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4 Ich lerne lügen

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»Hier«, sagte Grandmère Catherine zu Paul, »pressen Sie sich das mit der einen Hand auf die Wange und das da mit der anderen auf die Lippen.« Sie reichte ihm zwei warme Tücher, die sie mit einer ihrer geheimen Salben eingeschmiert hatte. Als Paul die Tücher nahm, sah ich, daß auch die Knöchel seiner rechten Hand verfärbt und zerschrammt waren.

»Sieh dir nur seine Hand an, Grandmère«, rief ich aus.

»Das ist nichts weiter«, sagte Paul. »Als ich mich auf dem Fußboden herumgewälzt habe...«

»Auf dem Fußboden herumgewälzt? Beim Fais Dodo?« fragte Grandmère. Er nickte und fing dann an zu erzählen.

»Wir haben Gumbo gegessen und...«

»Pressen Sie sie fest drauf«, ordnete sie an. Solange er sich das Tuch auf die Lippen drückte, konnte er nicht reden, und daher begann ich an seiner Stelle zu reden.

»Es war Turner Browne. Er hat eine Gemeinheit nach der anderen gesagt, und das nur, um vor seinen Freunden anzugeben«, berichtete ich ihr.

»Was für Gemeinheiten waren das?« erkundigte sie sich.

»Du weißt schon, Grandmère. Bosheiten eben.«

Sie starrte mich einen Moment lang an und sah dann Paul an. Es war nicht leicht, Grandmère Catherine etwas vorzuenthalten. Solange ich zurückdenken konnte, hatte sie verstanden, Menschen tief ins Herz zu schauen.

»Er hat gehässige Bemerkungen über deine Mutter gemacht?« fragte Grandmère. Ich wandte den Blick ab, was eine gute Art war, ja zu sagen. Sie holte tief Atem, preßte sich die Hand aufs Herz und nickte. »Das wird niemals aufhören. Die Leute klammern sich an harte Zeiten, die andere durchgemacht haben, fest wie Moos an feuchtes Holz.« Sie schüttelte noch einmal den Kopf und schlurfte davon, ohne die Hand von ihrem Herzen zu nehmen.

Ich sah Paul an. Seine traurigen Augen sagten mir, wie leid es ihm tat, daß er die Selbstbeherrschung verloren hatte. Er wollte das Tuch schon von den Lippen nehmen, um mir das zu sagen, aber ich legte schnell meine Hand auf seine. Paul lächelte mich mit den Augen an.

»Drück es fest drauf, wie Grandmère gesagt hat«, sagte ich zu ihm. Sie sah sich noch einmal nach uns um. Ich ließ meine Hand auf seiner liegen und lächelte. »Er war sehr tapfer, Grandmère. Du weißt ja, wie groß und kräftig Turner Browne ist, aber Paul war das egal.«

»So sieht er auch aus«, sagte sie kopfschüttelnd. »Dein Grandpère Jack war nicht allzu anders und ist es bis heute nicht. Ich wünschte, ich hätte einen Penny für jeden Salbenwickel bekommen, den ich ihm aufgelegt habe, um die Verletzungen zu behandeln, die er sich bei seinen Raufereien zugezogen hat. Einmal ist er nach Hause gekommen, und sein rechtes Auge war zugeschwollen, und ein anderes Mal ist ihm ein Stück von seinem Ohr abgebissen worden. Man hätte meinen können, daraufhin überlegt er es sich zweimal, ehe er sich auf weitere Auseinandersetzungen einläßt, aber von wegen. Als der gesunde Menschenverstand verteilt worden ist, hat er in der Schlange ganz hinten angestanden«, schloß sie.

Der Regen, der auf unser Blechdach getrommelt hatte, ließ nach, bis wir nur noch einzelne Tropfen plätschern hörten und der Wind hatte sich beträchtlich gelegt. Grandmère öffnete die Lattenläden, damit wieder eine Brise durchs Haus wehen konnte. Sie holte tief Atem.

»Ich liebe den Geruch des Bayou nach einem starken Regen. Dann ist alles so frisch und sauber. Ich wünschte, auf Menschen würde ein Regenguß genauso wirken«, sagte sie und seufzte tief. Ihre Augen waren immer noch finster und besorgt. Ich hatte sie nie zuvor so traurig und müde erlebt. Eine Art lähmender Taubheit packte mich, und einen Moment lang konnte ich nur dasitzen und meinem Herzschlag lauschen. Plötzlich überlief Grandmère ein Schauer, und sie schlang die Arme um sich.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Grandmère?«

»Was? Ja, sicher. Mir geht’s gut«, sagte sie und ging wieder zu Paul. »Lassen Sie sich ansehen.«

Er nahm die Tücher von den Lippen und der Wange, und sie musterte kritisch sein Gesicht. Die Schwellung war zurückgegangen, aber seine Wange war noch rot, und die Unterlippe, die Turner Brownes Faust gespalten hatte, war noch dunkel verfärbt. Grandmère Catherine nickte, ging dann zum Eisschrank und hackte einen kleinen Brocken Eis ab, den sie in einen anderen Waschlappen steckte.

»Hier«, sagte sie, als sie zurückkam. »Halten Sie sich das an die Wange, bis es Ihnen zu kalt wird, und dann drücken Sie es sich auf die Lippe. Wechseln Sie ständig ab, bis das Eis geschmolzen ist, verstanden?«

»Ja, Ma’am«, sagte Paul. »Ich danke Ihnen. Es tut mir leid, daß all das passiert ist. Ich hätte Turner Browne einfach nicht beachten sollen.«

Grandmère Catherine ließ ihren Blick einen Moment auf ihm ruhen, und dann wurden ihre Züge gelöster.

»Manchmal kann man Dinge nicht einfach übersehen; manchmal gibt das Böse von allein einfach keine Ruhe«, sagte sie. »Aber das heißt nicht, daß ich Sie in weitere Schlägereien verwickelt sehen möchte«, warnte sie ihn. Er nickte gehorsam.

»Dazu wird es nicht kommen«, versprach er.

»Hm«, sagte sie. »Ich wünschte, ich hätte noch einen weiteren Penny für die vielen Male bekommen, die mein Mann mir dasselbe Versprechen gegeben hat.«

»Ich halte meins«, sagte Paul stolz. Das gefiel Grandmère, und jetzt lächelte sie endlich.

»Wir werden es ja sehen«, sagte sie.

»Ich sollte jetzt besser gehen«, bemerkte Paul und stand auf. »Noch einmal vielen Dank, Mrs. Landry.«

Grandmère Catherine nickte.

