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3 Ich wünschte, wir wären eine Familie

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Lm Morgen zogen Grandmère und ich unseren Sonntagsstaat an. Ich bürstete mir das Haar und band es mit einer roten Haarschleife zusammen, dann machten wir uns auf den Weg zur Kirche; Grandmère nahm ihr Geschenk für Rush mit, eine Dose ihrer selbstgebackenen Biskuits. Es war ein strahlend schöner Morgen mit seidigen weißen Wolken, die träge über den nahezu türkisfarbenen Himmel zogen. Ich holte tief Atem und sog die warme Luft in mich ein, die vom Salz des Golfs von Mexiko durchdrungen war. Es war ein Morgen von der Sorte, an denen ich mich fröhlich und lebendig fühlte und alle kleinen Schönheiten des Bayou ganz bewußt wahrnahm.

In dem Moment, in dem wir die Stufen von der Veranda hinunterstiegen, fiel mein Blick auf den scharlachroten Rücken eines Kardinalsvogels, der aufflog und den Schutz seines hochgelegenen Nestes suchte. Als wir über die Straße schlenderten, sah ich, wie die Butterblumen in den Straßengräben aufgeblüht waren und wie milchweiß die kleinen zarten Blüten der wilden Möhren waren.

Sogar der Anblick der Nahrung, die ein Würger zusammengetragen hatte, konnte mir die gute Laune nicht verderben. Vom Frühjahrsanfang bis in den Frühherbst hinein und während des ganzen Sommers trockneten die Tiere, die dieser Vogel gerade erlegt hatte, Eidechsen und winzige Schlangen, auf den Dornen von Sträuchern. Grandpère Jack hatte mir erzählt, daß der Würger das getrocknete Fleisch nur in den Wintermonaten zu sich nahm.

»Würger sind die einzigen Vögel im Bayou, deren Gefährten man nie zu sehen bekommt«, sagte er zu mir. »Die haben keine Weibchen, die ewig an ihnen herumnörgeln. Gescheite Vögel«, fügte er noch an, ehe er Tabaksaft ausspuckte und mit einem Schluck Whiskey gurgelte. Wieder einmal fragte ich mich, woher seine Erbitterung wohl rühren mochte. Ich verweilte jedoch nicht lange bei dieser Überlegung, denn vor uns ragte die Kirche mit einem Kreuz auf den Turmschindeln auf. Jeden einzelnen Stein, jeden Ziegel und jeden Balken des alten Gebäudes hatten die Cajuns, die vor fast einhundertfünfzig Jahren im Bayou ihre Gottesdienste abgehalten hatten, hergebracht und liebevoll aufeinandergeschichtet. Das erfüllte mich mit einer Art Geschichtsbewußtsein und dem Gefühl, ein Erbe zu haben und einer Tradition zu folgen.

Sowie wir um die Ecke bogen und auf die Kirche zugingen, nahm Grandmère Catherine eine aufrechte Haltung ein. Ein Grüppchen wohlhabender Leute stand in einem kleinen Kreis vor der Kirche und plauderte miteinander. Sobald wir in Sicht kamen, riß jegliches Gespräch ab, und alle schauten in unsere Richtung; auf sämtlichen Gesichtern stand ein Ausdruck deutlicher Mißbilligung. Das bewirkte nur, daß Grandmère Catherine den Kopf noch höher in die Luft reckte, um ihren Stolz zu bekunden

»Ich bin ganz sicher, daß sie sich darüber auslassen; wie sehr sich dein Grandpère gestern abend wieder einmal zum Gespött gemacht hat«, murrte Grandmère Catherine, »aber ich lasse nicht zu, daß die Dummheiten und das schlechte Benehmen dieses Mannes meinen Ruf schädigen.«

Das machte sie den versammelten Anwesenden mit ihren Blicken überdeutlich klar. Das Grüppchen schien sich nur zu gern aufzulösen und in die Kirche zu gehen, als der Beginn des Gottesdienstes näherrückte. Ich sah Pauls Eltern, Octavious und Gladys Tate, etwas abseits dastehen. Gladys Tate warf einen Blick in unsere Richtung, und als sie mich ansah, waren ihre Augen hart wie Stein. Paul, der mit ein paar Klassenkameraden geredet hatte, entdeckte mich und lächelte, aber seine Mutter rief ihn zu sich und seinem Vater und seinen Schwestern, als sie die Kirche betraten.

Die Tates saßen wie manche anderen reichen Cajun-Familien ganz vorn, und daher hatten Paul und ich keine Gelegenheit miteinander zu reden, ehe der Gottesdienst begann. Hinterher, als die Kirchgänger in Reih und Glied an Vater Rush vorbeizogen, gab Grandmère ihm ihre Dose Biskuits, und er bedankte sich bei ihr und lächelte spröde.

»Ich habe gehört, daß Sie wieder zu tun hatten, Mrs. Landry«, sagte der große, schlanke Geistliche, und seine Stimme war mit unterschwelliger Kritik unterlegt. »Sie haben Geister in die Nacht gejagt.«

»Ich tue, was ich tun muß«, erwiderte Grandmère mit fester Stimme und zusammengekniffenen Lippen, während sie ihm fest in die Augen sah.

»Solange wir den Aberglauben nicht das Gebet und die Kirche ablösen lassen«, warnte er sie. Dann lächelte er.

»Aber im Kampf gegen den Teufel lehne ich Beistand niemals ab, wenn dieser Beistand von denen kommt, die reinen Herzens sind.«

»Das freut mich, Vater«, sagte Grandmère, und Vater Rush lachte. Dann wurde seine Aufmerksamkeit schnell von den Tates und einigen anderen wohlhabenden Gemeindemitgliedern, die der Kirche beträchtliche Summen spendeten, in Anspruch genommen. Während sie miteinander redeten, schloß sich Paul Grandmère und mir an. Ich fand, das er in seinem dunkelblauen Anzug und mit dem ordentlich zurückgekämmten Haar sehr gut aussah und unglaublich reif wirkte. Sogar Grandmère Catherine schien beeindruckt zu sein.

»Um wieviel Uhr wird bei Ihnen zu Abend gegessen, Mrs. Landry?« fragte Paul. Grandmère Catherine warf einen Blick auf Pauls Eltern, ehe sie antwortete.

»Um sechs Uhr essen wir zu Abend«, sagte Grandmère zu ihm und gesellte sich dann zu ihren Freundinnen, um mit ihnen zu plaudern. Paul wartete, bis sie außer Hörweite war.

