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Kapitel 3 - Magalies Entscheidung

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Schwarzer Rauch

Die grüne Muschel verharrte schon eine ganze Weile auf dem Grund des Neuen Meeres. Leathan fühlte sich gedemütigt wie nie zuvor.

Brennende Wut.

Die durchsichtige Schale der stacheligen Muschel gab den Blick auf glühende Brocken frei, die in kurzen Intervallen aus dem Meeresboden ausgeworfen wurden.

Die glühende Masse wuchs zu einem Kegel.

Schwarzer dichter Rauch kochte hoch und umgab die Glut, die das Wasser zum Sieden brachte. Winzige durchsichtige Krebse und kleine Fische schwammen ungerührt in dem glühend heißen Wasser.

Lava, rot und heiß wie die Wut des dunklen Fürsten, wälzte sich über den unebenen Meeresboden hinweg. Sacht hob sich die Muschel, machte sich an den langen Aufstieg.

In den kühleren Bereichen erwarteten ihn wieder die Zuschauer, die seine Erniedrigung mit ansahen. Die wandelbaren Chimären, die er nicht vernichten konnte, weil sie aus Nichts bestanden. Sie waren Wesen ohne Festigkeit. Sein tödlicher Blick konnte an diesem Nichts nicht festhalten, ging durch sie hindurch.

Anders die blöde glotzenden Fische, die sich der Muschel näherten. Sein Blick zurück ließ sie erstarren. Ein kurzer Ruck nur ging durch ihre farbigen Leiber, die sich drehten und im nächsten Moment leblos auf der Wasseroberfläche schlingerten.

Leathan wusste genau, was er tat.

Je mehr dieser Wasserbewohner er tötete, desto sicherer konnte er sein, dass die Wassermänner und grünhaarigen Nixen alles tun würden, um ihn wieder loszuwerden. Wenn er vernichtete, was sie zum Leben benötigten, würden sie dafür sorgen, dass die Muschel ihn so schnell wie möglich entließ.

Noch immer stieg sie nur langsam. Leathans Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.

Plötzlich waren sie überall. Sie schoben und zogen, stemmten sich gegen die stachelige Außenwand. Ganz offensichtlich hatte seine Strategie Erfolg gehabt. Die Nixen hatten sich zusammengerottet. Aber es gelang ihnen nicht, die hermetisch geschlossene Muschel zu öffnen.

„Wir brauchen Hilfe.“

Odine ließ ab von ihren vergeblichen Bemühungen.

„Ohne die Hilfe der Fürstin schaffen wir es nicht, Leathan zu vertreiben. Ich verstehe nicht, warum Elsabe nichts von sich hören lässt. Sie hat versprochen uns zu helfen.“

Leathan sah ihre Hilflosigkeit und konnte sich ein sardonisches Grinsen nicht verkneifen. Die Ironie, dass Magalie ihn jetzt aus dieser Lage befreien musste, in die sie und Annabelle ihn gebracht hatten, entging ihm nicht.

