Читать книгу Helen Sterling und das Geheimnis der Lady Jane Grey - Victoria Lancaster - Страница 10

Kapitel 6

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Das Ta­xi mit den bei­den Frau­en an Bord fuhr in der Bromp­ton Ro­ad vor.

»Schau He­len, dass nen­ne ich jetzt stil­echt. Du wirst dich wun­dern, wer sich hier alles so tum­melt.« He­len schau­te nach oben und die Rek­la­me des Luxus­kauf­hau­ses Har­rods strahl­te ihr ent­ge­gen. Ein freund­li­cher Mann im An­zug öff­ne­te ih­nen die Tür und wünsch­te ih­nen ei­nen an­ge­neh­men Auf­ent­halt. Sie gin­gen an sünd­haft teu­ren Hand­taschen vor­bei. Ob ro­te, grü­ne, schwar­ze oder pin­ke Taschen. Je­de Far­be war hier ver­tre­ten. Aus Büf­fel­leder oder Kro­ko­dil, als Ba­gu­et­te-Ta­sche oder Clutch, je­der Frau­en­wunsch wur­de hier er­füllt. Hin­ter je­der The­ke lä­chel­ten adrett ge­klei­de­te Damen, die ih­nen die Pro­duk­te prä­sen­tier­ten. He­len hak­te sich bei Ti­ta­nia un­ter, aber nur, um ih­re Freun­din de­zent weiter zu zie­hen. Sie wuss­te ex­akt, wie an­fäl­lig sie für Taschen und Schu­he war. Gern zeig­te sie auf ei­ne Ta­sche und sag­te Sät­ze wie: »Aber ge­nau SO ei­ne be­sit­ze ich noch nicht!« Ti­ta­nia muss­te sich noch nie Ge­dan­ken um Geld ma­chen. Wo­her das Ver­mö­gen der Fa­mi­lie stamm­te, wuss­te He­len aber nicht. Vor­aus­set­zung für die el­ter­li­che Für­sor­ge war aller­dings ein ab­ge­schloss­enes Stu­di­um. So ent­schied sich Ti­ta­nia da­mals für Ge­schich­te an der Uni­ver­si­tät.

Nach ei­ner nicht zu en­den schei­nen­den Fahrt auf der Roll­trep­pe, vor­bei an ägyp­ti­schen Statu­en und Ver­zie­run­gen, er­reich­ten sie The Geor­gi­an in der vier­ten Eta­ge. »Miss McAl­lis­ter!« Ein gro­ßer schlan­ker Mann um die 50 kam ent­zückt auf sie zu. »Ich bin höchst er­freut Sie zu se­hen. Bit­te fol­gen Sie mir, mei­ne Damen. Möch­ten Sie wie ge­wohnt Tee­zeit ma­chen?«

Ti­ta­nia flüs­ter­te zu He­len: »Ich bin ein­deu­tig zu oft hier.« Dann sag­te sie hör­bar lau­ter: »Ja bit­te Den­nis, alles wie immer.« Den­nis führ­te sie zu ei­nem Tisch, der recht mit­tig im Res­tau­rant stand. Wie ge­wöhn­lich eil­ten weite­re Kell­ner her­bei, um ih­nen so­fort die Män­tel ab­zu­neh­men und um ih­nen an­schlie­ßend den Stuhl her­an­zu­rü­cken. Für ei­ne Tee­zeit war das Har­rods ei­ne der er­sten Adres­sen in Lon­don. Alles war sehr edel und ge­schmack­voll ein­ge­rich­tet. In das lu­xu­riö­se Eta­blis­se­ment ka­men immer wie­der Tou­ris­ten, die für die­ses Er­leb­nis ihr Spar­schwein plün­der­ten. He­len leg­te sich ge­ra­de die wei­ße Stoff­ser­viet­te auf ih­ren Schoß, als schon zwei Kell­ner je­weils ei­ne Kan­ne mit schwar­zem Tee brach­ten. So­bald den Frau­en die Tas­sen ein­ge­gos­sen wur­den, kam Den­nis mit ei­ner Eta­ge­re vol­ler Le­cker­ei­en. Auf der un­ter­sten Eta­ge be­fan­den sich Sand­wi­ches mit Lachs, Ro­ast­beef, Ge­flü­gel­salat und Frisch­kä­se. Na­tür­lich hat­ten die­se Schnitt­chen kei­nen Rand mehr am Brot. Wo kä­me man denn hin, wenn die Up­perc­lass Brot mit Rand es­sen müss­te? Ne­ben den Schnitt­chen lagen noch zwei klei­ne Pas­te­ten, ge­füllt mit Kä­se. In der mitt­le­ren Eta­ge stan­den drei klei­ne Scha­len. Ei­ne mit Clot­ted Cre­am, ei­ne mit Erd­be­er­mar­me­la­de und ei­ne mit Le­mon Curd. Auf der drit­ten und ober­sten Eta­ge lagen fünf Meis­ter­wer­ke der Pa­tis­se­rie-Kunst. He­len und Ti­ta­nia mach­ten sich so­fort über die Sand­wi­ches her. Das waren fast zehn Mi­nu­ten ein­träch­ti­ger Ru­he am Tisch, bei­de waren mit dem Ge­nie­ßen be­schäf­tigt. So­bald auch He­len das letz­te Krü­mel­chen ih­rer Pas­te­te au­faß, räum­te Den­nis die be­nutz­ten Tel­ler ab. Wäh­rend­des­sen goss ei­ne jun­ge Frau ih­nen ei­ne weite­re Tas­se Tee ein. Es war na­he­zu ei­ne Tod­sün­de sich den Tee selbst ein­zu­gie­ßen. Die An­ge­stell­ten in dem Res­tau­rant waren ver­mut­lich da­rauf ge­schult zu re­gis­trie­ren, wann ein Gast dur­stig war und ei­ne weite­re Tas­se Tee be­nö­tig­te. Den­nis brach­te zwei neue Tel­ler und die noch war­men Sco­nes. Zwei Stück, ge­spickt mit Ro­si­nen, lagen ne­ben zwei ro­si­nen­freie Sco­nes. Ti­ta­nia nahm sich von je­der Sor­te ei­nen und schnitt sie auf. He­len tat es eben­so. Ge­ra­de, als He­len die ein­zel­nen Hälf­ten mit Clot­ted Cre­am sorg­fäl­tig be­strich, er­öff­ne­te die El­fe das Ge­spräch: »Al­so Lie­bes, wir ha­ben noch ei­nen wei­ten Weg vor uns«, sag­te sie ernst. »Wir müs­sen über­le­gen, wie wir jetzt vor­ge­hen. Wo soll ich denn nur an­fan­gen?« Sie trom­mel­te mit den Fin­gern auf dem Tisch he­rum.