»Heute morgen haben alle nur über deinen Großvater geredet«, sagte er zu mir.

»Das konnten Grandmère und ich spüren, als wir hergekommen sind. Haben deine Eltern herausgefunden, daß du mir geholfen hast, ihn nach Hause zu bringen?«

Sein Gesichtsausdruck genügte mir als Antwort.

»Es tut mir leid, wenn du meinetwegen Ärger bekommen hast.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte er eilig. »Ich habe ihnen alles erklärt.« Er lächelte fröhlich. Er war ein unerschütterlicher Optimist und immer heiter, nie so melancholisch, niedergeschlagen oder von Zweifeln befallen, wie ich es oft war.

»Paul«, rief seine Mutter. Ihr Gesicht war zu einer mißbilligenden Maske erstarrt, ihr Mund wie eine nicht ganz gerade Schnittwunde, und ihre Augen waren katzenhafte Schlitze. Ihre Körperhaltung war so steif, daß sie wirkte, als könnte sie plötzlich ein Schauer überlaufen und als würde sie sich dann abwenden und davonstolzieren.

»Ich komme schon«, sagte Paul.

Seine Mutter beugte sich vor, um seinem Vater etwas ins Ohr zu flüstern, und sein Vater schaute in meine Richtung.

Paul hatte sein gutes Aussehen weitgehend von seinem Vater, einem großen Mann von distinguiertem Äußeren, der immer elegant gekleidet und gepflegt war. Er hatte einen kräftigen Mund, ein markantes Kinn und eine gerade Nase, die nicht zu lang und nicht zu schmal war.

»Wir brechen augenblicklich auf«, hob seine Mutter hervor.

»Ich muß jetzt gehen. Wir haben zum Mittagessen Verwandte eingeladen. Ich sehe dich dann später«, versprach Paul und schoß los, um sich seinen Eltern anzuschließen.

Ich schloß mich Grandmère Catherine in dem Moment an, in dem sie Mrs. Livaudis und Mrs. Thibodeau gerade zu Kaffee und Blaubeerkuchen zu uns nach Hause einlud. Da ich wußte, wie langsam sie laufen würden, eilte ich voraus und versprach, den Kaffee schon aufzusetzen. Aber als ich das Haus erreichte, sah ich meinen Großvater an der Bootsanlegestelle, wie er seine Piroge gerade an das Dingi band.

»Guten Morgen, Grandpère«, rief ich. Er blickte langsam auf, als ich näher kam.

Seine Augen waren halb geschlossen, die Lider schwer. Sein Haar war wüst zerzaust, und die Strähnen im Nacken fielen wirr über seinen Kragen. Ich stellte mir vor, daß die Blechtrommel die Paul prophezeit hatte, in Grandpères Kopf ständig geschlagen wurde. Er wirkte übellaunig und müde. Er hatte seine Kleider nicht gewechselt und trug noch die Sachen, in denen er geschlafen hatte, und der schale Geruch des Whiskeys vom vergangenen Abend haftete ihm an.

Grandmère Catherine sagte immer, das Beste, was ihm passieren könnte, sei, daß er in den Sumpf fiel. »Auf die Art käme er wenigstens zu einem Bad.«

»Du hast mich gestern abend in meine Hütte zurückgebracht?«

»Ja, Grandpère. Ich und Paul.«

»Paul? Wer ist Paul?«

»Paul Tate, Grandpère.«

»Oh, der Sohn eines Reichen, was? Diese Konservenleute sind auch nicht viel besser als die Ölbohrer. Die baggern den Sumpf aus, um die Fahrrinnen für ihre verdammten großen Boote zu verbreitern. Mit der Sorte solltest du dich nicht rumtreiben. Von deinesgleichen wollen die nur eines«, warnte er mich.

»Paul ist sehr nett«, sagte ich mir scharfer Stimme. Er knurrte und beschäftigte sich wieder damit, einen Knoten zu binden.

»Du kommst wohl aus der Kirche, was?« fragte er, ohne aufzublicken.

»Ja.«

Er hielt inne und sah zur Straße.

»Ich kann mir denken, daß deine Grandmère immer noch mit diesen anderen Tratschweibern schnattert. Die gehen doch nur deshalb in die Kirche«, behauptete er. »Damit sie Klatsch austauschen können.«

»Es war eine sehr schöne Messe, Grandpère. Warum gehst du eigentlich nie in die Kirche?«

»Das hier ist meine Wahrheit«, verkündete er und wedelte mit seinen langen Fingern über den Sumpf. »Ich lasse mir von keinem Geistlichen über die Schulter gucken, der mir ständig mit der Hölle und der Verdammnis kommt.« Er stieg in das Dingi.

»Möchtest du vielleicht eine Tasse frischen Kaffee, Grandpère? Ich wollte gerade welchen kochen. Grandmère hat ein paar von ihren Freundinnen zu Blaubeerkuchen eingeladen und ...«

»Nein, zum Teufel. Diesen Fischweibern möchte ich nicht mal im Dunkeln begegnen.« Sein Blick fiel auf mich und wurde freundlicher. »Das Kleid steht dir gut«, sagte er. »Du siehst hübsch darin aus. So hübsch, wie deine Mutter war.«

»Danke, Grandpère.«

»Ich vermute, du hast in meiner Hütte auch ein bißchen aufgeräumt, stimmt’s?« Ich nickte. »Tja, noch mal vielen Dank.«

Er griff nach der Schnur, zog daran und ließ den Motor an.

»Grandpère«, sagte ich und ging auf ihn zu. »Gestern abend, nachdem wir dich nach Hause gebracht haben, hast du von jemandem geredet, der verliebt war, und auch über Geld gesprochen.«

Er sah mich fest an und rührte sich nicht von der Stelle, seine Augen wurden ganz schnell zu Granit.

»Was habe ich sonst noch gesagt?«

»Nichts. Aber wovon hast du gesprochen, Grandpère? Wer war verliebt?«

Er zuckte die Achseln.