Sie würde den Nixen helfen und damit unfreiwillig auch ihm.

~~~~~

Magalies Zauber

„Ich muss euch stören.“ Elsabe hatte eine ganze Weile gewartet, bevor sie Cybill und Magalie unterbrach. Aber jetzt duldete die Angelegenheit keinen Aufschub mehr. Wie immer hatte das Wohl der Anderswelt Vorrang vor allen anderen Dingen. Elsabe wandte sich an Magalie, die verwirrt zu ihr hochschaute. Sie war in ihre Kindheit abgetaucht, die sie bei ihrem Vater verbracht hatte, ohne zu ahnen, dass Cybill, die sie immer bewundert hatte, ihre Mutter war. Sie war ihr später oft begegnet, aber nie am Hof ihres Vaters und immer nur in ihrer Eigenschaft als Herrscherin der Lichten Welt. „Warum habt ihr mir nie etwas gesagt? Warum hast du mich nie besucht?“

„Dein Vater und ich wollten dich nicht gefährden. Du warst ein wunderbares kleines Mädchen, aber neugierig wie eine Ziege und geschwätzig wie eine Elster. Wenn du mich mit deinem Vater gesehen hättest, wärest du hinter unser Geheimnis gekommen. Und irgendwann hättest du dich verplappert. Glaub mir, es war besser und vor allem sicherer so.“ Magalie sah ein, dass ihre Mutter Recht hatte. Hatte sie nicht das Gleiche mit Faith gemacht? Auch ihre Tochter war ohne Mutter aufgewachsen. Auch sie hatte ihre Tochter beim Vater gelassen, um sie zu schützen. Auch sie hatte Faith im Ungewissen gelassen. Langsam glitt sie in die Gegenwart zurück und nahm Elsabe wahr.

„Ja“?

„Wir müssen reden.“

„Jetzt?“

„Es ist wichtig, es geht um Leathan.“ Magalies Körper spannte sich augenblicklich. Ihre gesamte Aufmerksamkeit wandte sich Elsabe zu. „Ich habe mit Odine gesprochen.“ Die Hexe berichtete, was die Nixen befürchteten.

„Er wird alles Leben töten. Die Nixen nehmen sich nur die Nahrung, die sie benötigen. Leathan allerdings schlägt um sich und tötet zum Vergnügen.

Aber natürlich“, fügte Elsabe hinzu, “tut er das auch, um dich zu veranlassen, ihn zu befreien. Er weiß genau, dass du nicht dulden kannst, was er macht.“

Erwartungsvoll sah sie die Freundin an. Wie würde sich Magalie entscheiden, was konnte sie tun? Leathan freizulassen wäre tollkühn und unverantwortlich. Die grüne Muschel andererseits war auch keine Lösung auf Dauer.

Denn dieses unbeseelte Wesen würde sich irgendwann öffnen und Leathan entlassen. Unberechenbar wie die grüne Hülle, die den dunklen Fürsten jetzt barg, war auch Leathans Reaktion nicht vorhersehbar.

Chaos.

Schon einmal hatte er ihre schöne Welt beinahe zerstört. Sie sah noch die lodernden Flammen, in denen der Palast der alten Herrscher aufging und zerfiel.

Leathans Lust an der Zerstörung, Magalies unbändige Wut, mit der sie Leathan am Ende in die Flucht geschlagen hatte.

Das Zeichen der Macht allerdings hatte er damals gefunden und mitgenommen.

Für den Moment war er geschlagen, aber noch war die Lichte Welt nicht sicher vor seiner Machtgier.

Leathan war intelligent und verfügte, auch ohne das Medaillon, zweifellos immer noch über mehr Magie, als ihnen lieb sein konnte.

Magalie musste eine Entscheidung treffen, sofort.

Sie konnte nicht dem Zufall überlassen, wann der Dunkelalb sein Gefängnis verließ. Wäre er unbeobachtet, wenn die Muschel ihn entließ, könnte er von neuem versuchen, sich der Lichten Welt zu bemächtigen.

Nein, es war höchste Zeit etwas zu unternehmen, jetzt.

Die alte Herrscherin und die Hexe sahen, wie es in Magalie arbeitete. Ganz unbewusst griff sie nach der Kette, die in ihrem Ausschnitt verschwand, ließ sie wieder los, griff wieder danach.

Wie schön sie ist, dachte Robert.

Er stand noch immer da, wo sie ihn verlassen hatte, um ihre Mutter zu begrüßen. „Ich habe unsere Tochter nach Hause gebracht“, hatte sie ihm zugeflüstert, als sie in seinen Armen lag.

„Sie war so verwirrt, das arme Kind. Ich hoffe es geht ihr gut. Sie wird vergessen und an deine Rückkehr glauben.“

Er wusste, dass die Feen die Gabe besaßen, den Geist der Menschen zu verwirren. Verzaubert würden diese paradiesische Gärten wahrnehmen, wo andere nur Müllhalden sahen. Sie würden Hitze spüren bei klirrender Kälte, Regen auf der Haut in der Wüste. So würde Faith’ Angst um ihn der Zuversicht weichen, ihn wiederzusehen.

Der Wille der Feen.

„So ist es am besten für sie.“

Robert war da nicht so sicher.

Er widersprach Magalie nicht, weil er wusste, dass seine Tochter ihn bald wiedersehen und sich dann ihr Gefühl mit der Wirklichkeit decken würde.

Magalie sah ihm an, dass das, was sie getan hatte, nicht seine uneingeschränkte Zustimmung fand. Sie lächelte zärtlich, hob ihr Gesicht, um ihm in die Augen zu sehen.

„Liebster, ich weiß, was du denkst. Du glaubst nicht, dass es gut ist, die Gedanken anderer zu beeinflussen. Ich wollte es Faith leichter machen. Diese Gabe zu besitzen, verführt auch dazu, sie anzuwenden! Wenn unsere Tochter dich wiedersieht, wird ihre Erinnerung zurückkehren.“

Damit hatte sie sich aus seinen Armen gelöst und war auf Cybill zugegangen.