»Ich weiß es nicht«, sag­te He­len, »Sag mir doch ein­fach, was es denn noch für Le­be­we­sen gibt außer El­fen, Zwer­ge, Sand­men­schen und Orks.«

»Da­rüber gibt es prin­zi­pi­ell kei­ne Über­sicht, viele sind nicht mal auf An­hieb zu er­ken­nen. Aber es gibt noch viele Feen, Vam­pi­re, Ge­stalt­wand­ler,.. «

»Feen?«, un­ter­brach sie He­len, wäh­rend sie sich den letz­ten Bis­sen ei­nes hal­ben Sco­nes in den Mund steck­te. »Er­fül­len sie Wün­sche? Und ha­ben sie so klei­ne Flü­gel­chen?«

Na­he­zu ge­walt­tä­tig steck­te Ti­ta­nia ih­ren Löf­fel in das Triff­le, dass Den­nis bei­den Frau­en ge­ra­de in Glä­sern brach­te. »Da­für könn­te ich Dis­ney ver­kla­gen. Feen sind NICHT klein, be­sit­zen kei­ne Flü­gel und er­fül­len schon gar kei­ne Wün­sche. Feen sind schö­ne Le­be­we­sen. Sie se­hen un­wi­ders­teh­lich aus. Viele Frau­en fal­len auf männ­li­che Feen rein. Ein schö­ner Körper, ma­chen dir die schöns­ten Kom­pli­men­te …. mei­ne Gü­te, ich ler­ne das auch nie. Das sind un­glau­blich hei­ße Näch­te.« Die Spit­zen ih­rer Oh­ren ver­färb­ten sich wie­der ein biss­chen rot.

»Du weichst ab, Ti­ta­nia.«, er­mahn­te He­len sie.

»Oh ja, sor­ry. Je­den­falls, kam dir bei Geor­ge oder Brad noch nie et­was ko­misch vor?«

»Das er­klärt aller­dings so ei­ni­ges. Er­zähl´ mir mehr.«

»Feen­we­sen sind beg­na­de­te Sän­ger. Viele von ih­nen ha­ben ei­ne so ein­dring­li­che und wun­der­schö­ne Stim­me, dass sie im Musik­ge­schäft ganz oben mit­mi­schen.«

»Nen­ne mir je­man­den«, bat He­len sie.

»Na­ja, zwei der fünf Spi­ce Girls sind Feen. Und dann hät­ten wir da noch Amy und Whit­ney.«

»Aber die letz­ten bei­den sind lei­der schon tot«, be­merk­te He­len.

»Lei­der. Und da wä­ren wir schon bei der Schwäche von Feen. Sie sind so un­end­lich ta­len­tiert. Aber sie sind auch außer­or­dent­lich an­fäl­lig für Süch­te jeg­li­cher Art. Ei­ni­ge kön­nen nicht mehr oh­ne den Ruhm le­ben, an­de­re sind süch­tig nach Lie­be oder ver­fal­len viel schlim­me­ren Süch­ten: Dro­gen, Al­ko­hol, Glücks­spiel. Amy ist der be­ste Be­weis da­für, dass dir ein gott­ge­ge­be­nes Ta­lent auch Prü­fun­gen im Le­ben be­schert. Manch­mal ist es schlimm zu se­hen, wie sich ei­ne Fee zu Boden rich­tet, auch, wenn Amy nur zur Hälf­te Fee war. Aber das be­trifft bei Wei­tem nicht alle. Ei­ni­ge sind auch ex­trem dis­zi­pli­niert oder ha­ben ver­dammt gu­te Thera­peu­ten.«

He­len schob sich ein win­zi­ges Scho­ko­la­den­kuchen­stück­chen, gar­niert mit ei­ner gol­de­nen Ha­sel­nuss, in den Mund. »Al­so wel­che zwei Spi­ce …«

»HEEEE­LEN!« Ei­ne ho­he, schril­le Stim­me kreisch­te scham­los in He­lens Ohr. Sie ver­schluck­te sich fast am letz­ten Bis­sen. Ei­ne leicht über­ge­wich­ti­ge Frau in ih­rem Al­ter zog sich ei­nen Stuhl he­ran und setz­te sich ge­nau zwi­schen sie und Ti­ta­nia. »Nein, was ist das schön dich hier zu se­hen. Ich bin ja öf­ter hier in Har­rods, aber dich ha­be ich ja Ewig­kei­ten nicht ge­se­hen. Schon gar nicht in ei­nem Luxus­kauf­haus.« Die Frau be­ton­te je­de ein­zel­ne Sil­be des Wor­tes Luxus­kauf­haus, als wür­de man Sil­benk­lat­schen spie­len mit klei­nen Kin­dern.

»Su­zie Pe­ters, welch un­bän­di­ge Freu­de«, log He­len sie un­ver­hoh­len an, oh­ne sich da­bei auch nur zu be­mü­hen, ih­re Ge­nerv­theit zu ver­ber­gen. Su­zie hielt ihr Näs­chen et­was nach oben und schüt­tel­te ihr schwarz ge­färb­tes Haar, als reg­ne­te es je­den Augen­blick Dia­man­ten da­raus. Ti­ta­nia ig­no­rier­te sie ge­konnt. »Ach stimmt ja. Da war ja die­se Sa­che mir Jos­hua. Ich las es in der Zei­tung. Das tut mir leid. Muss schlimm für dich ge­we­sen sein.« Sie zupf­te an ih­rem gold­far­be­nen Ober­teil, dass es nicht schaff­te, die Spe­ckröll­chen gänz­lich zu ka­schie­ren.

»Ja, das ist schlimm. Dan­ke für dein Bei­leid.« In He­lens Stim­me lag ein fros­ti­ger Ton.