»Wahrscheinlich habe ich mich an eine der alten Geschichten erinnert, die mir mein Vater über seinen Vater und seinen Großvater erzählt hat. Unsere Familie reicht weit zurück, verstehst du, bis zu den Spielern auf den Flußdampfern«, sagte er nicht ohne einen gewissen Stolz. »Viel Geld ist durch die Hände der Landrys gegangen«, fuhr er fort und hielt seine schlammverschmierten Finger hoch, »und jeder der Landrys hat auf dem Fluß eine ziemlich romantische Gestalt abgegeben. Viele Frauen waren in sie verliebt. Wenn man sie alle aufreihen würde, würde die Schlange von hier bis New Orleans reichen.«

»Verspielst du deshalb dein ganzes Geld? Grandmère sagt, das liegt den Landrys im Blut«, sagte ich.

»Nun, in dem Punkt hat sie nicht unrecht. Ich bin nur kein so guter Spieler, wie es manche meiner Ahnen waren.« er beugte sich lächelnd vor, und dort, wo er sich die Zähne selbst gezogen hatte, wenn die Schmerzen einfach nicht mehr erträglich waren, klafften dunkle Lücken. »Mein Ururgroßvater Gib Landry war ein Spieler, der auf Nummer Sicher gegangen ist. Weißt du, was das heißt?« fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Ein Spieler, der nie verloren hat, weil er mit gezinkten Karten gespielt hat.« Er lachte. »Die nannte man ›Werkzeuge zum eigenen Vorteil‹. Natürlich war er damit ganz enorm im Vorteil.« Er lachte wieder.

»Was ist aus ihm geworden, Grandpère?«

»Er ist auf der Delta Queen erschossen worden. Wenn man gefährlich lebt, dann geht man immer ein Risiko ein«, sagte er und zog an der Schnur. Der Motor stotterte. »Eines Tages, wenn ich die Zeit habe, erzähle ich dir mehr über meine Vorfahren. Trotz allem, was sie dir erzählt«, fügte er hinzu und wies mit einer Kopfbewegung auf unser Haus, »solltest du ein wenig über sie wissen.« Er zog noch einmal an der Schnur, und diesmal sprang der Motor an und begann zu knattern. »Ich muß jetzt los. Ich muß noch Austern fischen.«

»Ich wünschte, du könntest heute zum Abendessen zu uns kommen und Paul kennenlernen«, sagte ich. In Wirklichkeit meinte ich, daß ich wünschte, wir wären eine Familie.

»Was soll das heißen, Paul kennenlernen? Deine Grandmère hat ihn zum Abendessen eingeladen?« fragte er skeptisch.

»Ich habe ihn eingeladen. Sie hat gesagt, ihr sei es recht.«

Er sah mich lange an und wandte sich dann erst wieder dem Motor zu.

»Ich habe keine Zeit für Anstandsbesuche. Ich muß mir meinen Lebensunterhalt verdienen.«

Grandmère Catherine und ihre Freundinnen tauchten hinter uns auf der Straße auf. Ich sah, daß Grandpère Jack sie einen Moment lang betrachtete und sich dann schnell setzte.

»Grandpère«, rief ich, aber er brachte den Motor auf Touren und wendete das Ding, um so schnell wie möglich abzufahren und einen der seichten Tümpel mit dem Brackwasser anzusteuern, die über die Sümpfe verstreut waren Er sah sich nicht noch einmal um. Kurz darauf hatte der Sumpf ihn geschluckt, und nur noch das Tuckern seines Motors war zu hören, als er sich seinen Weg durch die verschlungenen Kanäle bahnte.

»Was wollte er?« fragte Grandmère Catherine

»Er hat nur sein Dingi geholt.«

Sie richtete den Blick starr auf sein Kielwasser, als erwartete sie, er würde noch einmal auftauchen. Finster kniff sie die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, als wollte sie mit ihrer Willenskraft den Sumpf dazu bringen, daß er ihn für alle Zeiten schluckte. Bald was das Motorengeräusch nicht mehr zu hören, und Grandmère Catherine richtete sich wieder auf und lächelte ihre beiden Freundinnen an. Sie nahmen ihre Unterhaltung wieder auf und gingen ins Haus, aber ich blieb noch einen Moment draußen und fragte mich, wie diese beiden Menschen jemals verliebt genug gewesen sein konnten, um zu heiraten und eine Tochter zu bekommen. Wie konnte Liebe oder das, was man für Liebe hielt, einen so blind für die Schwächen des anderen werden lassen?

Am späteren Nachmittag, als Grandmère Catherines Freundinnen gegangen waren, half ich ihr, unser Abendessen zuzubereiten. Ich hätte ihr gern noch mehr Fragen zu Grandpère Jack gestellt, aber solche Fragen bewirkten gewöhnlich, daß ihre Laune sich verschlechterte. Da Paul zum Abendessen kommen würde, wollte ich das nicht riskieren.

»Wir kochen heute abend nichts Besonderes, Ruby«, sagte sie zu mir. »Ich hoffe, du hast den kleinen Tate nicht in diesem Glauben gewiegt.«

»O nein, Grandmère. Außerdem ist Paul nicht so ein Junge. Man käme gar nicht darauf, daß er aus einer reichen Familie stammt. Er ist ganz anders als seine Mutter und seine Schwestern. In. der Schule sagen alle, daß sie hochnäsig sind, aber Paul ist nicht so.«

»Mag sein, aber wenn man so lebt wie die Tates, dann erwartet man gewisse Dinge und setzt sie als selbstverständlich voraus. Das liegt in der menschlichen Natur. Je mehr du ihn in deiner Vorstellung verklärst, Ruby, desto tiefer wird es dich treffen, wenn er dich enttäuscht«, warnte sie mich.

»Davor habe ich keine Angst, Grandmère«, sagte ich mit einer solchen Gewißheit, daß sie die Arbeit niederlegte, um mich anzusehen.

»Du warst doch ein braves Mädchen, Ruby, oder nicht?«

»O doch, Grandmère.«

»Vergiß bloß nie, was deiner Mutter zugestoßen ist«, ermahnte sie mich.

Eine Zeitlang fürchtete ich, Grandmère Catherine würde während unseres gemeinsamen Abendessens diese Wolke der Bedrohung ständig über dem Haus schweben lassen, doch trotz ihrer Behauptung, es gäbe nichts Besonderes, bereiteten nur wenige Dinge Grandmère Catherine soviel Freude, wie für jemanden zu kochen, bei dem sie voraussetzen konnte, daß er es zu schätzen wußte. Sie machte sich daran, eines ihrer besten Cajun-Gerichte zuzubereiten: Jambalaya. Während ich ihr dabei half, buk Grandmère eine Sahnetorte.

»War meine Mutter auch eine gute Köchin, Grandmère?« fragte ich sie.