~~~~~

Robert und Faith

„Ich hab sie beschimpft und versucht sie zu schlagen.“ Faith hatte Tränen in den Augen. „Ich schäme mich so.“

„Deine Mutter hat dir längst verziehen.“

Robert saß neben Faith auf dem alten Sofa im Kaminzimmer. Die hohen Fenstertüren standen weit offen. Der Rasen, der mehr aus Moos als aus Gras bestand, wirkte wie eine weiche grüne Samtdecke. Durch die frühlingsgrünen Blätter der Bäume flimmerten Sonnenstrahlen, die goldene Flecken auf den Boden malten. Die Vögel überboten sich mit hellem fröhlichem Gezwitscher.

Endlich war Robert zurück in seiner Welt und damit kehrte Faith’ Erinnerung wieder.

Auf seinem Laptop hatte er gleich mehrere Einladungen vorgefunden. Er würde verreisen müssen, um mit seinen Verlegern zu sprechen.

Jetzt war Faith so selbstständig, dass er sie alleine lassen konnte. Gerne tat er das allerdings immer noch nicht. Obwohl er wusste, dass Leathan in der Muschel gefangen war, war die Sorge um das, was der dunkle Fürst seiner Tochter antun könnte, wenn er frei wäre, immer noch groß. Aber da er wusste, dass die Lichte Welt ihren Gefangenen nicht aus den Augen lassen würde, redete Robert sich gut zu. Faith schwebte nicht in Gefahr.

„Ich muss für ein paar Tage weg, die üblichen Besprechungen mit Verlagen. Es geht um ein neues Buch, du weißt schon. Glaubst du, dass du schon alleine bleiben kannst?“

„Natürlich, ich bin doch kein kleines Kind mehr.“

Er lächelte. Nein allerdings, ein kleines Kind war sie nicht mehr. Seine Tochter war erwachsen geworden. Der gefährliche Ausflug in die Anderswelt und nicht zuletzt ihre Liebe zu Richard hatten sie vom Mädchen zur jungen Frau werden lassen.

„Trotzdem wäre es mir lieber, wenn jemand bei dir wäre.“

„Wer soll das sein, willst du einen Babysitter für mich einstellen?“

Faith grinste ihren Vater liebevoll und zugleich spöttisch an.

„Nein, daran hatte ich nicht gedacht. Vielleicht könntest du Lisa oder Valerie oder alle beide hierher einladen. Ich bin sicher, dass Frau Dr. Kirchheim-Zschiborsky nichts dagegen hätte, wenn deine Freundinnen ein paar Tage hier in der Villa schliefen.”

„Wenn du dich da mal nicht täuschst“, lachte Faith. “Die „Kirchheim“ wird noch ganz schön lange brauchen, um sich davon zu erholen, dass wir alle über Wochen verschwunden waren.”

„Und wenn du im Internat…?“

„Kommt nicht in Frage. Ich war lange genug von zu Hause weg. Ich will hier bleiben. Dann frag lieber deine Annegret, ob sie Lisa und Valerie erlaubt, bei mir zu schlafen.“

„Meine Annegret“, brummte Robert gespielt empört. Er wusste sehr wohl, dass die Freunde seiner Tochter sich über die offensichtliche Zuneigung der Direktorin zu ihm amüsierten.

„So erwachsen bist du noch nicht, dass du dich über deinen alten Vater lustig machen darfst.“

Nachdem Robert endlich den Mut gefunden hatte, durch die Feuersäule zu gehen, war er glücklich wieder bei seiner Tochter zu sein.

Magalie hatte ihn auf Chocolat, ihrem riesigen braunen Wallach, bis zur alten Eiche begleitet, die am Ende seines Grundstücks stand. Dieser uralte gewaltige Baum war für ihn das Portal in die Anderswelt.