»Wenn ich be­den­ke, dass mei­nen Mäd­chen et­was pas­sie­ren könn­te, nicht aus­zu­den­ken! Aber sie ma­chen auch so viele Din­ge, wo et­was pas­sie­ren kann. Rei­ten, Cri­cket, Schwim­men, Po­lo… mei­ne Gü­te, selbst ih­re Bal­lett­stun­den sind ver­mut­lich nicht oh­ne Ge­fah­ren. Habt ihr ge­le­sen, was neu­er­dings alles in Lon­don los ist? Es ver­schwin­den ja so viele Men­schen. Und vor­ge­stern der Ein­bruch in die Na­tio­nal­ga­le­rie. Schlimm schlimm schlimm.« Su­zie mach­te ei­ne dra­ma­ti­sche Pau­se, of­fen­sicht­lich in der Hoff­nung, je­mand könn­te sich be­ein­druckt zei­gen. Sie sah, wie He­len die Ar­me ver­schränk­te, und plap­per­te weiter: »Und dann das viele Rei­sen. Wir kom­men ja ge­ra­de aus Du­bai wie­der. Das soll­test du auch mal se­hen.«

»Oh ja, der viele hei­ße Wüs­ten­sand muss toll sein«, mur­mel­te Ti­ta­nia in ih­re Tee­tas­se.

»Ab­so­lut!« Su­zie fass­te die­se Iro­nie als Kom­pli­ment auf. »Ich bin ja auch so dank­bar für Ha­rald. Das aus­ge­rech­net ein Mann wie er mich zur Frau nahm. Da muss man ein­fach froh sein. Und man wird ja auch nicht jün­ger. Wie sieht es bei dir aus? Schon ver­lobt oder zu­min­dest ver­ge­ben? Oh of­fen­bar nicht, ich se­he schließ­lich kei­nen Ring an dei­nem Fin­ger. Wie be­dau­er­lich, wirk­lich. Na du warst ja schon da­mals in der Schu­le ein we­nig, wie soll ich sa­gen, an­ders. In­tro­ver­tier­ter. Ach schau, schon so spät.« Su­zie schau­te thea­tra­lisch auf ih­re mit Dia­man­ten be­setz­te Arm­band­uhr. Es war ver­wun­der­lich, dass sie vor lau­ter Gold und Stei­nen über­haupt noch die Zeit ab­le­sen konn­te.

»So He­len, es war wirk­lich zau­ber­haft mit dir ge­quatscht zu ha­ben, wirk­lich wirk­lich wirk­lich. Aber ich muss die Mäd­chen vom Quer­flö­te­nun­ter­richt ab­ho­len. Taaaaa.« Oh­ne ei­ne Ant­wort ab­zu­war­ten, er­hob sie sich, schüt­tel­te wie ein­stu­diert ihr Haar und ver­ließ das Res­tau­rant.

»So so, du warst al­so schon immer et­was an­ders?« Ti­ta­nia grins­te He­len an.

»An­schei­nend. Sag mir, dass sie auch an­ders ist. Da­für muss es ei­ne eige­ne Ka­te­go­rie ge­ben.«

»Ich konn­te nichts se­hen. Aber man kann auch nicht alles und je­den auf dem er­sten Blick er­ken­nen. Komm´, lass uns nach Hau­se fah­ren. Wir müs­sen un­ser wei­te­res Vor­ge­hen pla­nen.«

Ti­ta­nia zahl­te mit ei­ner ih­rer un­zäh­li­gen Kredit­kar­ten und Den­nis war höchst er­freut über ein üp­pi­ges Trink­geld. Sie nah­men ein Ta­xi zurück zu He­lens Haus, un­ter­wegs hol­te Ti­ta­nia aus ih­rem ei­ge­nen Apart­ment noch die nö­tigs­ten Din­ge, um für ein paar Ta­ge bei He­len ein­zu­zie­hen. Als sie vor He­lens Haus vor­fuh­ren, war es mitt­ler­wei­le spä­ter Nach­mit­tag. Die be­gin­nen­de Dun­kel­heit sen­ke sich lang­sam he­rab. He­len lag auf der Couch und be­trach­te­te im Schein des lo­dern­den Ka­mins ih­re Tä­to­wie­rung.

»Was meinst du, was die alles kann?«, frag­te sie ih­re Freun­din, die ge­ra­de in ei­nem Mo­de­ma­ga­zin blät­ter­te.

»Weiß ich nicht, Lie­bes. Ich wuss­te bis heu­te Mit­tag nicht ein­mal, dass es so was wirk­lich gibt. Ich hielt es immer für ei­ne Le­gen­de. Merkst du ir­gend­ei­ne Kraft?«

He­len schwenk­te den Arm hin und her. »Nein, bis jetzt noch nicht.«

»Viel­leicht bist du ja jetzt un­ver­wund­bar?!« Ti­ta­nia ließ die Zeit­schrift sin­ken. »Ich könn­te ein Mes­ser ho­len und dann …«

»Wa­ge es ja nicht!« He­len ver­steck­te ref­le­xar­tig ih­ren rech­ten Arm hin­ter ih­ren Rü­cken. Ge­ra­de als die El­fe et­was sa­gen woll­te, klin­gel­te es an der Tür. He­len schwang sich von der Couch hoch und rief Ti­ta­nia zu »Ich ge­he schnell. We­he, du legst in der Zwi­schen­zeit ir­gend­wel­che Fol­ter­werk­zeu­ge pa­rat.« Sie ging den schma­len Flur ent­lang zur Ein­gangs­tür. Die­se war aus schwarz­la­ckier­tem Holz und durch das Bleig­las konn­te man nur ei­ne ver­zerr­te Ge­stalt aus­ma­chen. Es läu­te­te er­neut. »Ich kom­me ja schon«, rief He­len dem un­be­kann­ten Be­such ent­ge­gen. Sher­lock lief an ihr vor­bei und sprang die Trep­pe hin­auf in das er­ste Stock­werk. »Schis­ser«, mur­mel­te He­len ihm hin­ter­her.

An der Wand ne­ben der Haus­tür be­fand sich ei­ne Ge­gen­sprech­an­la­ge, die mit ei­nem Mo­ni­tor aus­ge­stat­tet war. So konn­te man vor der Tür, so­wie vor der Tür zum Gar­ten, immer se­hen, wer vor dem Haus­ein­gang stand. Nie­mand woll­te in die­sem Vier­tel sein Ver­mö­gen mit Die­ben tei­len. He­len drück­te auf ei­nem Knopf und sah ei­nen Poli­zis­ten und ei­nen zwei­ten Mann da­vor ste­hen. Die Drui­din er­kann­te ihn so­fort: Owen. Sie drück­te auf ei­nen wei­te­ren Knopf.