»O ja«, sagte sie und lächelte bei der Erinnerung daran. »Niemand hat Rezepte so schnell erlernt und so gut nachgekocht wie deine Mutter. Sie hat schon Gumbo gekocht, als sie noch keine neun Jahre alt war, und als sie zwölf war, konnte niemand ein so gutes Jambalaya zubereiten wie sie. Als dein Grandpère Jack noch so etwas Ähnliches wie ein Mensch war«, fuhr sie fort, »ist er oft mit Gabrielle ausgegangen und hat ihr gezeigt, was alles an Eßbarem in den Sümpfen wächst. Sie war sehr schnell von Begriff, und du weißt ja, was man uns Cajuns nachsagt«, fügte Grandmère hinzu. »Wir essen alles, was uns nicht vorher frißt.«

Sie lachte und summte eines ihrer Lieblingslieder. Sonntags machten wir ohnehin immer Hausputz, aber an diesem Sonntag verwendete ich mehr Energie und Sorgfalt als sonst darauf. Ich putzte die Fenster, bis sie blitzblank waren, ich schrubbte die Böden, bis sie glänzten, und ich staubte gründlich ab und polierte alles, was sich polieren ließ.

»Man könnte meinen, der König von Frankreich käme heute abend«, neckte mich Grandmère. »Ich warne dich, Ruby, schraub die Erwartungen dieses Jungen nicht so hoch, daß du sie nicht mehr erfüllen kannst.«

»Das tue ich ganz bestimmt nicht, Grandmère«, sagte ich, aber in tiefster Seele hoffte ich, Paul derart beeindrucken zu können, daß er bei seinen Eltern prahlte, bis sie ihren Widerstand gegen unsere Freundschaft aufgaben.

Gegen Abend blinkte unsere kleine Hütte nahezu, und es duftete köstlich. Als die Uhrzeiger langsam näher auf sechs Uhr zurückten, wurde ich immer aufgeregter. Ich hoffte, Paul würde zu früh kommen, und daher setzte ich mich vor das Haus, verbrachte dort die letzte Stunde und schaute gebannt in die Richtung, aus der er kommen würde. Der Tisch war gedeckt, und ich hatte mein bestes Kleid an. Grandmère Catherine hatte es selbst genäht. Es war weiß, mit breiter Spitze gesäumt und vorn mit Spitze besetzt. Die Ärmel waren weiche Glocken aus Spitze, die bis auf meine Ellbogen reichten. Um die Taille trug ich eine blaue Schärpe.

»Ich bin froh, daß ich das Oberteil erst kürzlich ausgelassen habe«, sagte sie, als sie mich sah. »So, wie dein Busen wächst. Dreh dich um«, sagte sie und strich mir den Rock hinten glatt. »Ich muß schon sagen, du entwickelst dich zu einer echten Schönheit, Ruby. Du bist sogar noch schöner, als deine Mutter es in deinem Alter war.«

»Ich hoffe, wenn ich erst in deinem Alter bin, sehe ich so hübsch aus wie du, Grandmère«, erwiderte ich. Sie schüttelte den Kopf und lächelte.

»Jetzt hör aber auf. Mit mir kann man einen Sumpffalken zu Tode erschrecken«, sagte sie und lachte, aber zum ersten Mal brachte ich Grandmère Catherine dazu, daß sie mir von ihren früheren Freunden und einigen Fais Dodos erzählte, die sie besucht hatte, als sie in meinem Alter gewesen war.

Als es sechs Uhr schlug, schaute ich voller Vorfreude auf und rechnete damit, wenige Momente später das Surren von Pauls Motorroller zu hören. Dazu kam es jedoch nicht, und auf der Straße blieb alles still. Nach einer kleinen Weile kam Grandmère an die Tür und schaute selbst hinaus. Sie warf einen betrübten Blick auf mich und kehrte in die Küche zurück, um noch ein paar letzte Handgriffe vorzunehmen. Mein Herz begann, heftiger zu schlagen. Die Brise wuchs sich zu einem richtigen Wind aus; alle Bäume rauschten mit den Zweigen. Wo steckte er bloß? Etwa um sieben machte ich mir die größten Sorgen, und als Grandmère Catherine wieder in der Tür auftauchte, stand auf ihrem Gesicht ein Ausdruck fatalistischer Schicksalsergebenheit.

»Es sieht ihm gar nicht ähnlich, daß er zu spät kommt«, sagte ich »Ich hoffe nur, daß ihm nichts zugestoßen ist.«

Grandmère Catherine erwiderte nichts darauf; das war auch gar nicht nötig. Ihre Augen sagten alles.

»Du solltest jetzt besser reinkommen und dich an den Tisch setzen, Ruby. Wir haben das Essen gekocht, und wir wollen es uns auch so schmecken lassen.«

»Er kommt noch, Grandmère. Ich bin ganz sicher, daß er kommt. Es muß etwas Unerwartetes vorgefallen sein«, rief ich aus. »Laß mich noch ein ganz kleines Weilchen warten«, flehte ich. Sie ging ins Haus, aber um Viertel nach sieben tauchte sie wieder in der Tür auf.

» Länger können wir nicht mehr warten«, teilte sie mir mit.

Niedergeschlagen und vollkommen appetitlos stand ich auf und ging ins Haus. Grandmère Catherine sagte nichts. Sie servierte das Essen und setzte sich.

»Das Essen ist wirklich außerordentlich gut gelungen«, erklärte sie. Dann beugte sie sich zu mir vor und fügte hinzu: »Einer muß es ja schließlich sagen.«

»Oh, es ist einfach wunderbar, Grandmère. Ich mache mir nur einfach... Sorgen um ihn.«

»Dann mach dir eben mit vollem Magen Sorgen um ihn«, ordnete sie an. Ich mußte mich zwingen, etwas zu essen, und trotz meiner Enttäuschung schmeckte mir Grandmère Catherines Sahnetorte wirklich gut. Ich half ihr beim Abspülen, und dann ging ich wieder ins Freie und setzte mich auf die Veranda, wartete, schaute hinaus und fragte mich, was wohl vorgefallen war und mir einen Abend verdorben hatte, der wunderbar hätte werden sollen. Fast eine Stunde später hörte ich Pauls Motorroller und sah ihn mit Höchstgeschwindigkeit auf der Straße näher kommen. Er fuhr vor, ließ seinen Motorroller unsanft fallen und kam auf das Haus zugerannt.