Wie ein Wächter stand neben der Eiche die Zaubernuss. Ein kleiner Busch, dessen Blüten erst mitten im Winter im Schnee golden glühten. Der mächtige Stamm des von Flechten überzogenen Baumriesen war am Fuß zweigeteilt und wuchs in etwa zwei Metern Höhe wieder zusammen. Man konnte durch den Stamm, wie durch eine Tür, den Wald dahinter betreten. Wenn aber die Wesen der Anderswelt es erlaubten und derjenige, der durch das Portal ging, bereit war zu sehen, fand er sich nicht im Wald wieder. Er trat ein in eine rätselhafte zauberhafte Spiegelwelt.

Hier war Roberts Treffpunkt mit Magalie.

Wenn er die Wolke aus azurblauen Schmetterlingen sah, wusste er, dass sie in der Nähe war, dass sie für ihn dieses Tor geöffnet hatte.

~~~~~

Richards Sehnsucht

„Du wirst immer besser.” Nathan sah seinen Schüler aufmerksam an.

Richard wischte sich den Schweiß von der Stirn und warf das Handtuch neben sich auf die Bank, auf die er sich nach dem spielerischen Waffengang mit seinem Lehrer hatte fallen lassen.

„Danke.“

Abwesend starrte er in die riesige halbrunde steinerne Halle. Was tat er hier? Er liebte das Licht, die Sonne, blühende Wiesen und er liebte Faith.

Graue Mauern.

Alles hier war gewaltig. Wie jede Stadt in der Schattenwelt war auch dieser Raum dem Fels abgerungen.

Die Lavatiden, die Arbeiter seines Vaters, hatten wahre Wunder vollbracht. Hier unten gab es hohe Felsen und feuchte Moore, beides ungeeignet für den Bau von Wohnstätten. Dennoch waren über Jahrhunderte Dörfer und Städte für die Wesen dieser Welt entstanden.

Sein Vater hatte einen deutlichen Hang zum Monumentalen. In dieser Arena hätten auch dreihundert der Elfen seines Vaters an den Waffen üben können.

Aber Nathan und er waren allein.

Hätte er den vertrauten Lehrer nicht bei sich gehabt, wäre Richards Verzweiflung noch größer gewesen.

Nathan war für ihn, seit er drei Jahre alt war, mehr Vater gewesen als Leathan. Der Hüne war einfühlsam und Richard fühlte sich beschützt, angenommen und sogar geliebt. Gefühle, die er in der Gegenwart seines Vaters nicht kannte.

Müde fuhr er sich durch das dichte dunkle Haar.

Wo mochten all die sein, die in den letzten Monaten sein Leben geteilt hatten? In Waldeck hatte er Freunde gefunden. Menschliche Freunde, keine Elfen oder Trolle und auch keinen Wolf wie „Murat“.

Seit Richard von Leathan in die Schattenwelt verbannt worden war, hatte er „Murat“ nicht mehr gesehen.

Er vermisste ihn.

Wenn sein Vater das Tier nicht rief, war der Wolf an Richards Seite zu finden.

Der Junge hatte ihm das Leben gerettet, nachdem Leathan ihn geschlagen und getreten hatte. Eine lange Narbe, von den Lefzen bis zum Auge, zeugte von der Brutalität des Dunklen Fürsten.

Davon, dass sein Sohn in der Lage war mit Murat zu kommunizieren, hatte der Dunkelalb keine Ahnung. Er wusste auch nichts von der suggestiven Kraft, die sein Sohn besaß. Richard besaß die Fähigkeit, andere etwas sehen oder spüren zu lassen, was eigentlich nicht existierte.

Richard dachte nicht nur an Faith. Auch Ben, mit dem er einige gefahrvolle Abenteuer geteilt hatte, oder Lisa, dessen Freundin, fehlten ihm.