»Ja bit­te?« Wäh­rend der Uni­for­mier­te ge­nau die Ka­me­ra im Blick be­hielt, ant­wor­te Owen: »He­len, wir ha­ben Neu­ig­kei­ten zum Tod von Jos­hua. Könn­ten Sie uns bit­te rein las­sen?«

Ti­ta­nia, die mitt­ler­wei­le ne­ben ihr stand, rüm­pfte ih­re Na­se. »Der Typ in der Uni­form sieht selt­sam aus. Fin­dest du nicht, dass er et­was ner­vös wirkt?« Bei­de konn­ten be­ob­ach­ten, wie er an sei­ne Hand an den Schlags­tock am Gür­tel leg­te. He­len drück­te er­neut den Knopf und bei­de hör­ten noch, wie der ver­meint­li­che Po­li­zist zu Owen sag­te: »…zwei ge­gen ei­ne. Wir ma­chen es wie be­spro­chen.«

Die bei­den Frau­en tausch­ten viel­sa­gen­de Bli­cke aus. »Wir ha­ben kei­ne Zeit für ei­nen Plan, Dar­ling. Halt du sie hin, ich las­se mir was ein­fal­len.« Ti­ta­nia schlüpf­te aus ih­ren High Heels und schlich laut­los in die Kü­che. Wäh­rend Owen ein zwei­tes Mal klin­gel­te, öff­ne­te He­len ihm die Tür. Er sah sie grim­mig an. »Das ist Cons­ta­ble Ricks«, Owen deu­te­te mit dem Kopf auf den Ty­pen ne­ben ihm. Der war schät­zungs­wei­se 1,90 m groß und kräf­tig. Sei­ne schmal­zi­gen schwar­zen Haa­re lagen an­ge­klebt am Kopf. Er bleck­te sei­ne schnee­wei­ßen Zäh­ne und grins­te He­len an. Ihr fiel auf, dass sei­ne Haut ei­ne merk­wür­di­ge Far­be hat­te, ge­ra­de so, als hät­te er Ma­ke-up be­nutzt. Bei­de Män­ner setz­ten sich in Be­we­gung und gin­gen un­auf­ge­for­dert in das Haus. He­len schloss die Tür und folg­te bei­den in die Kü­che. Owen kann­te sich durch die Er­mitt­lun­gen gut aus.

»Wo ist sie?«, blaff­te Ricks sie an. Un­ter sei­nen Ach­seln bil­de­ten sich deut­li­che Schweiß­fle­cke.

»Wo ist wer?« He­len dach­te, sie wür­den auf Ti­ta­nia an­spie­len.

»Quatsch nicht so viel. Wir wol­len die Kugel. Gib sie uns und es wird schnell ge­hen für dich.« Der Fleisch­berg vor ihr nies­te un­ap­pe­tit­lich in sei­ne Arm­höh­le.

»Owen, was ist hier los?« In ih­rer Stim­me schwang Pa­nik mit.

»Wir sind hier um die Kugel zu ho­len. Das ist Cons­ta­ble Ricks. Ge­ben Sie sie uns.«

»Ver­schwin­den Sie aus mei­nem Haus, alle bei­de!« He­len konn­te ih­re Angst nicht län­ger un­ter­drü­cken.

»Wir sind hier, um die Kugel zu ho­len. Das ist Cons­ta­ble Ricks. Ge­ben …« Owen fass­te sich an den Kopf, als quäl­ten ihn hef­ti­ge Kopf­schmer­zen.

Ricks zog sei­nen Schlags­tock. »Die Kugel, so­fort!«

»Ich den­ke nicht.« He­len griff nach hin­ten auf die Ar­beits­flä­che ih­rer Kü­che und ver­such­te, ir­gend­et­was zu grei­fen zu be­kom­men. Ricks stürz­te in ei­nem Satz auf sie zu. Sie be­kam noch recht­zei­tig et­was zu grei­fen und zog ihm im letz­ten Augen­blick ei­nen Fleisch­ham­mer über den bul­li­gen Schä­del. Er tau­mel­te und griff sich an den Kopf. Blut tropf­te aus ei­ner Wun­de an der Schlä­fe. Jetzt wur­de He­len auch alles klar. Der Po­li­zist wisch­te sich das Blut aus sei­nem Ge­sicht und da­mit auch die Far­be ab. Zum Vor­schein kam ein dun­kel­grü­nes Ge­sicht. »Sie sind ein Ork! Owen, jetzt tun Sie doch was!«

»King, tö­ten Sie die Frau. Sie ist die Mör­de­rin.« Owen rich­te­te sich auf und He­len sah noch nie da ge­we­se­ne Wut in sei­nen Augen.

»Nein, Owen, bit­te …«, war das Letz­te, was He­len her­vor­brin­gen konn­te, ehe er sei­ne Hän­de fest um ih­ren Hals leg­te.