»Ich bringe dich noch zum Wagen, Paul«, sagte ich. Als wir auf die Veranda traten, sahen wir, daß es kaum noch regnete. Der Himmel war zwar noch finster, aber der Schein der nackten Glühbirne, die über der Veranda baumelte, warf einen Streifen blasses weißes Licht auf Pauls Wangen. Er preßte sich die Eispackung immer noch auf die Wange, als er meine Hand in seine freie Hand nahm und wir über den Weg liefen.

»Es ist mir schrecklich unangenehm, daß ich dir den Abend verdorben habe«, sagte er.

»Du hast ihn mir nicht verdorben; es war Turner Brownes Schuld. Und außerdem haben wir vorher schon eine ganze Weile miteinander getanzt«, fügte ich hinzu.

»Das hat Spaß gemacht, findest du nicht auch?«

»Weißt du«, sagte ich, »das war mein erstes echtes Rendezvous.«

»Wirklich? Ich habe immer geglaubt, dir rennt ein ganzer Schwarm von Jungen die Tür ein und mit mir würdest du kein Wort reden«, gestand er. »Es hat mich meinen gesamten Mut gekostet, mehr Mut, als ich aufbieten mußte, um mich auf Turner Browne zu stürzen, damals am Nachmittag in der Schule auf dich zuzugehen und dich zu fragen, ob ich dich nach Hause bringen und deine Bücher tragen darf.«

»Ich weiß. Ich erinnere mich noch daran, wie deine Lippen gezittert haben, aber ich fand es einfach entzückend.«

»Wirklich? Also, wenn das so ist, dann bleibe ich eben weiterhin der schüchternste junge Mann, der dir je begegnet ist.«

»Solange du nicht zu schüchtern dazu bist, mich ab und zu zu küssen«, erwiderte ich. Er lächelte und schnitt vor Schmerz eine Grimasse, weil er die Lippen beim Lächeln verzogen hatte. »Armer Paul«, sagte ich und beugte mich vor, um ihm einen zarten Kuß auf den schmerzenden Mund zu drücken.

Er hatte die Augen noch geschlossen, als ich den Kopf zurückzog. Dann öffnete er sie wieder.

»Das ist das beste Heilmittel, noch besser als die Wundersalben deiner Großmutter. Ich werde jeden Tag vorbeikommen müssen, um mich weiterhin von dir behandeln zu lassen«, sagte er.

»Das wird dich etwas kosten«, warnte ich ihn.

»Wieviel?«

»Deine unsterbliche Ergebenheit«, erwiderte ich. Seine Augen hefteten sich auf mich.

»Die hast du bereits, Ruby«, flüsterte er, »und sie wird immer dir gehören.«

Dann beugte er sich vor, mißachtete den Schmerz und küßte mich auf die Lippen.

»Komisch«, sagte er, als er die Tür seines Wagens aufmachte, »aber selbst mit der geschwollenen Wange und der gespaltenen Lippe finde ich immer noch, daß das einer der schönsten Abende meines Lebens war. Gute Nacht, Ruby.«

»Gute Nacht. Vergiß nicht, dir das Eis auf die Lippen zu pressen, wie Grandmère angeordnet hat.«

»Ich werde es nicht vergessen. Richte ihr noch einmal meinen Dank aus. Wir sehen uns dann morgen«, versprach er und ließ den Motor an. Ich beobachtete, wie er zurückstieß. Er winkte und fuhr dann in die Nacht hinaus. Ich blieb stehen und sah ihm nach, bis die kleinen roten Rücklichter seines Wagens von der Dunkelheit geschluckt worden waren. Dann wandte ich mich ab, schlang die Arme um mich und sah Grandmère Catherine, die am Geländer der Veranda stand und auf mich herabsah. Wie lange stand sie schon dort? fragte ich mich. Warum wartete sie so auf mich?

»Grandmère? Ist alles in Ordnung mir dir?« fragte ich, als ich näher kam. Ihr Gesicht war so trostlos. Sie wirkte so blaß und verloren, als hätte sie gerade einen Geist gesehen. Ihre Augen starrten mich düster an. Etwas Hartes und Schweres wuchs in meiner Brust und ließ sie vor üblen Vorahnungen schmerzen.

»Komm ins Haus«, sagte sie. »Ich muß dir etwas sagen, etwas, was ich dir schon längst hätte sagen sollen.«

Meine Beine kamen mir so steif wie Baumstümpfe vor, als ich die Stufen hinaufstieg und ins Haus ging. Mein Herz, das nach Pauls letztem Kuß vor Freude höher geschlagen hatte, schlug jetzt härter und tiefer und traf mit seinem Pochen meine tiefste Seele. Ich konnte mich nicht erinnern, je solche Melancholie und Trauer auf Grandmère Catherines Gesicht gesehen zu haben. Welche schwere Last trug sie mit sich herum? Was würde sie mir jetzt Furchtbares erzählen?

Sie setzte sich und sah lange Zeit starr vor sich hin, als hätte sie ganz vergessen, daß ich auch noch da war. Ich wartete mit den Händen auf dem Schoß, und mein Herz hämmerte immer noch heftig.

»Deine Mutter hatte schon immer eine gewisse Wildheit in sich«, begann sie. »Vielleicht war es das Landry-Blut, aber vielleicht hat es auch daran gelegen, wie sie aufgewachsen ist, der Wildnis immer nahe. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mädchen in ihrem Alter hat nichts im Sumpf ihr jemals angst gemacht. Sie hat kleine Schlangen so unbekümmert aufgehoben, als pflückte sie Gänseblümchen.

In ihren jungen Jahren hat Grandpère Jack sie überallhin mitgenommen. Sie war mit ihm im Bayou fischen, jagte mit ihm, und als sie gerade erst stehen und den Stock in den Schlamm stoßen konnte, hat sie die Piroge durch die Wasserläufe gestakt. Ich dachte damals immer, dieser Wildfang hätte einen guten Jungen abgegeben. Es war jedoch so«, sagte sie und richtete den Blick fest auf mich, »daß alles andere als ein Junge aus ihr geworden ist. Vielleicht wäre es besser für sie gewesen, wenn sie weniger weiblich gewesen wäre.

Sie ist schnell gewachsen und weit vor ihrer Zeit zu einer Frau erblüht, und ihre dunklen Augen und ihr langes, wehendes Haar, das so dicht und rot wie deines war, haben die Männer und die Jungen gleichermaßen bezaubert. Ich glaube, sogar die Vögel und die Tiere im Sumpf waren fasziniert von ihr. Oft«, sagte sie und lächelte bei der Erinnerung, »habe ich gesehen, wie ein Sumpffalke aus seinen gelbumrandeten Augen auf sie heruntergeschaut hat und mit seinen Blicken jeder ihrer Bewegungen gefolgt ist, wenn sie am Kanalufer entlanggelaufen ist.

Sie war so unschuldig und so schön, und sie war begierig darauf, alles anzufassen, alles zu sehen und zu erleben. Daher war sie für ältere und gewitzte Menschen empfänglich, und so ist sie in Versuchung geführt worden, aus dem Kelch sündiger Lust zu trinken.