Ach ja, die ganze Bande wollte er wiedersehen. Lena, Laura, Lara und die drei vergnügten begabten Freunde der Mädchen, Noah, Paul und Adam, die Lisa nur kurz das „Sixpack“ nannte.

Jamal mit der schwarzen Haut und Christian. Die Indischen Zwillinge Viktor und Valerie und deren Freund Bruno.

Faith’ Freunde waren auch seine Freunde geworden.

Er hatte sich nie im Leben so leicht und glücklich gefühlt wie während der kurzen Zeit in Waldeck.

Es war immer sein Wunsch gewesen, auf eine Schule zu gehen, und Leathan hatte es ihm unter einer Bedingung erlaubt: Er sollte ihm Faith bringen.

Nur Faith, die Tochter Magalies, sollte, einer Prophezeiung zufolge, Leathan die Macht nehmen können. Richard hatte der Bedingung seines Vaters zugestimmt, ohne zu ahnen, dass er sich unsterblich in das Mädchen verlieben würde. Vom ersten Moment an tat er alles, um Faith vor seinem Vater zu schützen. Seine Strafe für diesen Verrat war die Verbannung in die Schattenwelt.

Als ihm Madame Agnes einfiel, stiegen Tränen in seine Augen. In Waldeck hatte er auch seine Großmutter wiedergefunden, die er für tot gehalten hatte. Weder Leathan noch Annabelle hatten ihn darüber aufgeklärt, dass sie noch lebte. Nachdem seine Mutter Agnes bei seiner Geburt gestorben war, hatte er einige Monate bei seiner Großmutter gelebt, bis Leathan ihn von dort entführt und in seine Welt mitgenommen hatte.

Solange Leathans Bann wirkte, würde Richard die Schattenwelt nicht mehr verlassen können. Er musste einen Ausweg finden.

Nathan sah seinem Schüler an, dass er unglücklich war. Warum das so war, war nicht schwer zu erraten.

Nathan lächelte. Der Kleine war groß geworden und hatte sich zum ersten Mal verliebt.

Feuerhaar.

Magalies rothaarige Tochter war entzückend, er konnte Richard verstehen. Nathan konnte auch verstehen, warum Richard sich in dieses Mädchen verliebt hatte.

Sie ist ein Mensch wie er, dachte Nathan.

Keine der schönen launenhaften Feen hatte es dem Sohn des dunklen Fürsten bisher angetan. Oh, sie hatten versucht ihn zu umgarnen. Er war schließlich der Sohn des Fürsten und ein äußerst attraktiver junger Mann. Aber diese grazilen flatterhaften Geschöpfe konnten ihn nicht verführen.

„Vergiss es.“ Nathan schien seine Gedanken lesen zu können „Es gibt keine Möglichkeit zu fliehen. Aber dein Vater wird den Bann wieder aufheben.“

Richard lachte gezwungen auf „Oh ja, irgendwann, sobald er mich braucht.“

Wenn Leathan auftauchte, würde er versuchen ihn zu erweichen. Aber wie er seinen Vater kannte, standen seine Chancen nicht gut.

„Lass uns gehen, Maia wird mit dem Essen auf uns warten.“

Nathan trieb ihn zur Eile.

Richard musste lachen. Er wusste genauso gut wie Nathan, dass sie sehr ungehalten werden konnte, wenn ihre Geduld zu sehr strapaziert wurde. Langes Warten war ihr verhasst und Nathan fürchtete, wie jeder hier, ihren Zorn.

„Lach nicht“, grummelte sein Lehrer, „die Frau ist gefährlich, wenn sie ärgerlich wird.“

Grinsend ging Richard in Richtung des kleinen Wasserfalls, der am Ende der Halle aus dem Felsen hervorschoss. Er stellte sich unter das eiskalte Wasser und schloss die Augen.