»Sie ste­cken da­hin­ter?!« Spei­chel­fä­den ka­men aus sei­nem Mund ge­schos­sen, der Hass stand ihm in die Augen ge­schrie­ben. He­len wur­de schwin­de­lig, pa­nisch schlug sie mit den Fäus­ten ge­gen ih­ren An­grei­fer. Sie sah aus dem Augen­win­kel, dass der Ork zu ei­nem Beil griff, das in ei­nem Mess­er­block auf der Kü­chen­in­sel steck­te. Kurz be­vor sie das Be­wusst­sein zu ver­lie­ren droh­te, sprang von hin­ten ei­ne klei­ne Per­son auf den Ork. Ti­ta­nia hielt ei­nen Gür­tel in ih­ren Hän­den und schlang die­sen um den Hals des An­grei­fers. Die Knie drück­te sie fest in Ricks seit­li­che Fleisch­ber­ge und so sah es aus, als wür­de sie ei­ne Art Ork-Ro­deo ma­chen. In die­sem Mo­ment war Owen ab­ge­lenkt und schau­te zu den bei­den rü­ber. Sein Griff lo­cker­te sich kurz­zei­tig und durch He­lens Haupt­schlag­ader floss ein paar Se­kun­den wie­der Blut. Ener­gisch pack­te sie Owens lin­ken Arm mit ih­rer rech­ten Hand. Un­er­war­tet schrie er auf und ließ ih­ren Hals los. Ihr Tat­too be­gann zag­haft an ih­rem Hand­ge­lenk auf­zu­leuch­ten. In­stink­tiv ließ sie Owens Arm nicht los, son­dern drück­te nur noch fes­ter zu. Sein Ge­sicht ver­färb­te sich vor Schmerz dun­kel­rot, als er in die Knie vor ihr ging, die Hand zur Faust ge­ballt. Sie konn­te se­hen, wie ihm Trä­nen aus den Augen­win­keln flos­sen, wäh­rend er die Zäh­ne zu­sam­men biss, um die Schmer­zen zu er­tra­gen. He­len spür­te ei­ne un­glau­bli­che Hit­ze, die sich in ih­rer Hand­flä­che aus­brei­te­te, als Owen in die­sem Mo­ment ei­nen lau­ten Schmer­zens­schrei aus­stieß. Sie ließ ihn los und sah, dass sei­ne Haut un­ter ih­rem Griff ver­brannt aus­sah. Immer noch auf den Knien lie­gend sah er sie mit fle­hen­den Blick an. »Jen­ni­fer, bit­te tue es nicht. Ich bit­te dich. Denk doch an die Kin­der.« Der Schmerz in sei­nen Augen er­schrak He­len. Ein dump­fes Ge­räusch lenk­te ih­re Auf­merk­sam­keit auf Ti­ta­nia, die ge­ra­de auf dem ohn­mäch­ti­gen Ork zu Boden fiel und un­sanft seit­lich un­ter ihm lan­de­te. Da­ne­ben stand ei­ne Per­son mit ei­ner Brat­pfan­ne in der Hand. Die­se kam jetzt auch zu He­len rü­ber. KLONG, nun ging auch Owen be­wusst­los zu Boden. »Brat­pfan­nen, man darf sie ein­fach nicht un­ter­schät­zen! Geht es dir gut, Kind?«

»Gran­ny!?« Vor He­len stand ei­ne 72 Jäh­ri­ge Da­me, ge­klei­det in ei­ner beigen Stoff­ho­se und ro­sa­far­be­nem Twin­set, mit kur­zen lo­cki­gen wei­ßen Haaren. In der Hand hielt die­se re­so­lu­te und klei­ne Per­son ei­ne Pfan­ne.

»Ja, dach­test du denn, ich las­se dich hier allein?« Ih­re Oma schau­te sie fra­gend an.

»Aber du lebst in ei­nem Al­ten­heim und sitzt im Roll­stuhl!« Man konn­te fast ei­nen vor­wurfs­vol­len Ton in der Stimm­la­ge ih­rer En­ke­lin fests­tel­len.

»Alles nur Tar­nung«, er­wi­der­te ih­re Groß­mutter.

»Hal­lo? Denkt auch je­mand an mich?« Ti­ta­nia jam­mer­te sich wie­der in das Be­wusst­sein der bei­den an­we­sen­den Frau­en. He­len und ih­re Oma zo­gen mit ver­ein­ten Kräf­ten den noch be­wusst­lo­sen Ork von Ti­ta­nia. Ihr lin­ker Fuß­knö­chel war fast auf das Dop­pel­te an­ge­schwol­len.

»Sieht arg ver­staucht aus«, be­merk­te He­len.

»Dann mach ihn doch heil«, er­hielt sie von ih­rer Oma zur Ant­wort. »Okay, ich ho­le den Ver­bands­kas­ten.« He­len rich­te­te sich vom Kü­chen­boden wie­der auf, nur da­mit ih­re Oma sie gleich wie­der am Är­mel nach un­ten zog.

»Nein nein nein, leg dei­ne rech­te Hand da­rauf und kon­zen­trie­re dich. Lass dei­ne Ener­gie hin­ein flie­ßen.«

»Hä?«, frag­te He­len.

»Du bist nicht die er­ste Drui­din in der Fa­mi­lie. Dein Groß­vater war ei­ner und ich bin eben­falls Se­hen­de. Al­so ver­traue mir.«

»Das klä­ren wir gleich noch.« Zö­ger­lich leg­te He­len ih­re Hand auf Ti­ta­ni­as Knö­chel.

»We­he, ich ha­be da­nach ei­nen Huf«, press­te die El­fe durch die Zäh­ne. Alle drei Frau­en starr­ten auf den Fuß­knö­chel. Nichts pas­sier­te. He­len schloss die Augen und bün­del­te ih­re Ge­dan­ken so stark wie sie konn­te auf Ti­ta­nia. Sie dach­te an die vielen lus­ti­gen Mo­men­te, die sie mit ih­rer Freun­din hat­te und emp­fand gro­ße Dank­bar­keit, dass sie immer be­din­gungs­los auf ih­rer Sei­te stand. Sie fühl­te ei­ne an­ge­neh­me Wär­me aus der Mit­te ih­res Körpers ent­sprin­gen, die durch ih­ren rech­ten Ar­men weiter floss. Durch ih­re Hand spür­te sie nicht nur die Wär­me flie­ßen, son­dern auch ein Krib­beln. Lang­sam öff­ne­te sie vor­sich­tig die Augen. Ihr Mis­tel­zweig am Hand­ge­lenk leuch­te­te wie­der auf, um­ran­det von ei­nem blau­en Licht. Un­ter ih­rer Hand konn­te sie gleich­er­ma­ßen das Licht er­ken­nen. Als es auf­hör­te, nahm sie ih­re Hand von Ti­ta­ni­as Knö­chel.

»Er sieht wie­der völ­lig nor­mal aus«, stell­te He­len zu ih­rer ei­ge­nen Ver­wun­de­rung fest.

»Na­tür­lich Lie­bling. Da­für bist du ja Drui­din. Ich glau­be, wir müs­sen re­den.«

»Gu­te Idee. Aber könn­ten wir da­bei bit­te was es­sen?« Das Knur­ren ih­res Ma­gens war laut zu hö­ren. »Und was ma­chen wir eigent­lich mit den bei­den?« Sie schau­te be­sorgt auf die am Boden lie­gen­den Män­ner. He­lens Groß­mutter nahm ih­re Hand­ta­sche, die sie wäh­rend des ge­sam­ten An­griffs über in der Arm­beu­ge trug, und kram­te da­rin. Un­ter lei­sem Ge­mur­mel und be­glei­tet von ei­nem lang ge­zo­ge­nen »Ahhh« zog sie zwei paar Hand­schel­len her­aus. Die­se sa­hen aber im Ver­gleich zu nor­ma­len Hand­schel­len der Poli­zei an­ders aus. Ih­re Far­be glich dem ei­nes Ru­bins und sie waren sehr viel di­cker.