Als sie sechzehn war, war sie sehr beliebt und wurde ständig von allen Jungen im Bayou eingeladen. Sie haben sich alle um ihre Aufmerksamkeit gerissen. Ich habe gesehen, wie sie manche Jungen geneckt und gequält hat, die ihrem Lächeln und ihrem Lachen verfallen waren und sich danach verzehrten, daß sie sie ermutigte, wenn sie hergekommen sind.

Sie hat alle ihre Pflichten von jungen Knaben erfüllen lassen, und sie hat sie sogar dazu herangezogen, Grandpère Jack zu helfen, der sich nicht zu gut dafür war, die armen Seelen auszunutzen, um das gleich dazuzusagen. Er wußte, daß sie hofften, Gabrielles Gunst zu erlangen, wenn sie sich für ihn abschufteten, und er hat sie schwerer für sich arbeiten lassen, als sie je für ihre eigenen Väter gerackert hatten. Er hat sich verbrecherisch verhalten, aber auf mich wollte er ja nicht hören.

Jedenfalls ist Gabrielle etwa sieben Monate nach ihrem sechzehnten Geburtstag zu mir in dieses Zimmer gekommen. Sie hat genau da gesessen, wo du jetzt sitzt. Als ich zu ihr aufgeschaut habe, brauchte ich gar nicht mehr zu hören, was sie mir zu sagen hatte. Sie war mühelos zu durchschauen. Mein Herz hat Purzelbäume geschlagen; ich habe den Atem angehalten.

›Mama‹, hat sie gesagt, und ihre Stimme hat sich überschlagen, ›ich glaube, ich bin schwanger.‹ Ich habe die Augen geschlossen und mich zurückgelehnt. Es war, als sei das Unvermeidliche passiert, als sei es zu dem gekommen, wovon ich gefürchtet hatte, daß es dazu kommen könnte.

Wie du weißt, sind wir Katholiken; wir lassen unsere Schwangerschaften nicht abbrechen. Ich habe sie gefragt, wer der Vater ist, und sie hat einfach nur den Kopf geschüttelt und ist fortgerannt. Später, als Grandpère Jack nach Hause gekommen ist und es gehört hat, ist er durchgedreht. Er hat sie fast totgeschlagen, ehe ich ihn davon abhalten konnte, aber er hat aus ihr herausgeholt, wer der Vater war«, sagte sie und hob langsam die Augen zu mir.

War das Donner, was ich hörte, oder war es das Blut, das in meinen Adern dröhnte und in meinen Ohren rauschte?

»Wer war es, Grandmère?« fragte ich, und meine Stimme überschlug sich, während meine Kehle sich zuschnürte.

»Es war Octavious Tate, der sie verführt hatte«, sagte sie, und wieder einmal war es, als hätte Donner das Haus erschüttert und erschütterte jetzt die Grundpfeiler unserer Welt und riß die brüchigen Mauern meines Herzens und meiner Seele ein. Ich brachte kein Wort heraus; ich konnte die nächste Frage nicht stellen, aber Grandmère hatte beschlossen, daß ich alles erfahren sollte.

»Grandpère Jack hat sich augenblicklich zu ihm begeben. Octavious war damals noch kein Jahr verheiratet, und Vater lebte noch. Grandpère Jack war in jenen Zeiten ein noch größerer Spieler als heute. Er konnte beim Bourré nicht eine einzige Runde auslassen, obwohl er fast immer derjenige war, der am meisten in die Kasse einzahlte. Einmal hat er beim Spiel seine Stiefel verloren und mußte barfuß Hause laufen. Und ein anderes Mal hat er einen goldenen Zahn gesetzt und mußte ihn sich dann von jemandem mit einer Kneifzange ziehen lassen. Ein so schlimmer Spieler war er, und er ist es immer noch.

Jedenfalls hat er die Tates dazu gebracht, daß alles vertuscht wird, und ein Teil der Abmachung hat darin bestanden Octavious das Kind zu sich nimmt und es als sein eigenes aufzieht. Was er seiner frisch angetrauten Frau erzählt hat und wie die beiden die Dinge unter sich geregelt haben, haben wir nie erfahren, und wir wollten es auch gar nicht wissen.

Ich habe die Schwangerschaft deiner Mutter geheimgehalten und ihr den Bauch zusammengeschnürt, als man ihr im siebten Monat etwas angesehen hat. Aber inzwischen war es Sommer, und sie brauchte nicht zur Schule zu gehen. Die meiste Zeit mußte sie hier im Haus bleiben. In den letzten drei Wochen hat sie sich fast nur noch im Haus aufgehalten, und wir haben allen erzählt, sie sei zu Besuch bei ihren Cousinen in Iberia.

Das Baby, ein gesunder Junge, ist geboren und Octavious Tate übergeben worden. Grandpère Jack hat sein Geld bekommen und es in weniger als einer Woche verspielt, aber das Geheimnis ist bewahrt worden.

Das heißt bis jetzt«, sagte sie und senkte den Kopf. »Ich hatte gehofft, ich bräuchte es dir nie zu sagen. Was deine Mutter später noch getan hat, weißt du schon. Ich wollte nicht, daß du furchtbar schlecht über sie denkst und dann auch furchtbar schlecht über dich selbst denkst.

Aber ich habe niemals mit einbezogen, daß ihr beide, du und Paul... mehr als nur Freunde werden könntet«, fügte sie hinzu. »Als ich vorhin gesehen habe, wie ihr beide euch draußen vor seinem Wagen geküßt habt, wußte ich, daß du es erfahren mußt«, schloß sie.

»Dann sind Paul und ich Halbbruder und Halbschwester?« fragte ich keuchend. Sie nickte. »Aber er weiß nichts davon?«

»Wie ich dir schon sagte, wir wußten nicht, wie die Tates damit umgegangen sind.«

Ich begrub mein Gesicht in den Händen. Die Tränen, die unter meinen Lidern brannten, schienen auch in meinem Innern zu rinnen, und mein Magen kam mir eisig kalt vor. Ich zitterte vor Kälte und schaukelte auf dem Stuhl.

»O Gott, wie furchtbar, o Gott«, stöhnte ich.