»Was ist passiert?« rief ich und sprang auf.

»O Ruby, es tut mir ja so leid. Meine Eltern... sie haben mir verboten herzukommen. Mein Vater hat mich in mein Zimmer geschickt, als ich mich geweigert habe, mit ihnen zu Abend zu essen. Schließlich habe ich mich dann entschieden, aus dem Fenster zu steigen und trotzdem herzukommen. Ich muß mich bei deiner Großmutter entschuldigen.«

Ich ließ mich auf die Stufen der Veranda sinken.

»Warum wollten sie dir nicht erlauben herzukommen?« fragte ich. »Wegen meines Großvaters und dem Vorfall gestern abend in der Stadt?«

»Ja... aber auch wegen anderer Dinge. Aber mir ist ganz gleich, wie wütend sie auf mich werden«, sagte er und setzte sich neben mich. »Sie sind einfach dumme Snobs.«

Ich nickte. »Grandmère hat gesagt, daß es so kommen wird. Sie hat es gewußt.«

»Ich werde nicht zulassen, daß sie mich von dir fernhalten, Ruby. Dazu haben sie kein Recht. Sie...«

»Sie sind deine Eltern, Paul. Du mußt tun, was sie dir vorschreiben. Du solltest jetzt besser wieder nach Hause fahren«, sagte ich trocken. Mein Herz kam mir vor, als hätte es sich in einen Klumpen Schlamm aus dem Sumpf verwandelt. Es war, als hätte ein grausames Schicksal eine Decke trister Trostlosigkeit über das Bayou geworfen, und, wie Grandmère Catherine oft sagte, das Schicksal war ein grimmiger Schnitter, der niemals gütig war und kaum Respekt davor zeigte, wer geliebt und gebraucht wurde.

Paul schüttelte den Kopf. Jahre schienen von ihm abzufallen, und er saß so hilflos und verletzbar wie ein Kind von sechs oder sieben Jahren da und verstand auch nicht mehr als ich.

»Ich werde uns nicht aufgeben, Ruby. Ich denke gar nicht daran«, beharrte er. »Sie können mir alles nehmen, was sie mir je gegeben haben, und ich werde trotzdem nicht auf sie hören.«

»Deshalb werden sie mich nur um so mehr hassen, Paul«, schlußfolgerte ich.

»Das macht nichts. Was zählt, ist, daß wir einander mögen. Bitte, Ruby«, sagte er und nahm meine Hand. »Sag, daß ich recht habe.«

»Ich wünsche es mir, Paul.« Ich schlug die Augen nieder. »Aber ich habe Angst.«

»Fürchte dich nicht«, sagte er zu mir und streckte die Hand aus, um meinem Kopf zu sich zu ziehen. »Ich lasse nicht zu, daß dir etwas Böses zustößt.«

Ich starrte ihn aus riesengroßen sehnsüchtigen Augen an. Wie konnte ich es ihm erklären? Ich sorgte mich nicht um mich. Ich machte mir Sorgen um ihn, denn, wie Grandmère Catherine mir immer wieder sagte, wenn man sich dem Schicksal widersetzte, dann zog das nur Katastrophen für jene nach sich, die man liebte. Dem Schicksal trotzen zu wollen war so vergeblich, als versuchte man, die Flut aufzuhalten.

»In Ordnung?« bohrte Paul weiter. »Ist alles gut?«

»O Paul.«

»Dann wäre das also geklärt. Und jetzt«, sagte er und er stand auf, »gehe ich zu deiner Großmutter und entschuldige mich bei ihr.«

Ich erwartete ihn auf der Treppe. Ein paar Minuten später kam er wieder.

»Es sieht so aus, als sei mir ein echtes Festmahl entgangen. Ich bin ja so wütend«, sagte er und schaute mit Augen auf die Straße hinaus, die so erzürnt waren, wie ich es nur von Grandpère Jack kannte. Mir war nicht wohl dabei zumute, daß er seine Eltern haßte. Wenigstens hatte er Eltern, ein Zuhause, eine Familie. Er hätte an diesen Dingen festhalten und sie nicht für meinesgleichen aufs Spiel setzen sollen, fand ich. »Meine Eltern sind unsachlich und unvernünftig«, erklärte er mit fester Stimme.

»Sie versuchen nur zu tun, was sie für das Beste für dich halten, Paul«, sagte ich.

»Für mich gibt es nichts Besseres als dich, Ruby«, erwiderte er eilig. »Das werden sie einfach einsehen müssen.« Seine blauen Augen funkelten vor Entschlossenheit. »Und jetzt sollte ich mich lieber auf den Rückweg machen«, sagte er. »Es tut mir wirklich leid, daß ich dir das Abendessen verdorben habe, Ruby«, sagte er.

»Laß uns nicht mehr darüber reden, Paul.« Ich stand auf, und wir schauten einander lange an. Welche Befürchtungen hatten die Tates für Paul, wenn er mich liebte? Glaubten sie tatsächlich, mein Landry-Blut würde ihn verderben? Oder wollten sie lediglich, daß er nur Mädchen aus reichen Familien kennenlernte?

Er nahm meine Hand in seine.

»Ich schwöre dir«, sagte er, »ich werde nie mehr zulassen, daß sie dich noch einmal verletzen.«

»Stell dich nicht gegen deine Eltern, Paul. Ich bitte dich«, flehte ich.

»Ich stelle mich nicht gegen sie; sie stellen sich gegen mich«, erwiderte er. »Gute Nacht«, sagte er und beugte sich vor, um mich kurz auf die Lippen zu küssen. Dann lief er zu seinem Motorroller und fuhr in die Nacht hinaus. Ich sah ihm nach, als er in der Dunkelheit verschwand. Als ich mich umdrehte, sah ich Grandmère Catherine in der Tür stehen.

»Er ist ein netter junger Mann«, sagte sie, »aber du kannst einen Cajun nicht seiner Mutter und seinem Vater entreißen. Es zerreißt ihm das Herz. Laß nicht dein ganzes Herz in diese Sache fließen, Ruby. Manches soll eben nicht sein«, fügte sie noch hinzu, und dann drehte sie sich um und ging wieder ins Haus.

Ich stand da, und die Tränen strömten über mein Gesicht. Zum ersten Mal verstand ich, warum Grandpère Jack gern im Sumpf fernab von Menschen lebte.