»Aus was sind die ge­fer­tigt?«, frag­te He­len neu­gie­rig.

»Die sind aus Fu­rien-Kral­len und Drui­dens­tein her­ge­stellt.« Da das Ge­sicht ih­rer En­ke­lin Bän­de sprach, er­klär­te sie es ihr. »Fu­rien sind We­sen mit aus­ge­spro­che­nem Ge­rech­tig­keits­sinn und ei­ner ex­trem ho­hen Mo­ral. Weiter­hin be­sit­zen ih­re Kral­len die Eigen­schaft, dass sie, egal was sie hal­ten, ih­ren Geg­ner wehr­los ma­chen. Der Drui­dens­tein ent­steht, wenn das Blut ei­nes Drui­den auf ei­nen Dia­man­ten fällt. Die­se Stei­ne sind so rein, dass sie das Blut so­fort auf­sau­gen. Sie ver­stär­ken die Kraft der Fu­rien-Kral­len um ein Viel­fa­ches.«

Als der Ork ein lei­ses Stöh­nen von sich gab, zog Ti­ta­nia ihm die Pfan­ne, die immer noch ne­ben den drei Frau­en lag, er­neut über den Schä­del. Alle drei be­eil­ten sich, den bei­den Män­nern die Hand­schel­len an­zu­le­gen. Vor­sichts­hal­ber ban­den He­len und Ti­ta­nia ih­nen noch die Bei­ne mit Gür­teln zu­sam­men und stopf­ten ih­nen je­weils ein Paar So­cken in den Mund. Als es an der Tür klin­gel­te, wech­sel­ten die jun­gen Frau­en ner­vö­se Bli­cke. He­lens Groß­mutter ging seelen­ru­hig zur Tür und kam zwei Mi­nu­ten spä­ter mit zwei gro­ßen Piz­za­schach­teln zurück, ge­folgt von zwei Frau­en. Bei­de wirk­ten min­des­tens ei­nen Kopf grö­ßer als He­len und schau­ten ernst drein. Ihr Er­schei­nungs­bild glich des ei­nes Men­schen, aber statt ge­wöhn­li­cher Hän­de, wirk­ten ih­re groß und be­schuppt. Aus ih­ren kräf­ti­gen lan­gen Fin­gern konn­te He­len gräu­li­che Kral­len er­ken­nen, die spitz am En­de mit lan­gen Nä­geln zu­lie­fen.

»Dach­test du, ich las­se mei­ne En­ke­lin ver­hun­gern?«, frag­te sie und ging zum Ess­tisch am Fens­ter. »Ach ja, das sind die Damen Oli­via und Amy, ih­res Zeichens Fu­rien. Sie ge­lei­ten un­se­re Gäs­te zu ei­ner pas­sen­de­ren Un­ter­brin­gung.« Die bei­den Fu­rien nick­ten nur knapp in Ti­ta­ni­as und He­lens Rich­tung. Stumm griff sich je­weils ei­ne der Fu­rien ei­nen der be­wusst­lo­sen An­grei­fer am Kra­gen und schul­ter­te ihn mü­he­los. Mit je­weils ei­nem Mann über der Schul­ter, ver­lie­ßen Amy und Oli­via das Haus und leg­ten ih­re Bün­del auf den Boden ei­nes wei­ßen Trans­port­ers. He­len folg­te tief be­ein­druckt ih­rer Groß­mutter an den Tisch. Noch nie hat­te sie so ei­nen star­ken Hun­ger. Wie ein aus­ge­hun­ger­ter Ti­ger stürz­te sich die Drui­din auf die Piz­za.

»Ich kann mich nicht er­in­nern, je­mals so hung­rig ge­we­sen zu sein«, stieß sie mit vol­len Mund her­vor.

»Das kommt vom Ener­gie­ver­brauch. Dei­ne Kräf­te ver­brau­chen enorm viel da­von. Du soll­test ab so­fort immer et­was Ess­ba­res in der Ta­sche ha­ben. Des­halb bat ich auch die Damen, auf ih­rer Fahrt hier­her et­was mit­zu­brin­gen.«

Die al­te Da­me schau­te Ti­ta­nia über den Tisch hin­weg. »Ich be­fürch­te, wir wur­den ein­an­der noch nicht vor­ge­stellt. Ich bin Eve­lyn Ster­ling, He­lens Groß­mutter väter­li­cher­seits.«

»Ti­ta­nia. Ti­ta­nia McAl­lis­ter. Ich bin hoch­er­freut Sie ken­nen­zu­ler­nen.« Ti­ta­nia lä­chel­te Eve­lyn breit an.

»McAl­lis­ter? Ist Ih­re Mutter nicht Schau­spie­le­rin? Ich sah sie neu­lich in ei­ner In­sze­nie­rung von Die lus­ti­gen Weiber von Wind­sor, den­ke ich.«

»Ja ja ja!« Ti­ta­ni­as Augen leuch­ten. »Das war ei­ne groß­ar­ti­ge Vor­stel­lung, nicht wahr?«

He­len stopf­te sich ein wei­te­res Stück Piz­za in den Mund. »Gran­ny, das musst du mir er­klä­ren. Bei mei­nem letz­ten Be­such hast du in ei­nem Roll­stuhl ge­ses­sen. Was in aller Welt ist pas­siert?«