~~~~~

Madame Agnes

Wolle saß ohne Halsband heulend vor dem hohen Eisengitter, das den Hof des Internats zur Straße hin abschloss. Madame Agnes lief leise vor sich hin schimpfend durch Waldeck. Die Leine des Hundes, an deren unterem Ende das Halsband noch hing, hielt sie in der Hand. Das Hündchen, wie sie ihn immer noch nannte, war inzwischen groß wie ein Kalb und kaum zu bändigen. Sie ahnte, wohin er gelaufen war, und marschierte festen Schrittes Richtung Schule.

„Na warte“, murmelte sie in sich hinein.

Es war nicht das erste Mal, dass Wolle sich losgerissen hatte, um die Freunde ihres Enkels Richard zu suchen.

Und richtig, sie hörte ihn schon, bevor sie ihn sah. Lisa und Ben kamen zur gleichen Zeit wie Madame bei Wolle an, der sich vor Freude über dieses Zusammentreffen unentwegt um sich selbst drehte. Sein gesamter drahtiger Körper wedelte und sprang abwechselnd an Ben und Lisa hoch. Nachdem er sich fertig gefreut hatte, tapste er zu Madame Agnes und leckte ihr ergeben die Hand. Seine klugen Hundeaugen sahen um Verzeihung bettelnd zu ihr hoch. Dann setzte er sich und ließ sich brav das Halsband wieder über den Kopf ziehen. „Das ist viel zu locker.“ Lisa griff nach dem Lederband und zog es fester.

„Das arme Hündchen“, jammerte Madame.

Ben lachte. „Das ist kein Hündchen mehr, das ist eine riesige Nervensäge. Ich komme morgen und hole ihn ab“, versprach er. „Dann kann er sich mal wieder richtig austoben.“

„Ach Ben, das ist wirklich nett, manchmal ist Wolle furchtbar anstrengend.“

Madame Agnes sah Lisa und Ben forschend an.

„Habt ihr noch was von Richard gehört?“

Faith war gleich nach ihrer Entlassung aus Schwester Dagmars Obhut zu Madame Agnes gegangen. Die alte Dame hatte ein Recht darauf, so schnell wie möglich von ihrem Enkel zu hören. Nur leider waren die Neuigkeiten, die Faith mitbrachte, nicht gerade ermutigend. Sie hatte versucht, ihre Worte so zu wählen, dass sie nicht allzu beunruhigend klangen.

Aber wie konnte man das, was Richard geschehen war, tröstlich klingen lassen. Madame riss sich zwar zusammen, aber Faith spürte, wie nahe ihr das Schicksal ihres Enkelsohnes ging.

Verbannt in der Schattenwelt!

Dass Leathan ihn geschlagen und sogar getreten hatte, verheimlichte Faith ihr lieber.

Madame wusste, wie gerne sich ihr Enkel im Freien in der Sonne aufhielt. Faith hatte die Welt unter der Festung Leathans, die das Portal zur Schattenwelt bildete, nie gesehen. Deshalb wiederholte sie wörtlich das, was Richard ihr erklärt hatte: „Der größere Teil von Leathans Land liegt im Innern der Erde. Dort hat Richard die meiste Zeit seiner Kindheit verbracht.

Da scheint kein goldener Mond. Nur eine phosphorblaue Kugel, groß wie die Sonne, deren kaltes Dämmerlicht die „Schattenwelt“ kaum erhellt.“

Nein, das konnten sich weder Madame noch Faith wirklich vorstellen, aber es klang schrecklich.

„Wir werden ihn wiedersehen.“ Faith versuchte mehr Zuversicht in ihre Stimme zu legen, als sie selbst empfand.

„Es ist lieb, dass du mich trösten willst, mein Kind.“

Ihre Französischlehrerin hatte Faith’ Hand getätschelt und sich erhoben.

„Wenn du mir einen Gefallen tun willst, lass mir deinen Hund noch wenig. Er ist ein so liebes Tier.“

Auch wenn Wolle, den Lisa Faith zu ihrem siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte, sie manchmal überforderte, war es doch ein Trost, diesen fröhlichen jungen Hund um sich zu haben. Zumal die Freunde ihres Enkels ihn regelmäßig mit in den Wald nahmen damit er sich richtig austoben konnte. Madame hatte ihn zu sich genommen, nachdem Robert in die Anderswelt entführt worden und Faith auf der Suche nach ihrem Vater ebenfalls dorthin verschwunden war. Solange die alte Villa verwaist war, musste jemand für Wolle sorgen.

Als Ben am nächsten Tag bei Madame Agnes klingelte, hörte er schon das aufgeregte Bellen im Inneren der Wohnung. Wolle wusste genau, dass für ihn die Stunde der Freiheit geschlagen hatte.

Nachdem sie Waldeck hinter sich gelassen hatten, befreite Ben den Hund von seinem Halsband und rannte mit ihm in den Wald. Er wollte die drei oder vier Kilometer bis zu Roberts alter Villa laufen.

Ben war ein guter Läufer, obendrein der beste Sportler der Schule. Wolle lief begeistert neben dem Jungen her, verschwand gelegentlich wie der Blitz zwischen den Bäumen, um gleich darauf mit hängender Zunge wieder zu erscheinen.