»Du siehst doch ein und verstehst, warum ich es dir sagen mußte, oder nicht, Ruby, Liebes?« fragte Grandmère Catherine. Ich konnte spüren, wie sehr es sie bedrückte, mir das zu offenbaren, und wieviel es ihr ausmachte, mich so gequält zu sehen. Daher nickte ich eilig. »Du mußt dafür sorgen, daß die Dinge zwischen euch nicht weitergehen, aber es steht dir nicht zu, ihm zu sagen, was ich dir gerade erzählt habe. Das ist etwas, was sein eigener Vater ihm erzählen muß.«

»Das wird ein vernichtender Schlag für ihn«, sagte ich und schüttelte den Kopf. »Es wird ihm das Herz in Stücke brechen, wie es gerade mein Herz in Stücke gebrochen hat.«

»Dann sag es ihm nicht, Ruby«, riet mir Grandmère Catherine. Ich blickte zu ihr auf. »Sag ihm einfach, daß es aus ist.«

»Wie, Grandmère? Wir mögen einander so sehr. Paul ist so sanft und lieb und...«

»Laß ihn glauben, daß du dir nichts mehr aus ihm machst, Ruby. Löse dich von ihm, und er wird schnell genug eine andere Freundin finden. Er ist ein gutaussehender Junge. Außerdem werden seine Eltern ihm nur noch mehr Kummer bereiten, wenn du es nicht tust, vor allem sein Vater, und das einzige, was dir gelingen wird, ist, daß die Familie Tate daran zerbricht.«

»Sein Vater ist ein Ungeheuer, ein richtiges Ungeheuer. Wie konnte er so etwas tun, wenn er erst so kurz verheiratet?« fragte ich, und für den Moment siegte meine Wut über meine Traurigkeit.

»Ich kann ihm nichts zugute halten. Er war ein erwachsener Mann, und Gabrielle war nichts weiter als ein junges Mädchen, das leicht zu beeindrucken war, aber so schön, daß es mich nicht überrascht hat zu sehen, wie erwachsene Männer sich nach ihr verzehrt haben. Der Teufel, der böse Geist, der in den Schatten lauert, hat sich Tag für Tag an Octavious Tate herangeschlichen, da bin ich ganz sicher, schließlich hat er Einlaß in sein Herz gefunden und ihn dazu getrieben, deine Mutter zu verführen.«

»Paul würde ihn hassen, er würde seinen eigenen Vater hassen, wenn er das wüßte«, sagte ich nachdrücklich. Grandmère nickte.

»Willst du das erreichen, Ruby? Willst du diejenige sein, die Feindseligkeit in seinem Herzen pflanzt und ihn dazu treibt, seinen eigenen Vater zu verabscheuen?« fragte sie sanft. »Und was wird Paul dann für die Frau empfinden, die er für seine Mutter hält? Was tätest du auch dieser Beziehung damit an?«

»O Grandmère«, rief ich aus und stand von dem Sofa auf, um mich vor ihre Füße zu werfen. Ich schlang die Arme um ihre Beine und begrub mein Gesicht auf ihrem Schoß. Sie streichelte zärtlich mein Haar.

»Aber, aber, mein Kleines. Du wirst über den Schmerz hinwegkommen. Du bist sehr jung und hast das ganze Leben noch vor dir. Du wirst eine große Künstlerin werden und viele schöne Dinge besitzen.« Sie legte eine Hand unter mein Kinn und hob meinen Kopf, um mir in die Augen sehen zu können. »Jetzt verstehst du doch sicher, warum ich davon träume, daß du das Bayou verläßt«, fügte sie hinzu.

Tränen strömten über meine Wange, als ich nickte.

»Ja«, sagte ich. »Ich verstehe es. Aber ich will dich niemals verlassen, Grandmère.«

»Eines Tages wird es so sein müssen, Ruby. Das ist der Lauf der Dinge, und wenn dieser Tag kommt, dann zögere nicht. Tu, was du tun mußt. Versprich mir, daß du es tun wirst. Versprich es mir«, forderte sie. Sie machte einen so besorgten Eindruck, daß ich darauf eingehen mußte.

»Ich verspreche es dir, Grandmère.«

»Gut«, sagte sie. »Gut.« Sie lehnte sich zurück und sah aus, als sei sie in den vergangenen Minuten um Jahre gealtert. Ich rieb mir mit meinen kleinen Fäusten die Tränen aus den Augen und stand auf.

»Möchtest du etwas, Grandmère? Vielleicht ein Glas Limonade?«

»Nur ein Glas kaltes Wasser«, sagte sie lächelnd. Sie tätschelte meine Hand. »Es tut mir leid, Schätzchen«, sagte sie.

Ich schluckte schwer und beugte mich hinunter, um ihr einen Kuß auf die Wange zu drücken.

»Es ist nicht deine Schuld, Grandmère. Du hast keinerlei Grund, dir Vorwürfe zu machen.«

Sie lächelte mich liebevoll an. Dann holte ich ihr ein Glas Wasser und beobachtete sie, als sie es trank. Das Trinken schien ihr Schmerzen zu bereiten, doch sie trank das Glas leer und stand dann von ihrem Stuhl auf.

»Ich fühle mich plötzlich furchtbar müde«, sagte sie. »Ich muß ins Bett gehen.«

»Ja, Grandmère. Ich werde auch bald ins Bett gehen.«

Nachdem sie gegangen war, ging ich zur Haustür und schaute zu der Stelle hinaus, wo Paul und ich uns einen Gutenachtkuß gegeben hatten.

In dem Moment hatten wir es noch nicht gewußt, aber es war das letzte Mal, daß wir uns je so geküßt hatten, das letzte Mal, daß jeder von uns den Herzschlag des anderen gespürt hatte, daß unsere Berührungen uns beglückt und fasziniert hatten.

Ich schloß die Tür und ging zur Treppe, und dabei fühlte ich mich, als sei jemand, den ich kannte und von ganzem Herzen liebte, gerade gestorben. In einem gewissen Sinn entsprach das auch der Wahrheit, denn den Paul Tate, den ich bisher gekannt und geliebt hatte, und die Ruby Landry, die er geküßt und ebenfalls geliebt hatte, gab es nicht mehr. Die Sünde, die Paul das Leben geschenkt hatte, hatte ihren häßlichen Kopf erhoben und mir seine Liebe genommen.

Mir graute vor den Tagen, die jetzt bevorstanden.

In jener Nacht warf und wälzte ich mich im Bett herum und erwachte oft aus dem Schlaf. Jedesmal fühlte sich mein Magen so verkrampft wie eine geballte Faust an. Ich wünschte, der ganze Tag und die ganze Nacht wären nur ein böser Traum gewesen, aber Grandmère Catherines bedrückte, traurige Augen ließen sich nicht verleugnen. Der Ausdruck ihres Gesichts hatte sich hinter meinen Lidern eingeprägt und erinnerte mich immer wieder daran und bestätigte, daß all das wirklich passiert war und der Wahrheit entsprach.

Ich glaube nicht, daß Grandmère Catherine besser geschlafen hatte als ich, obwohl sie schon vor dem Schlafengehen genauso erschöpft gewirkt hatte. Zum ersten Mal seit langer Zeit war sie nur wenige Momente vor mir auf. Ich hörte sie an meinem Zimmer vorbeischlurfen und öffnete die Tür, um ihr nachzuschauen, als sie in die Küche ging.