Und ih­re Groß­mutter er­klär­te ih­nen alles. Sie be­gann bei ih­rem ver­stor­be­nen Ehe­mann Wal­ter, der auch ein Drui­de war, seit sie bei­de bei ei­nem Spa­zier­gang im Park die­se Kugel fan­den. Und von Jo­nat­han, der Bru­der ih­res Man­nes, der eben­falls bei ih­nen war. Wal­ter konn­te die Kugel öff­nen und sie hör­ten die Me­lo­die. Da es spät am Abend war, schie­nen sie die ein­zi­gen Spa­zier­gän­ger in Sicht­wei­te zu sein. So konn­ten sie auch erst beim Ver­las­sen des Parks se­hen, was die Kon­se­quenz des gan­zen war: Über­all neue Le­be­we­sen und ei­ne Tä­to­wie­rung an Wal­ters Hand­ge­lenk. Sie er­zähl­te auch, dass Jo­nat­han die­se an­de­re Welt schlech­ter ak­zep­tie­ren konn­te. »Selbst­los lös­te mein Wal­ter die Pro­ble­me aller Le­be­we­sen. Sein stets freund­li­ches Ge­müt wirk­te immer ver­trau­ens­er­we­ckend. Er wur­de re­spek­tiert und ge­braucht, von vielen so­gar ge­liebt. Jo­nat­han hin­ge­gen sah immer nur sei­nen Vor­teil in allen Din­gen. Schnell be­merk­te er, dass viele Din­ge Kräf­te hat­ten, die sie wert­voll wer­den ließ. Er fing an da­mit zu han­deln. Dein On­kel zog auf’s Land und die Brü­der ent­fern­ten sich immer weiter vo­nei­nan­der.« Eve­lyns Blick wirk­te trau­rig und mü­de. Sie er­zähl­te, wie sehr sie sich über Da­vid, ih­ren Sohn, freu­ten. Sie be­schlos­sen bei sei­ner Ge­burt, ihm nie von die­ser an­de­ren Welt zu er­zäh­len, so lan­ge er noch ein Kind war. Wie rasch die Jah­re ins Land zo­gen, wäh­rend Wal­ter die bei­den Wel­ten im Gleich­ge­wicht hielt und Da­vid weit ent­fernt auf ein In­ter­nat ging. Zu sehr fürch­te­ten die Eltern, dass ihm et­was zu­stoßen könn­ten. Bis er dann mit He­lens Mutter als Ver­lob­te zurück­kam. »Wir fan­den nie den rech­ten Augen­blick, um ihn se­hend zu ma­chen. Aber dei­ne Mutter war be­reits mit Jos­hua schwan­ger und wir brach­ten es ein­fach nicht über’s Herz.«

»Aber was ist dann mit ihm pas­siert?«, platz­te es aus Ti­ta­nia her­aus.

»Jos­hua war ge­ra­de 4 Jah­re alt, an He­len dach­te zu die­sem Zeit­punkt noch nie­mand. Er war bei uns zu Be­such über ein Wo­che­nen­de. Frag mich nicht, wie er es ge­schafft hat, aber er fand im Büro dei­nes Groß­vaters die Kugel und konn­te sie auch öff­nen. Ein se­hen­der Vier­jäh­ri­ger, stellt euch das mal vor! Trotz all un­se­rer Ver­su­che re­de­te er nur noch von dem, was er sah. Er konn­te es nicht ver­ste­hen. An­fangs dach­ten dei­ne Eltern, er hät­te ei­ne leb­haf­te Fan­ta­sie. Doch es wur­de immer schlim­mer mit der Zeit und sie wuss­ten sich kei­nen Rat mehr. Als du auf der Welt warst und eu­re Mutter mit euch ein­mal spa­zie­ren ging, ver­prü­gel­te er ein an­de­res Kind und be­schim­pfte ihn als ei­nen dre­cki­gen Grü­nen. Sie fürch­te­ten, er kön­ne auch dir et­was an­tun. Ei­nes Abends er­fuh­ren wir, dass er zu ei­nem Psy­chia­ter soll­te. Dein Groß­vater und ich ent­wi­ckel­ten fol­gen­den Plan: Wir rie­fen Jo­nat­han an und ba­ten ihn um Hil­fe. Wir alle waren ver­zwei­felt. Dann ging alles viel leich­ter als ge­dacht. Wir schlu­gen ei­nen ge­wis­sen Dr. John Smith als Ner­ven­arzt für Jos­hua vor, ei­nen der an­ge­blich re­nom­mier­tes­ten Spe­zi­a­lis­ten für Kin­der­psy­chia­trie. Sie rie­fen ihn na­tür­lich an und Jo­nat­han gab sich als Arzt aus. Re­den konn­te er schon immer gut, dei­ne Eltern hat­ten ab­so­lut kei­ne Zwei­fel an sei­ner Pro­fes­sio­na­li­tät. Er stat­te­te ih­nen ei­nen Haus­be­such ab und be­stand da­rauf, dass dein Bru­der augen­bli­cklich in ei­ne Kli­nik ein­ge­wie­sen wer­de müs­se. Jo­nat­han nahm sei­nen Nef­fen mit auf das Land und zog ihn groß. Dei­ne Eltern er­hiel­ten re­gel­mä­ßig An­ru­fe von Dr. Smith, in de­nen er ih­nen mit­teil­te, dass sich der geis­ti­ge Ge­sund­heits­zu­stand von Jos­hua noch nicht ge­bes­sert hät­te. Dass er höchst ag­gres­siv wä­re und ihr Be­such ihn nur auf­re­gen wür­de. Das war ei­ne so schwe­re Zeit für sie. Für uns alle. Und du warst ja noch so klein.« Eve­lyn schnäuz­te in ihr Taschen­tuch. »Aber,« sie hol­te tief Luft und fuhr fort, »dein Groß­vater und ich be­such­ten ihn häu­fig. Jo­nat­han küm­mer­te sich her­vor­ra­gend um ihn. Er un­ter­rich­te­te ihn pri­vat und lehr­te ihn, mit der Ga­be um­zu­ge­hen. Erst als Jo­nat­han vor drei Jah­ren starb, zog dein Bru­der in die Stadt.«

»Wir starb er?«, frag­ten He­len und Ti­ta­nia im Chor.

»Das war schlimm. Sein Land­haus ge­riet in Brand, ver­mut­lich durch ei­ne Ker­ze. Wir woll­ten ihn be­su­chen und stie­gen ge­ra­de aus dem Auto, als wir die Hil­fe­schreie dei­nes Bru­ders hör­ten. Dein Groß­vater hat noch ver­sucht, Jo­nat­han zu ret­ten, nach­dem er Jos­hua aus den Flam­men hol­te, aber das Feu­er nahm bei­de mit in den Tod.« Eve­lyn wisch­te mit dem Hand­rü­cken ei­ne Trä­ne aus ih­rem Ge­sicht. »Jos­hua erb­te na­tür­lich laut Tes­ta­ment alles, ein­schließ­lich die­ses Hau­ses hier. Der Han­del mei­nes Schwa­gers muss sich wohl ge­lohnt ha­ben.« Sie rüm­pfte kaum merk­bar die Na­se, wäh­rend sie sich in der lu­xu­riö­sen Kü­che um­schau­te.