Und dann war der Hund endgültig weg. Er weiß, wohin wir laufen, dachte Ben. Wenn ich bei Faith ankomme, ist Wolle längst dort.

Robert hatte gerade die Gartenmöbel weg von dem leicht modrig riechenden Teich unter den Birken auf den Rasen gestellt, als er den Wolf sah.

„Murat?“

Gespaltenes Gesicht.

Ja, das war Leathans Wolf. Der Wolf, in dessen Gesellschaft er aus dem Feental geflüchtet war. Er hatte ihm den Weg gezeigt, den er gehen musste, um Leathan zu entkommen. Der dunkle Fürst glaubte an den bedingungslosen Gehorsam des Tieres und ahnte nicht, dass Murat, seit Richard ihm das Leben gerettet hatte, nur diesem treu ergeben war.

Was tat er hier?

Murat setzte sich in Bewegung, als sich hinter Robert die Küchentür auftat und Faith mit einem Tablett in den Händen erschien. Fast hätte sie es fallen lassen, als sie den Wolf sah. Vorsichtig setzte sie das Tablett auf dem Gartentisch ab und ging in die Hocke.

Als Ben aus dem Wald trat, zeigte sich ihm folgendes Bild: Robert beobachtete seine Tochter, die völlig versunken in den Anblick eines großen dunkelgrauen Wolfes auf der Erde hockte. Auf der anderen Seite der Wiese war Wolle zu einem Standbild erstarrt.

Er stand, eine Pfote erhoben, den Kopf weit vorgestreckt, unbewegt am Rande des Waldes.

„Sag ihm, dass ich komme“, flüsterte Faith und legte Murat sacht die Hand zwischen die Ohren.

Hochbeinig stakste der Wolf auf den Wald zu. Als er an seinem domestizierten Verwandten vorbeikam, wandte er den Kopf, sah den zitternden Wolle arrogant an, um gleich darauf mit seiner Umgebung zu verschmelzen.

Endlich löste sich Wolle aus seiner Erstarrung und lief auf Faith zu. Aufgeregt schnupperte er an ihren Fingern, die noch den scharfen Geruch des Wolfes trugen.

„Trinkst du mit uns Kaffee?“

Faith stand auf und begrüßte Ben mit einer Umarmung.

Bens Blick blieb an dem goldgelben Zuckerkuchen auf dem Tisch hängen.

„Wenn ich dazu ein Stück davon bekommen könnte…“

Robert lachte. „Ich weiß nicht, woran es liegt, aber immer, wenn wir gebacken haben, kommt wie zufällig einer von euch daher und frisst uns alles weg.“

Faith schnaubte. „Hast du gesagt, wenn wir gebacken haben?“

„Ich habe den Kuchen rechtzeitig aus dem Ofen geholt.“

„Ha.“

Seine Tochter würdigte ihn keiner weiteren Antwort.

„Was hat Murat „gesagt“?“

Robert wurde ernst und sah Faith sorgenvoll an.

Er wusste genau wie alle anderen, die in der Anderswelt gewesen waren, dass das Tier in der Lage war, Bilder und Gedanken aufzunehmen und weiterzugeben. Ben und Robert sahen Faith gespannt an. Dass Murat jetzt kam, konnte kein Zufall sein.

„Richard ist noch immer in der Schattenwelt und Leathan befindet sich auf dem Grund des Neuen Meeres.” Faith wich dem Blick ihres Vaters aus. Das, was sie selbst gesagt hatte, verschwieg sie ihm.

Robert kannte seine Tochter gut.

Sie würde ihm nichts weiter sagen und drängen ließ sie sich nicht. Aber sie verschwieg ihm etwas, das spürte er.

Umso überzeugter war er, dass er sie nicht alleine lassen konnte.