Ich eilte nach unten, um ihr bei den Vorbereitungen für unser Frühstück zu helfen. Der Sturm und der Regen der vergangenen Nacht waren zwar weitergezogen, aber über dem Himmel von Louisiana hingen immer noch dünne graue Wolkenschichten, die den Morgen so trostlos wirken ließen, wie mir zumute war. Auch die Vögel kamen mir bedrückt vor, denn sie sangen und riefen kaum. Es war, als täten Paul und ich dem ganzen Bayou leid.

»Man sollte doch meinen, eine Heilerin könnte ihre eigene Arthritis behandeln«, murrte Grandmère. »Meine Gelenke schmerzen, und meine Medikamente scheinen nicht zu helfen.«

Grandmère Catherine war kein Mensch, der laut klagte. Ich hatte sie schon meilenweit durch den Regen laufen sehen, um jemandem zu helfen, und dabei hatte sie mit keiner Silbe ihren Unwillen bekundet. Ganz gleich, welches Gebrechen oder Pech ihr widerfuhr, sie hatte dazu immer nur zu bemerken, es gäbe zu viele andere, die schlechter dran waren als sie.

»Bloß weil einem plötzlich Hügel und Täler den Weg versperren, läßt man doch noch lange keine Kartoffel fallen«, sagte sie zu mir, und damit meinten die Cajuns, daß man so schnell nicht aufgab. »Man nimmt die Last auf sich und läuft weiter.« Ich hatte immer das Gefühl, sie wollte mir vorbildhaft beibringen, wie man das Leben anpackte, und daher wußte ich, wie große Schmerzen sie erleiden mußte, wenn sie an diesem Morgen in meiner Gegenwart darüber klagte.

»Vielleicht sollten wir uns einen Tag freinehmen und den Straßenstand heute nicht aufbauen, Grandmère«, sagte ich. »Wir haben das Geld von meinen Bildern, und

»Nein«, sagte sie. »Es ist besser, beschäftigt zu sein, und außerdem müssen wir unseren Stand draußen aufbauen, solange noch Touristen ins Bayou kommen. Du weißt selbst, daß viele Wochen und Monate lang niemand herkommt, um unsere Sachen ’zu kaufen, und dann ist es schwer genug, sich mühselig durchzuschlagen.«

Ich sprach es nicht aus, weil ich wußte, daß sie nur wütend geworden wäre, aber warum tat Grandpère Jack nicht mehr für uns? Warum ließen wir ihm sein faules Landstreicherleben im Sumpf eigentlich durchgehen? Er war ein Cajun, und als solcher hätte er selbst dann mehr Verantwortung für seine Familie übernehmen sollen, wenn Grandmère unzufrieden mit ihm war. Ich faßte den Entschluß, später zu seiner Hütte zu staken und ihm meine Meinung zu sagen.

Gleich nach dem Frühstück begann ich wie üblich unseren Straßenstand aufzubauen, während Grandmère ihr Gumbo zubereitete. Ich sah ihr die Anstrengung im Gesicht an, als sie arbeitete und dann die Dinge raustrug, und daher holte ich ihr einen Stuhl, damit sie sich gleich setzen konnte. Trotz allem, was sie gesagt hatte wünschte ich mir, es würde so stark regnen, daß wir ins Haus fliehen mußten und sie sich ausruhen konnte. Aber das tat es nicht, und die Touristen trafen allmählich ein, wie sie es vorausgesagt hatte.

Etwa um elf kam Paul auf seinem Motorroller angefahren. Grandmère Catherine und ich tauschten einen schnellen Blick miteinander aus, aber sie sagte kein Wort zu mir, als Paul näher kam.

»Guten Tag, Mrs. Landry«, sagte er zur Begrüßung. »Meine Wange ist so gut wie ganz geheilt, und meine Lippe tut nicht mehr weh.« Die Schwellung war beträchtlich zurückgegangen. Nur auf seinem Backenknochen war noch eine leichte rötliche Verfärbung zu erkennen. »Nochmals vielen Dank.«

»Gern geschehen«, sagte Grandmère, »aber vergessen Sie nicht, was Sie mir versprochen haben.«

»Bestimmt nicht.« Er lachte und wandte sich an mich. »Hallo.«

»Hallo«, sagte ich eilig und faltete eine Decke auseinander und wieder zusammen, um sie ordentlicher auf den Stapel auf unserem Stand zu legen. »Wie kommt es, daß du heute nicht in der Fabrik arbeitest?« fragte ich, ohne ihn anzusehen.

Er trat näher, damit Grandmère ihn nicht hören konnte.

»Mein Vater und ich haben gestern abend Krach miteinander gehabt, und ich arbeite nicht mehr für ihn. Ich darf auch den Wagen nicht mehr benutzen, solange er es mir nicht erlaubt, und das könnte nie mehr der Fall sein, es sei denn...«

»Es sei denn, du siehst mich nicht mehr«, beendete ich den Satz und drehte mich dann zu ihm um. Der Ausdruck, der in seinen Augen stand, sagte mir, daß ich recht hatte.

»Mir ist egal, was er sagt. Ich brauche den Wagen nicht. Ich habe mir den Motorroller von meinem eigenen Geld gekauft, und dann fahre ich eben nur noch damit durch die Gegend. Das einzige, was mich interessiert, ist, wie ich schnell hierherkommen kann, um dich zu sehen. Alles andere zählt nicht«, erklärte er mit fester Stimme.

»Das ist nicht wahr, Paul. Ich kann nicht zulassen, daß du deinen Eltern und dir selbst das antust. Vielleicht nicht heute, aber in ein paar Wochen, Monaten oder erst nach Jahren wirst du bereuen, daß du deine Eltern derart von dir gewiesen hast«, sagte ich streng zu ihm. Sogar ich selbst konnte den neuen, kalten Tonfall meiner Stimme hören. Es tat mir weh, so mit ihm umzugehen, aber ich mußte es tun, und ich mußte eine Möglichkeit finden, dem Einhalt zu gebieten, was niemals sein konnte und durfte

»Was?« Er lächelte mich an. »Du weißt doch, daß es mir nur wichtig ist, mit dir zusammenzusein, Ruby. Wenn sie nicht wollen, daß wir uns auseinanderleben, dann müssen sie sich eben an die Vorstellung gewöhnen. Es ist alles ihre Schuld. Sie sind snobistisch und egoistisch und...«

»Nein, das sind sie nicht, Paul«, sagte ich eilig. Sein Gesicht wurde vor Verwirrung härter. »Es ist doch nur natürlich, daß sie das Beste für dich wollen.«

»Das haben wir doch alles schon einmal besprochen, Ruby. Ich habe dir gesagt, daß es nichts Besseres für mich gibt als dich«, sagte er. Ich wandte den Blick ab. Ich konnte ihm nicht ins Gesicht sehen, wenn ich diese Worte sagte. Wir hatten im Moment keine Kunden, und daher verließ ich mit ihm den Stand. Paul folgte mir so dicht und so lautlos wie mein eigener Schatten. Ich blieb vor einer unserer Zypressenbänke stehen, setzte mich und schaute auf den Sumpf hinaus.