He­len klaub­te nach­denk­lich die letz­ten Krü­mel aus dem Piz­za­kar­ton zu­sam­men. »Gran­ny«, be­gann sie, »wo­her wuss­test du denn, dass ich jetzt Drui­din bin?« Eve­lyns Ge­sicht hell­te sich merk­lich auf, dank­bar für den Themen­wech­sel. »Die Rain­bow­hill Se­nio­ren­re­si­denz ist nur für Se­hen­de, in­klu­si­ve aller Lebens­for­men – El­fen, Orks, Vam­pi­re. Das vol­le Pro­gramm. Dass wir se­ni­le Grei­se sind, spie­len wir den Be­su­chern nur vor. Du dach­test auch immer, ich sit­ze im Roll­stuhl. Weißt du eigent­lich, wie an­stren­gend das ist? Den gan­zen Tag rum zu sit­zen und auf ge­brech­lich zu ma­chen?« Ih­re Enkel­tochter prus­te­te das Was­ser, was sie ge­ra­de trank, quer über den Tisch und starr­te sie mit gro­ßen Augen an. »Kind­chen, wir ha­ben ei­ne Tar­nung auf­recht zu er­hal­ten. Schau mich bit­te nicht so vor­wurfs­voll an. Ein neu­er Drui­de war das Ge­spräch in der Re­si­denz. Wenn ich mich recht er­in­ne­re, wuss­te Ma­ckie da­von zu­erst. Er hör­te es von Ken­ny, der wie­der­um ei­ne Cou­si­ne namens Co­ra hat. Die ist ei­ne Ge­stalt­wand­le­rin und hör­te es von den Sit­ti­chen im Hy­de Park.«

»Die Hals­band­sit­ti­che im Hy­de Park«, er­gänz­te Ti­ta­nia, »sind Be­gleit­tie­re der Se­hen­den. Das konn­test du ja noch nicht wis­sen, weil dich dein Sit­tich noch nicht ge­fun­den hat. Mein Sit­tich heißt üb­ri­gens Ma­ri­lyn. Sie singt fan­tas­tisch.«

»Mei­ner heißt Co­lum­bus«, warf Eve­lyn ein. »Ich ha­be ihn bes­ser nicht mit­ge­nom­men, er ist auch nicht mehr der Jüngs­te. Je­den­falls er­zähl­te mir Ma­ckie, dass er ge­hör­te ha­be von be­sag­ten Quel­len, dass ein neu­er Drui­de in der Stadt sei. Nur Jos­hua hat­te die­se Kugel. Ich hat­te Angst um dich, des­we­gen bin ich gleich her­ge­kom­men. Und wie man sieht, konn­te der Zeit­punkt nicht bes­ser sein. Ich ha­be dir im Üb­ri­gen et­was mit­ge­bracht, was dei­nem Groß­vater ge­hör­te.« Sie wühl­te in ih­rer Hand­ta­sche auf dem Schoß. Na­sen­spray, Blut­druck­pil­len, Taschen­tü­cher, ein Spiegel, das Por­te­mon­naie, und end­lich fand sie, was sie ge­sucht hat­te: Ein gol­de­nes Me­dail­lon.

Vor­sich­tig nahm He­len es in ih­re Hän­de. Es war ein ova­les Schmuck­stück aus mat­tem Gold. Auf der vor­de­ren Sei­te waren zwei Blät­ter ei­nes Mis­tel­zwei­ges ein­gra­viert und drei Mis­tel­früch­te. Mit dem Dau­men fuhr sie die Li­ni­en der Gra­vur nach. Als sie es öff­ne­te, konn­te sie ei­ne gläs­er­ne Ober­flä­che auf bei­den Sei­ten er­ken­nen. Zu­erst dach­te sie, es wä­re ei­ne Art Taschen­spiegel. Dann sah sie aber et­was da­rin, das aus­sah wie Ne­bel.

»Was siehst du?«, frag­te Eve­lyn. Oh­ne den Blick vom Me­dail­lon zu wen­den, ant­wort­ete ih­re En­ke­lin: »Ich weiß nicht. Es wirkt ver­schwom­men.« Je län­ger sie da­rauf starr­te, um­so deut­li­cher konn­te sie es se­hen. »Ich se­he ein Büro. Und viele Bü­cher in ei­nem Regal. An der Wand hängt ein Bild­nis von Sig­mund Freud. Auf dem Schreib­tisch steht ein Namens­schild: Dr. To­ni Strat­ford. Was hat das zu be­deu­ten Gran­ny?«

»Das ist ein be­son­de­res Schmuck­stück, es wird dir immer in sei­nem In­ne­ren zei­gen, wo du dein näch­stes Ziel fin­dest. Es ge­hört nun dir, dein Groß­vater hät­te es so ge­wollt.«

He­len klapp­te es zu und häng­te es sich um den Hals. Das kal­te Me­tall traf un­an­ge­nehm auf ih­re war­me Haut, sie zuck­te un­will­kür­lich et­was zurück mit dem Ober­körper. »Und wo fin­den wir jetzt die­sen Dr. Strat­ford?«, frag­te sie in die Run­de.

Jetzt be­tei­lig­te sich auch wie­der Ti­ta­nia am Ge­spräch. »Da du Freud ge­se­hen hast, tip­pe ich da­rauf, dass die Fu­rien die Her­ren in ein Sa­na­to­ri­um be­glei­tet ha­ben. Wa­rum sonst, soll­te das Me­dail­lon dir das sonst an­zei­gen? Und da ken­ne ich nur ei­nes in Lon­don für die­se spe­ziel­len Fäl­le: das Black­hill Sa­na­to­ri­um. Es liegt nörd­lich von Hamps­te­ad. Dort müss­te dann auch un­ser Dok­tor an­zu­tref­fen sein. Da es aber für uns alle ein lan­ger Tag war, schla­ge ich vor, dass wir es mor­gen Früh er­le­di­gen. Heu­te Abend lässt uns da eh nie­mand mehr rein, zu­min­dest nicht als Be­su­cher.«

Helen Sterling und das Geheimnis der Lady Jane Grey

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