Trotz des Vorfalls am Sonntag setzte ich immer noch große Hoffnungen in das Fais Dodo am Samstag darauf. Wenn ich jedoch dieses Thema bei Grandmère zur Sprache brachte, erwiderte sie schlichtweg: »Wir werden es ja sehen.« Am Freitag abend drängte ich sie dann.

»Paul muß wissen, ob er vorbeikommen und mich abholen darf, Grandmère. Es ist nicht fair, ihn wie einen Fisch an der Angel zappeln zu lassen«, sagte ich. Das waren Worte, die Grandpère Jack gesagt hätte, aber ich war so frustriert und bange, daß ich es riskierte.

»Ich will ganz einfach nicht, daß du noch einmal enttäuscht wirst, Ruby«, sagte sie zu mir. »Seine Eltern werden ihm nicht erlauben, mit dir hinzugehen, und wenn er sich ihnen widersetzt und es doch tut, werden sie nur wütend. Auf mich wären sie dann auch böse.«

»Warum, Grandmère? Wie könnten sie dir die Schuld dann geben?«

»Sie täten es eben«, sagte sie. »Das täte jeder. Ich bringe dich selbst hin«, sagte sie und nickte. »Mrs. Bourdeaux geht auch hin, und wir beide können uns dann zusammensetzen und euch jungen Leuten zuschauen. Und überhaupt ist es schon eine ganze Weile her, seit ich das letzte Mal gute Cajun-Musik gehört habe.«

»O Grandmère« stöhnte ich. »Mädchen in meinem Alter gehen dort mit Jungen hin; manche gehen schon seit mehr als einem Jahr fest mit einem Jungen. Das ist nicht gerecht. Ich bin fünfzehn. Ich bin doch kein Baby mehr.«

»Das habe ich auch nicht behauptet, Ruby, aber...«

»Du behandelst mich aber so«, rief ich aus, rannte in mein Zimmer und warf mich auf mein Bett.

Vielleicht war ich doch schlechter als andere dran, weil ich bei einer Großmutter lebte, die eine spirituelle Heilerin war, in jedem finsteren Winkel böse Geister und Gefahren witterte, immer Gebete und Losungen summte, Kerzen anzündete und anderen Leuten Totems an die Türen hängte. Vielleicht hielten uns die Tates ganz einfach für eine Familie von Verrückten, und deshalb wollten sie Paul von mir fernhalten.

Warum hatte meine Mutter bloß so jung sterben müssen, und warum hatte mich mein Vater im Stich gelassen? Ich hatte einen Großvater, der wie ein Tier mitten in den Sümpfen lebte, und eine Großmutter, die mich für ein kleines Kind hielt. In meine Traurigkeit mischte sich plötzlich helle Wut. Hier stand ich jetzt, war fünfzehn Jahre alt, und andere Mädchen in meinem Alter, die weit weniger hübsch waren als ich, hatten ihren Spaß an echten Rendezvous, doch ich mußte davon ausgehen, im Schlepptau meiner Großmutter zum Fais Dodo zu gehen. Nie zuvor war mir so sehr wie in dem Moment danach zumute gewesen, einfach fortzulaufen.

Ich hörte, daß Grandmère die Treppe hochkam, und ihre Schritte waren schwerer als sonst. Sie klopfte sachte an meine Tür und schaute hinein. Ich drehte mich nicht zu ihr um.

»Ruby«, setzte sie an. »Ich versuche doch nur, dich zu beschützen.«

»Ich will nicht von dir beschützt werden«, fauchte ich. »Ich kann auf mich selbst aufpassen. Ich bin kein Baby«, beharrte ich.

»Man braucht kein Baby zu sein, um Schutz zu brauchen«, erwiderte sie mit matter Stimme. »Starke Männer weinen oft ihren Müttern nach.«

»Ich habe keine Mutter!« warf ich ihr an den Kopf und bereute die Worte, sowie sie über meine Lippen gekommen waren.

Grandmères Augen wurden traurig, und ihre Schultern sackten herunter. Plötzlich erschien sie mir alt. Sie legte sich die Hand aufs Herz, holte tief Atem und nickte.

»Ich weiß, Kind. Deshalb bemühe ich mich ja so sehr, alles richtig zu machen und nur das Beste für dich zu wollen. Ich weiß, daß ich dir nicht auch noch eine Mutter sein kann, aber ich kann einige der Dinge tun, die eine Mutter täte. Das ist nicht genug; es ist nie genug, aber...«

»Ich wollte damit nicht sagen, daß du nicht genug für mich tust, Grandmère. Es tut mir leid, aber ich will unbedingt mit Paul zu dieser Tanzveranstaltung gehen. Ich will wie eine junge Frau behandelt werden und nicht mehr wie ein Kind. Hast du dir das denn nicht auch gewünscht, als du in meinem Alter warst?« fragte ich. Sie starrte mich lange an und seufzte dann.

»Also gut«, sagte sie. »Wenn der kleine Tate mit dir hingehen kann, darfst du mit ihm hingehen, aber du mußt mir versprechen, gleich nach dem Tanz nach Hause zu kommen.«

»Ganz bestimmt, Grandmère. Ganz bestimmt. Ich danke dir.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wenn man jung ist«, begann sie, »will man sich nicht damit abfinden, daß die Dinge so sind, wie sie sind. Die Jugend gibt einem die Kraft, sich zu widersetzen, aber Trotz führt nicht immer zum Sieg, Ruby. Er führt häufiger zu Niederlagen. Wenn man seinem Schicksal von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, dann darf man ihm nicht schnurstracks an die Gurgel gehen. Das gefällt ihm; es tut sich daran gütlich, denn es hat einen unersättlichen Appetit auf sture, dumme Seelen.«

»Das verstehe ich nicht, Grandmère«, sagte ich.

»Du wirst es noch verstehen«, sagte sie in ihrem gewichtigen prophetischen Tonfall. »Eines Tages wirst du es verstehen.« Dann richtete sie sich auf und seufzte wieder. »Ich denke, jetzt sollte ich wohl besser dein Kleid bügeln«, sagte sie.

Ich wischte mir die Tränen von den Wangen und lächelte.

»Danke, Grandmère, aber das kann ich auch selbst tun.«

»Nein, das ist schon in Ordnung. Ich bin froh, wenn ich etwas zu tun habe«, sagte sie und ging zur Tür hinaus. Sie ließ den Kopf immer noch tiefer hängen als sonst.