»Was ist mit dir?« fragte er liebevoll.

»Ich habe mir noch einmal Gedanken gemacht«, sagte ich. »Ich bin nicht sicher, daß du das Beste für mich bist.«

»Was?«

Draußen im Sumpf thronte auf einer großen Mangrove die alte Sumpfeule und starrte uns an, als könnte sie unsere Worte hören und verstehen. Sie hielt so still, als sei sie ausgestopft.

»Nachdem du gestern abend gegangen bist, habe ich mir alles noch einmal genau überlegt. Ich weiß, daß es im Bayou viele Mädchen gibt, die in meinem Alter oder ein klein wenig älter und bereits verheiratet sind. Es gibt sogar noch jüngere, aber ich will nicht einfach nur heiraten und dann für alle Zeiten im Bayou glücklich werden. Ich will mehr tun, und ich will mehr aus mir machen. Ich will Künstlerin werden.«

»Na und? Ich würde dich niemals daran hindern. Ich täte alles, was ich könnte...«

»Eine Künstlerin, eine echte Künstlerin, muß viele Erfahrungen machen. Sie muß reisen, die verschiedensten Menschen kennenlernen und ihren Horizont erweitern«, sagte ich und wandte mich wieder zu ihm um. Er wirkte kleiner, als hätten meine Worte ihn schrumpfen lassen. Schließlich schüttelte er den Kopf.

»Was willst du damit sagen?«

»Wir sollten uns nicht näher miteinander einlassen«, erklärte ich

»Aber ich dachte...« Er schüttelte den Kopf. »Das liegt alles nur daran, daß ich mich gestern abend lächerlich gemacht habe, stimmt’s? Deine Großmutter ist wirklich sehr böse auf mich.«

»Nein, das ist sie nicht. Der gestrige Abend hat mich nur veranlaßt, mir mehr Gedanken zu machen, das ist alles.«

»Es ist meine Schuld«, wiederholte er.

»Niemand ist schuld daran. Oder zumindest ist es nicht unsere Schuld«, fügte ich hinzu und dachte wieder an die Enthüllungen, die mir Grandmère Catherine gestern nacht gemacht hatte. »Die Dinge sind eben so, wie sie sind.«

»Und was soll ich jetzt tun?« fragte er.

»Ich will, daß du ... daß du tust, was ich auch tun werde... daß du auch andere Leute triffst.«

»Dann gibt es also einen anderen?« schlußfolgerte er ungläubig. »Wie konntest du so mit mir umgehen, wie du gestern abend und an den Tagen und Abenden zuvor mit mir umgegangen bist, wenn es einen anderen gibt?«

»Noch gibt es keinen anderen«, murmelte ich.

»O doch, den gibt es«, beharrte er. Ich sah zu ihm auf. Seine Traurigkeit wurde schnell von Zorn abgelöst. Der sanfte Ausdruck seiner Augen verschwand, und an seine Stelle trat Wut. Er zog die Schultern zurück, und sein Gesicht wurde so rot wie seine geschwollene Wange. Seine Lippen wurden an den Mundwinkeln weiß. Mir war verhaßt, was ich ihm antat. Ich wünschte, ich hätte mich einfach in Luft auflösen können.

»Mein Vater hat mir gesagt, ich sei ein Narr, mein Herz und mein Vertrauen dir zu schenken, einer...«

»Einer Landry«, sagte ich ihm betrübt vor.

»Ja, einer Landry. Er hat gesagt, der Apfel fällt nicht weit vom Baum.«

Ich senkte den Kopf und dachte daran, wie meine Mutter sich von Pauls Vater für seine Lust hatte mißbrauchen lassen, und ich dachte an Grandpère Jack, den es mehr interessierte, wie er an Geld kam, als was seiner Tochter angetan worden war.

»Er hat recht gehabt.«

»Das glaube ich dir nicht«, warf mir Paul an den Kopf. Als ich ihn wieder anschaute, sah ich die Tränen, die aus seinen Augen geflossen waren. Tränen des Schmerzes und der Wut, Tränen, die seine Seele vergiften und ihn gegen mich einnehmen würden. Wie gerne ich mich doch in seine Arme geworfen und dem Einhalt geboten hätte, aber die Realität kam mir in die Quere und machte mich mundtot. »Du willst gar keine Künstlerin werden; du willst eine Hure werden.«

»Paul!«

»Das ist alles, eine Hure und sonst gar nichts. Also, mach doch, gib dich mit so vielen verschiedenen Männern ab, wie du willst. Du wirst ja sehen, ob es mir etwas ausmacht. Ich war verrückt, Zeit mit einer Landry zu verschwenden«, fügte er noch hinzu und machte dann auf dem Absatz kehrt. Die Hacken seiner Stiefel bohrten sich ins Gras und ließen es hinter ihm aufstieben, als er davoneilte.

Mir sank das Kinn auf die Brust, und mein Körper sackte auf der Zypressenbank in sich zusammen. Wo einst mein Herz gewesen war, war jetzt eine leere Höhle. Ich konnte noch nicht einmal weinen. Es war, als hätte sich alles in mir plötzlich verschlossen und sei erstarrt und kalt wie Stein geworden. Das Motorengeräusch von Pauls Motorroller hallte in meinem Körper wider. Die alte Sumpfeule breitete die Flügel aus und lief nervös auf dem Zweig auf und ab, schwang sich aber nicht in die Lüfte auf. Sie blieb dort sitzen und beobachtete mich, und jetzt stand eine Anklage in ihren Augen.

Nachdem Paul gegangen war, stand ich wieder auf. Meine Beine waren sehr zittrig, aber ich brachte es fertig, mich wieder an den Straßenrand zu begeben, als gerade eine Gruppe Touristen vorfuhr. Es waren junge Männer und Frauen, die laut lachten und scherzten. Die Männer sahen sich die Eidechsen und Schlangen in Spiritus an und kauften vier Gläser. Den Frauen gefielen Grandmères handgewebte Handtücher und Taschentücher. Nachdem sie alles gekauft hatten, was sie haben wollten, und es in ihren Wagen geladen hatten, blieb einer der jungen Männer zurück und kam mit seiner Kamera auf uns zu.

»Haben Sie etwas dagegen, daß ich Sie fotografiere?« fragte er. »Ich gebe jedem von Ihnen einen Dollar dafür«, fügte er hinzu.

