprangen über Rasenflächen. Mütter schoben Kinderwagen. Prächtige Häuser säumten einen Platz vor dem Bahnhof. Auf den Bahnsteigen warteten Reisende auf den Zug. Hoch oben am Hang weideten Kühe bei einem Bauernhof. Hinter dem Gehöft verschwand der Weg im Wald. Markus folgte der Schneise und gelangte ins nächste Tal.

Ein Holzplatz lag neben den Bahngleisen. Arbeiter verluden lange Stämme mit einem Kran auf einen Eisenbahnwagen. Auf dem Gleis daneben raste der elegante Zug vorbei, doch die Arbeiter achteten nicht darauf. Ein Motorrad knatterte zum Bahnhof. Am Fuß des Hangs saßen Gäste in einem Biergarten und schwatzten. Die Kellnerin eilte von Tisch zu Tisch. Der Wirt stand breitbeinig neben der Haustür seiner Wirtschaft. Von der Passhöhe gegenüber näherte sich ein Bus auf kurvenreicher Straße dem Gasthaus.

„Markus, wir können gehen. Ich hab alles erledigt. Bub, hier bin ich!“ Hinter der Bergkette, unter der die blau glänzende Lok in einem Tunnel verschwand, winkte Tante Agathe. Ihre graugrünen Augen beobachteten ihn. „Na, was ist? Reiß dich los, mein Junge, sonst gibt deine Mutter noch eine Vermisstenanzeige auf!“ Sie verließen den Laden und eilten durch die Gassen zur Buchhandlung Herder.

Hinter den Büchern im Schaufenster entdeckte Markus den Rücken seiner Mutter. Ein Kopf neigte sich zur ihr. Markus trat einen Schritt zur Seite. An dem Bildband vorbei konnte er besser in den Laden sehen. Schultz hörte ihr lächelnd zu. Ihre Hände erzählten so erregt, dass ihre Locken auf den Schultern tanzten. Markus rannte an der Fensterfront entlang zum Eingang. „Tschuldigung!“ Er preschte an Agathe vorbei durch die Tür und suchte die Ecke.

Eine Dame sortierte Bücher ins Regal. Auf der anderen Seite blätterte Carla in einem Wälzer. Agathe blieb vor ihr stehen. Schultz war nirgends zu sehen. Markus schaute ins Untergeschoss und lief zu den beiden hinüber.

„Da bist du ja!“ Carla legte das Buch auf den Tisch zurück.

„Wo ist der Schultz?“

„Markus, was soll das?“ Carla wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht.

„Du hast dich mit dem hier verabredet?“

„Sag mal, spinnst du? Ich habe den Kollegen eben ganz zufällig getroffen!“ Wütend drehte sich Carla um und verließ die Buchhandlung. Agathe warf ihm einen warnenden Blick zu und folgte ihr.

Beim Siegesdenkmal überflog Agathe ihren Zettel. „Ich habe alles erledigt!“

„Dann fahren wir! Ich bin froh, wenn wir über den Schwarzwald kommen, bevor es richtig anzieht!“ Carla bummelte an den Schaufenstern vorbei. Dicht hinter ihr schlenderten Markus und Agathe. In der Einkaufspassage stand ein Spiegel vor den Kleiderständern. Markus beobachtete sich und seine Mutter. Trotz seiner langen Beine und dem grazilen Körper wirkten seine Bewegungen schwerfällig wie die eines Bauern neben einer Tänzerin. Carla entdeckte ihr Spiegelbild und lächelte.


Anneles Spruch und die Sauschwänzlebahn

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