Den ganzen Samstag über war ich mir unschlüssig, was ich mit meinem Haar anfange sollte. Sollte ich es glatt zurückbürsten und mit einer Schleife auf dem Rücken zusammenbinden, oder sollte ich es zu einem französischen Knoten hochstecken? Schließlich bat ich Grandmère, mir dabei zu helfen, mein Haar aufzustecken.

»Du hast ein so hübsches Gesicht«, sagte Grandmère Catherine. »Du solltest dir das Haar öfter aus dem Gesicht bürsten. Du wirst noch viele nette Freunde haben«, fügte sie hinzu, eher um sich selbst zu beschwichtigen, als um mir eine Freude zu machen, hatte ich den Eindruck. »Denk also immer daran, dein Herz nicht zu schnell zu verschenken.« Sie nahm meine Hand in ihre beiden und sah mich fest aus traurigen und müden Augen an. »Versprichst du mir das?«

»Ja, Grandmère«, sagte ich. »Grandmère, ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst schon den ganzen Tag sehr müde aus.«

»Das sind nur diese alten Rückenschmerzen und der beschleunigte Herzschlag, den ich ab und zu habe. Nichts Ungewöhnliches«, sagte sie.

»Ich wünschte, du bräuchtest nicht so hart zu arbeiten, Grandmère. Grandpère Jack sollte mehr für uns tun, statt sein Geld zu vertrinken oder es zu verspielen«, bekundete ich.

»Er kann für sich selbst schon nichts tun und für uns erst recht nichts. Außerdem will ich von ihm nichts haben. Sein Geld ist schmutzig«, sagte sie mit fester Stimme.

»Wieso ist sein Geld schmutziger als das anderer Fallensteller im Bayou, Grandmère?«

»Es ist so«, beharrte sie. »Wir wollen jetzt nicht mehr darüber reden. Wenn etwas mein Herz wie eine Trommel bei einer Militärparade schlagen läßt, dann das.«

Ich schluckte meine Fragen herunter, weil ich Angst hatte, ich könnte sie damit noch kränker und müder machen. Statt dessen zog ich mir mein Kleid an und putzte meine Schuhe. Da das Wetter unbeständig war und immer wieder Regenschauer herunterkamen und kräftige Winde wehten, würde Paul heute abend einen Wagen seiner Familie nehmen. Er hatte mir erzählt, seinem Vater sei es recht, aber ich hatte das Gefühl, er hätte seinen Eltern nicht alles gesagt. Ich fürchtete mich einfach zu sehr davor, ihn danach zu fragen und zu riskieren, daß wir nicht zusammen tanzen gingen. Als ich ihn vorfahren hörte, eilte ich zur Tür. Grandmère Catherine folgte mir und blieb direkt hinter mir stehen.

»Er ist da«, rief ich.

»Sag ihm, er soll langsam fahren und dich gleich nach dem Tanz wieder nach Hause bringen«, sagte Grandmère.

Paul sprang auf die Veranda. Der Regen hatte wieder eingesetzt, und daher hatte er einen Schirm für mich aufgespannt.

»Hiimmel, Ruby, du siehst aber hübsch aus heute abend«, sagte er und sah dann Grandmère Catherine, die hinter mir herauskam. »Guten Abend, Mrs. Landry.«

»Bringen Sie sie früh wieder nach Hause«, ordnete sie an.

»Ja, Ma’am.«

»Und fahren Sie vorsichtig.«

»Ganz bestimmt.«

»Bitte, Grandmère«, stöhnte ich. Sie biß sich auf die Lippen, um sich zum Schweigen zu bringen, und ich beugte mich vor und gab ihr einen Kuß auf die Wange.

»Viel Spaß«, murmelte sie. Ich rannte aus dem Haus, suchte Schutz unter Pauls Schirm, und wir eilten zum Wagen. Als ich mich umsah, stand Grandmère Catherine noch in der Tür und sah uns nach, aber sie kam mir soviel kleiner und älter vor als sonst. Es war, als bedeutete mein Heranwachsen, daß sie schneller alt werden mußte. Inmitten meiner freudigen Aufregung, einer Spannung, die den regnerischen Abend wie eine klare Sternennacht erscheinen ließ, streifte eine kleine Wolke der Traurigkeit mein begeistertes Herz und ließ mich eine Sekunde lang erschauern. Aber in dem Moment, in dem Paul losfuhr, erstickte ich meine Beklommenheit und sah nur noch Freude und Spaß auf mich zukommen.

Der Fais-Dodo-Saal war am anderen Ende der Stadt. Sämtliche Möbel waren aus dem großen Saal geräumt worden, abgesehen von den Bänken für die älteren Leute. In einem kleinen angrenzenden Raum standen große Töpfe mit Gumbo auf Tischen. Wir hatten keine richtige Bühne; die Musiker, die Akkordeon, Fiedel, Triangel und Gitarre spielten, fanden auf Podien Platz. Es gab auch einen Sänger.

Die Leute waren aus dem ganzen Bayou hergekommen, und viele Familien hatten auch ihre kleinen Kinder mitgebracht. Die ganz Kleinen wurden in einem anderen angrenzenden Raum schlafen gelegt. Tatsächlich war Fais Dodo bei den Cajuns in der Kindersprache das Wort für Schlafengehen, was hieß, daß man alle kleinen Kinder ins Bett packte, damit die älteren Leute tanzen konnten. Manche Männer spielten ein Kartenspiel, das Bourré genannt wurde, während ihre Frauen und die älteren Kinder das tanzten, was wir Twostep nannten.

Paul und ich hatten den Fais-Dodo-Saal gerade erst betreten, als ich schon das Flüstern und Tuscheln der Leute hören konnte, die Vermutungen anstellten – was wollte Paul Tate von einem der ärmsten jungen Mädchen im ganzen Bayou? Paul schien die Blicke und das Getuschel nicht so deutlich wahrzunehmen wie ich, oder wenn es ihm doch auffiel, dann störte er sich eben nicht daran. Nach unserem Eintreffen begaben wir uns sofort auf die Tanzfläche. Ich sah, daß manche meiner Freundinnen uns neidisch anschauten, denn so ziemlich jede von ihnen hätte es toll gefunden, von Paul Tate zu einem Fais Dodo eingeladen zu werden.