»Sie brauchen nicht dafür zu zahlen, daß Sie uns fotografieren«, erwiderte Grandmère.

»O doch, er wird dafür bezahlen«, sagte ich. Grandmère Catherine zog überrascht die Augenbrauen hoch.

»Gut«, sagte der junge Mann und wühlte in seiner Tasche, um zwei Dollar herauszuziehen. Ich nahm sie schnell entgegen. »Können Sie lächeln?« fragte er mich. Ich zwang mich zu einem Lächeln, und er knipste uns. »Danke«, sagte er und stieg in den Wagen.

»Warum hast du ihm zwei Dollar dafür abgenommen, Ruby? Bisher haben wir doch auch kein Geld von den Touristen genommen, die uns fotografieren wollten«, fragte mich Grandmère.

»Weil die Welt voll Schmerz und Enttäuschungen ist, Grandmère, und weil ich vorhabe, von jetzt an zu tun, was ich kann, damit wir weniger leiden müssen.«

Sie heftete versonnen den Blick auf mich. »Ich möchte, daß du erwachsen wirst, aber ich möchte nicht, daß du eine hartherzige Erwachsene wirst, Ruby«, sagte sie.

»Ein weiches Herz wird nur immer öfter durchstochen und zerrissen, Grandmère. Ich will nicht wie meine Mutter enden. Ich werde ganz bestimmt nicht enden wie sie!« rief ich aus, und trotz meiner festen und starren Haltung spürte ich, wie meine neue Mauer einen Sprung bekam.

»Was hast du dem jungen Paul Tate gesagt?« fragte Grandmère. »Was hast du ihm gesagt, wenn es dazu geführt hat, daß er auf diese Art fortgerannt ist?«

»Ich habe ihm nicht die Wahrheit gesagt, aber ich habe ihn vertrieben, wie du es mir gesagt hast«, stöhnte ich durch meine Tränen. »Jetzt haßt er mich.«

»O Ruby. Es tut mir ja so leid.«

»Er haßt mich!« rief ich aus, wandte mich ab und rannte davon.

»Ruby«

Ich blieb nicht stehen. Ich rannte zügig und schnell über das Sumpfland und ließ die Dornensträucher in mein Gesicht klatschen, an meinem Kleid ziehen und meine Arme und Beine zerkratzen. Ich nahm keinen Schmerz wahr; ich kümmerte mich nicht darum, daß meine Brust weh tat, und ich schenkte auch den Pfützen und dem Schlamm, in den ich wiederholt trat, keine Beachtung. Nach einer Weile ließen mich jedoch die Schmerzen in meinen Beinen und das Seitenstechen stehenbleiben, und ich konnte nur langsam das ausgedehnte Stück Sumpfland zurücklegen, das am Kanal entlangführte. Ein tiefes Schluchzen hob und senkte meine Schultern. Ich lief und lief, an den getrockneten Grashügeln vorbei, in denen die Bisamratten und Nutrias hausten, und ich mied die schmalen Wasserläufe, in denen kleine grüne Schlangen schwammen. Ermattet und von vielen Gefühlen überschwemmt, blieb ich schließlich stehen und schnappte nach Luft, stemmte die Hände in meine Hüften, und mein Busen hob und senkte sich.

Nach einer Weile richtete sich mein Blick auf ein Grüppchen dicht zusammenstehender kleiner Mangroven direkt vor mir. Anfangs sah ich es wegen seiner Farbe und seiner Größe nicht. Aber allmählich nahm es in meinem Gesichtsfeld Umrisse und eine klare Gestalt an. Ich sah ein Sumpfreh, das mich neugierig betrachtete. Es hatte riesengroße, wunderschöne Augen, die aber traurig blickten, und es stand so still wie eine Statue da.

Plötzlich war ein lauter Knall zu hören, ein Schuß aus einer großkalibrigen Flinte, und die Beine des Rehs knickten ein. In seinem verzweifelten Bemühen, auf den Beinen zu bleiben, wankte es noch einen Moment lang, doch auf seinem Hals bildete sich ein blutroter Fleck, der größer und immer größer wurde. Kurz darauf fiel das Reh zu Boden, und ich hörte den Jubel zweier Männer. Unter einem Vorhang aus spanischem Moos kam eine Piroge herausgeschossen, und ich sah vorn zwei Fremde und hinten Grandpère Jack, der das Kanu stakte. Er hatte sich jagenden Touristen gegen Geld angedient und sie zu ihrer Beute gebracht. Als das Kanu über den Teich auf das tote Reh zutrieb, reichte einer der Touristen dem anderen eine Flasche Whiskey, und sie tranken darauf, daß sie das Reh getötet hatten. Grandpère Jack beäugte die Flasche und hörte auf zu staken, damit sie ihm auch einen kräftigen Schluck anbieten konnten.

Langsam wich ich zurück und lief in meinen eigenen Spuren davon. Ja, dachte ich, der Sumpf war ein wunderbarer Ort mit einer interessanten Tierwelt und einer faszinierenden Vegetation, manchmal mysteriös und still, aber mit den krächzenden Fröschen, dem Vogelgesang und dem Wasser, das die Alligatoren mit ihren Schwänzen aufpeitschten, die reinste Symphonie der Natur. Doch der Sumpf konnte auch ein harter, kalter Ort sein, an dem es von Tod und Gefahren wimmelte, von Giftschlangen und Giftspinnen, von Treibsand und klebrigem, saugendem Schlamm, der den Eindringling, der nichts Böses ahnte, in die dunklen Tiefen unter seiner Oberfläche zog. Es war eine Welt, in der der Stärkere den Schwächeren fraß und in die Männer kamen, um ihre Macht über die Natur zu genießen.

Heute kam es mir hier wie überall sonst auf Erden vor, und heute war es mir verhaßt, hier zu sein.

Als ich zurückkam, hatten Regenschauer eingesetzt, und Grandmère Catherine hatte begonnen, unsere Handarbeiten ins Haus zu räumen. Ich half ihr eilig mit dem Rest. Der Regen fiel immer dichter, und daher mußten wir laufen, so schnell wir konnten, und wir hatten keine Zeit, miteinander zu reden, solange nicht alles in Sicherheit gebracht worden war. Dann holte uns Grandmère zwei Handtücher, mit denen wir uns das Haar und die Gesichter trocknen konnten. Der Regen trommelte auf das Blechdach, und der Wind peitschte durch das Bayou. Wir rannten durch das Haus und schlossen die Lattenläden.