„Bin gleich wieder da.“

Robert stand auf und ging ins Haus. Er betrat sein Arbeitszimmer, griff zum Telefon und wählte die Nummer der Direktorin. „Annegret…?

~~~~~

Magalies Entscheidung

Die Trennung von Robert war ihr schwer gefallen. Aber das, was jetzt auf sie zukam, ließ der Fürstin keine Wahl. Magalie war froh darüber, dass ihre Tochter und ihr Geliebter wieder in der Sicherheit ihrer eigenen Welt waren.

Kaum hatte sie sich von Robert getrennt, waren die schwarzen Horden über sie hergefallen.

Die dunklen Reiter Leathans hatten sie umzingelt.

Die Dunkelalben mit den seltsam toten Augen hatten sie festgehalten und von ihr die Herausgabe ihres Fürsten verlangt.

Sie hätte nicht einmal den Hauch einer Chance gehabt, Robert zu schützen, wenn er bei ihr gewesen wäre. Elsabe hatte die Gefahr gespürt, in der sie sich befand. Magalie war nicht aufmerksam genug gewesen.

Zu sehr war sie noch in Gedanken bei Faith und Robert.

Sie hatte nicht auf das Klopfen des Rubinherzens an ihrer Brust geachtet. Hatte es für das Klopfen des eigenen Herzens gehalten, das den Trennungsschmerz kaum aushielt.

Das schrille Kreischen der Hexen war ohrenbetäubend. Allein dieser hohe Ton, der wie ein Tornado in die Ohren fuhr, verursachte unendliche Qualen. Die Angreifer rissen die Arme hoch, um sich abzuschirmen.

Diesen kurzen Moment nutzte Magalie.

Das Rubinherz in dem jetzt geöffneten Medaillon glühte auf und lähmte die Elfen mit seinem blendenden roten Leuchten.

„Versinkt in der Schattenwelt.“

Mit donnerndem Getöse öffnete sich die Erde, nahm die schwarzen Reiter mit ihren Rappen auf und schloss sich über ihnen.

Langsam erlosch das Glühen und Magalie schloss das magische Medaillon.

Elsabe und ihre Schwestern flogen immer noch wie ein Schwarm wütender Hornissen, um auch die letzte der dunklen Gestalten aufzuspüren. Atemlos landete Elsabe vor Magalie.

Mit Pfeil und Bogen bewaffnet waren die Hexen ein todbringendes Heer. Jeder Schuss traf und brachte ein schnelles, äußerst schmerzhaftes Ende. Die Spitzen der Pfeile trugen ein Gift, so wirksam wie das der Seewespe. Wie die Hexen es mischten, blieb ihr Geheimnis.

„Warum?“

Magalie verstand Elsabes Frage sofort.

„Du willst wissen, warum ich sie laufen ließ?“

Sie sah den Willen zu morden in Elsabes eiskalten blauen Augen.

„Weil ich keinen Sinn in diesem fortgesetzten Töten sehe. Wir müssen einen anderen Weg finden.“

„Aber sie werden sich sammeln und wiederkommen.“

„Mag sein.“

Magalie sah nachdenklich auf die mordlüsternen Hexen. Eine Armee von streitbaren aufgebrachten Frauen, die zu ihrem Schutz angetreten waren. Aber sie sah nicht nur die Bereitschaft sie zu schützen, sondern auch die Lust zu töten. In ihren dunklen Augen loderte pure Mordlust, nicht nur der Wille, ihre Fürstin zu retten.

„Ich werde sie wieder wegschicken und wieder und immer wieder, bis sie begreifen, dass es keinen Kampf geben wird. Was soll aus unserer schönen Welt werden, wenn wir uns gegenseitig umbringen. Nein, ich will das nicht mehr, keine kriegerischen Auseinandersetzungen.“

„Das wird nicht funktionieren.“

Elsabe schüttelte den Kopf.

Magalie schwieg und gab ihrem Pferd ein Zeichen.Chocolat preschte davon.

Die Hexen flogen, Pfeil und Bogen schussbereit in den Händen, über dem gewaltigen schokoladenbraunen Wallach und seiner rothaarigen Reiterin dahin.

Die dunklen Elfen, die den Hexen nicht entgangen waren, lösten sich bereits auf.

Silberner Staub, den der Wind verwehte.

Nachdem Magalie sicher ihre schier endlosen Obstplantagen erreicht hatte, drehten die Hexen ab, um zu den Grotten zurückzukehren.

Blau flatternde Gewänder.

Müde lenkte Magalie den Braunen zu den ausgedehnten Ställen, die neben dem einladenden Wohngebäude lagen.

Kein fröhlich plappernder Oskar kam ihr entgegen. Der kleine Kerl fehlte ihr. Wo mochte er jetzt sein?

Faith und Richard

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