Wir tanzten einen Tanz nach dem anderen und klatschten nach jedem Lied laut Beifall. Die Zeit verging so schnell, daß wir gar nicht merkten, daß wir schon fast eine Stunde getanzt hatten, als wir beschlossen, etwas zu essen und zu trinken. Wir lachten und hatten das Gefühl, außer uns beiden gäbe es niemanden sonst, als wir aufbrachen, um uns Erfrischungen zu holen. Keiner von uns beiden nahm die Gruppe von Jungen wahr, die uns, angeführt von Turner Browne, einem der größten Maulhelden der ganzen Schule, folgte. Er war ein stämmiger Siebzehnjähriger mit einem Stiernacken, einem dichten dunkelbraunen Haarschopf und grobgeschnittenen Gesichtszügen. Es hieß, seine Familie ginge auf die Schiffer zurück, die mit Flachbooten den Mississippi schon lange vor den Dampfschiffen befahren hatten. Die Prahmstaker waren rauhes, brutales Pack und man behauptete, die Brownes hätten deren Charakterzüge geerbt. Turner wurde dem Ruf der Familie gerecht und zettelte in der Schule eine Schlägerei nach der anderen an.

»He, Tate«, sagte Turner Browne, nachdem wir uns Schalen mit Gumbo geholt hatten und an einer Ecke eines Tisches saßen. »Weiß deine Mommy, daß du heute abend einen Abstecher in die Elendsquartiere unternimmst?«

Turners Freunde lachten, Pauls Gesicht lief knallrot an. Langsam erhob er sich.

»Ich glaube, Turner, du nimmst das besser zurück und entschuldigst dich.«

Turner Browne lachte. »Was willst du schon tun, Tate, mich bei deinem Daddy verpetzen?«

Wieder lachten Turners Freunde. Ich hob eine Hand und zog an Pauls Ärmel. Er hatte ein rotes Gesicht und war so wütend, daß er wirkte, als würde er gleich Dampf ablassen.

»Beachte ihn nicht, Paula, sagte ich. »Er ist so dumm, daß er es nicht wert ist.«

»Halt den Mund«, sagte Turner. »Ich weiß wenigstens, wer mein Vater ist.«

Daraufhin schoß Paul vor, stürzte sich auf den weit stämmigeren Jungen und schlug ihn zu Boden. Augenblicklich johlten Turners Freunde, bildeten einen Kreis um Paul und Turner und versperrten jedem den Weg, der hätte hinzukommen und der Rauferei ein schnelles Ende setzen wollen. Turner gelang es, sich auf Paul zu wälzen, ihn auf den Rücken zu legen und sich auf seinen Bauch zu setzen. Er versetzte Paul einen Hieb auf die rechte Wange, der sie fast augenblicklich anschwellen ließ. Paul konnte Turners nächsten Schlag abwehren, als die älteren Männer hinzukamen und ihn von Paul zerrten. Als er aufstand, blutete Pauls Unterlippe.

Was geht hier vor?« fragte Mr. Lafourche barsch. Er war der Saalhüter.

»Er hat mich angegriffen«, sagte Turner anklagend und deutete auf Paul.

»Das ist nicht die ganze Wahrheit«, sagte ich. »Er...«

»Schon gut, schon gut«, sagte Mr. Lafourche. »Mir ist egal, wer hier was getan hat. Aber so etwas kommt in meinem Saal nicht in Frage. Und jetzt verschwindet von hier. Los, Browne, verzieh dich mit deiner ganzen Bande, ehe ich euch alle einsperren lasse.«

Lächelnd wandte Turner Browne sich ab und führte seine Schar von Anhängern fort. Ich feuchtete eine Serviette an und tupfte Pauls Lippen sachte damit ab.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe die Selbstbeherrschung verloren.«

»Du hättest es nicht tun sollen. Er ist viel kräftiger als du.«

»Mir ist egal, wie kräftig er ist. Ich erlaube ihm nicht, solche Dinge zu dir zu sagen«, erwiderte Paul tapfer. Seine Wange war so dunkelrot und angeschwollen, daß ich um ihn hätte weinen können. Alles war so schön gewesen; wir hatten soviel Spaß gehabt. Warum mußte es immer jemanden wie Turner Browne geben, der einem alles verdarb?

»Laß uns gehen«, sagte ich.

»Wir können immer noch hierbleiben und weitertanzen.«

»Nein. Wir sollten lieber deine Schwellungen behandeln. Grandmère Catherine hat bestimmt etwas, was sie schnell abheilen läßt«, sagte ich.

»Sie wird enttäuscht von mir sein, und sicher ist sie wütend, weil ich mich in eine Schlägerei einlasse, wenn ich mit dir ausgehe«, stöhnte Paul. »Diesen Turner Browne soll der Teufel holen.«

»Nein, sie wird nicht böse sein. Sie wird stolz auf dich sein, stolz darauf, wie du mich verteidigt hast«, sagte ich.

»Das glaubst du wirklich?«

»Ja«, sagte ich, obwohl ich keineswegs sicher war, wie Grandmère reagieren würde. »Deine Eltern werden auch licht sehr böse auf dich sein, wenn sie dein Gesicht wieder einigermaßen hinkriegt, stimmt’s?«

Er nickte und lachte dann.

»Ich sehe furchtbar aus, was?«

»Nicht viel besser als jemand, der mit einem Alligator gerungen hat, nehme ich an.«

Wir lachten beide und verließen dann den Saal. Turner Browne und seine Freunde waren bereits gegangen; sicher tranken sie irgendwo Bier und brüsteten sich voreinander mit ihren Heldentaten, und daher gab es keinen Ärger mehr. Der Regen war stärker geworden, als wir zum Haus zurückfuhren. Paul fuhr so nah wie möglich vor, und dann eilten wir unter dem Schirm ins Haus. In dem Moment, in dem wir zur Tür hereinkamen, sah Grandmère Catherine von ihrer Handarbeit auf und nickte.

„Es war dieser Maulheld, Turner Browne, Grandmère. Er...«

Sie hob die Hand, stand von ihrem Stuhl auf und trat an die Anrichte, auf der sie einige ihrer Heilpackungen bereitgelegt hatte, als hätte sie unsere dramatische Rückkehr vorausgesehen. Es war gespenstisch. Sogar Paul war sprachlos.

»Setzen Sie sich«, sagte sie zu ihm und deutete auf einen Stuhl. »Nachdem ich ihn behandelt habe, könnt ihr es mir genauer erzählen.«

Paul sah mich aus weit aufgerissenen Augen an und setzte sich dann hin, um Grandmère Catherine ihre Wunder vollbringen zu lassen.

Ruby

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