»Dieser gewaltige Sturm reißt alles mit«, rief Grandmère. Wir hörten, wie der Wind durch die Ritzen in unseren Wänden pfiff, und wir sahen, wie Unterholz und alles andere, was lose herumlag und leicht war, hochgehoben und in alle Richtungen über die Straße und das Gras geweht wurde. Die Welt draußen wurde finster. Donner grollte, und Blitze versengten den Himmel. Ich konnte hören, wie die Wassertonnen überflossen, als der Regen sturzbachartig vom Dach kam und in den Fässern aufgefangen wurde. Die dicken Tropfen prasselten so fest herunter, daß sie hochsprangen und zerplatzten, wenn sie auf die Stufen oder den kleinen Gehweg vor unserem Haus fielen. Endlich ließ der Regenguß nach und wurde zu leichtem Nieselregen. Der Himmel hellte sich auf, und wenige Momente später schlich sich ein Sonnenstrahl durch die Öffnung zwischen den Wolken und warf einen Streifen heller Wärme über unser Haus. Grandmère Catherine atmete vor Erleichterung tief auf und schüttelte den Kopf.

»Ich werde mich nie an diese plötzlichen Wolkenbrüche gewöhnen«, sagte sie. »Als ich ein kleines Mädchen war, bin ich dann immer unter mein Bett gekrochen.«

Ich lächelte sie an.

»Ich kann mir dich nicht als kleines Mädchen vorstellen, Grandmère«, sagte ich.

»Das war ich aber, Schätzchen. Ich bin nicht alt und mit ächzenden Knochen in diese Welt geboren worden, verstehst du.« Sie preßte sich eine Hand ins Kreuz und richtete sich auf. »Ich glaube, ich werde eine Tasse Tee machen. Ich hätte gern etwas Warmes im Bauch. Was ist mit dir?«

»Gern, Grandmère«, sagte ich. Ich saß am Küchentisch, während sie das Wasser aufsetzte. »Grandpère Jack spielt wieder den Führer für die Jäger. Ich habe ihn gerade mit zwei Männern im Sumpf gesehen. Sie haben ein Reh erschossen.«

»Darin war er immer einer der Besten«, sagte sie. »Die reichen Kreolen waren immer wild auf ihn, wenn sie zur Jagd hergekommen sind, und sie sind nie mit leeren Händen heimgefahren.«

»Es war ein wunderschönes Reh, Grandmère.«

Sie nickte.

»Und das Schlimmste ist, daß sie sich gar nichts aus dem Fleisch machen. Sie wollen nur eine Trophäe haben.«

Sie starrte mich einen Moment lang an. »Was hast du Paul gesagt?« fragte sie schließlich.

»Daß wir nicht immer nur zusammensein sollten, sondern auch andere Leute sehen sollten. Ich habe ihm gesagt, ich wollte ganz andere Menschen kennenlernen, weil ich Künstlerin werden will, aber er hat mir nicht geglaubt. Ich bin keine gute Lügnerin, Grandmère«, klagte ich.

»Das ist doch nicht schlimm, Ruby.«

»O doch, das ist es, Grandmère«, gab ich eilig zurück. »Diese Welt ist auf Lügen aufgebaut. Die Stärkeren und Erfolgreicheren sind gut darin.«

Grandmère Catherine schüttelte betrübt den Kopf.

»Den Anschein erweckt es im Moment, Ruby, mein Schatz, aber hüte dich vor der Bequemlichkeit, alles und jeden um dich herum zu hassen. Diejenigen, die du als stärker und erfolgreicher bezeichnest, mögen dir zwar so erscheinen, aber sie sind nicht wirklich glücklich, denn es gibt einen dunklen Fleck in ihrem Herzen, den sie nicht verleugnen können und der ihre Seele schmerzen läßt. Am Ende graut ihnen dann, weil sie wissen, daß das Dunkel das ist, was ihnen für alle Zeiten bevorsteht.«

»Du hast schon soviel Böses und soviel Krankheit gesehen, Grandmère. Wie kannst du immer noch Hoffnung haben?« fragte ich.

Sie lächelte und seufzte.

»Wenn man die Hoffnung aufgibt, siegen das Böse und die Krankheit über einen, und was soll dann aus einem werden? Gib nie die Hoffnung auf, Ruby. Hör nie auf, um verlorene Hoffnung zu kämpfen«, riet sie mir. »Ich weiß, wie tief du im Moment verletzt bist, und ich weiß auch, wie sehr der arme Paul leidet, aber genauso wie dieser plötzliche Sturm wird das Leiden für dich enden, und die Sonne wird wieder hinter den Wolken hervorkommen.«

»Ich habe mir immer erträumt«, sagte sie, setzte sich neben mich und streichelte mein Haar, »deine Hochzeit würde die magische Hochzeit sein, die aus der Spinnensage der Cajuns. Erinnerst du dich noch daran? Ein reicher Franzose hat für die Hochzeit seiner Tochter Spinnen aus Frankreich importiert und sie zwischen den Eichen und Kiefern freigesetzt, wo sie ihren Baldachin aus Netzen zu weben begannen. Darüber hat er dann Gold- und Silberstaub gesprenkelt, und dann fand eine Prozession bei Kerzenschein statt. Um sie herum hat die ganze Nacht gefunkelt und ihnen ein Leben voller Liebe und Hoffnung versprochen.

Eines Tages wirst du einen gutaussehenden Mann heiraten, der ein Prinz sein könnte, und auch du wirst in den Sternen heiraten«, versprach mir Grandmère. Sie gab mir einen Kuß, und ich schlang die Arme um sie und begrub meinen Kopf an ihrer weichen Schulter. Ich weinte und weinte, und sie streichelte mich und redete mir gut zu. »Weine ruhig, Schätzchen«, sagte sie. »Und wie auf den Sommerregen Sonnenschein folgt, wird es dir auch mit deinen Tränen ergehen.«

»O Grandmère«, stöhnte ich. »Ich weiß nicht, ob ich es schaffe.«

»Du schaffst es«, sagte sie. Sie hob mein Kinn hoch und sah mir in die Augen, und ihre eigenen Augen waren finstere, hypnotische Gestirne, die böse Geister und Zukunftsvisionen erblickt hatten. »Du kannst es schaffen, und du wirst es schaffen«, prophezeite sie.

Der Teekessel pfiff. Grandmère wischte mir die Tränen von den Wangen, gab mir noch einen Kuß und stand dann auf, um uns den Tee einzuschenken.

Später am Abend saß ich in meinem Zimmer am Fenster, schaute auf den aufklarenden Himmel hinaus und fragte mich, ob Grandmère wohl recht hatte. Ich fragte mich, ob ich in den Sternen heiraten würde. Das Glitzern von Gold-und Silberstaub tanzte unter meinen Lidern, als ich den Kopf auf mein Kissen legte, aber direkt vor dem Einschlafen sah ich Pauls verletzte Miene noch einmal vor mir, und dann sah ich, wie das Reh aus dem Sumpf das Maul aufmachte und einen unhörbaren Schrei ausstieß, als es im Gras zusammenbrach.

Ruby

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